Читать книгу Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch - Cara Schweitzer - Страница 4
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Langsam bewegen sich zwei Scheinwerferkegel durch die stockfinstere Nacht. Ein DKW mit Berliner Kennzeichen kämpft sich eine steile, holprige Straße hinauf. Auf etwa 1000 Metern endet die Fahrt. Ein Paar steigt aus dem Auto. Den Rest des Aufstieges bis zum Kraterrand gehen sie zu Fuß. In vollkommener Einsamkeit bietet sich ihnen oben am Kegel des Vulkans ein einzigartiges Naturschauspiel: glühende Lava und eine riesige Rauchfahne, »Feuer und Glutmassen ausspeiend – Glutbälle hoch in die Luft werfend – dazu immer Explosivdonnern – laute Detonationen«.1 Um Mitternacht beginnen sie mit dem Abstieg zurück zum Wagen. Im Auto versuchen sie zu schlafen. Noch vor Sonnenaufgang steigen sie erneut zum Krater hinauf. Zwischen Schwefelausdünstungen und glühender Lava hindurch klettern sie diesmal hinunter in den Kraterboden und wieder nach oben auf den Kegel bis zum Kraterschlund. »Als das Ungeheuer furchtbar laut WWWV sagte, zogen wir uns schreckensbleich zurück«, notiert Hannah Höch am 28. September 1940 selbstironisch in ihren kleinen Taschenkalender.
Kalender sind ihre treuen Begleiter. An die äußere Form stellt Hannah Höch kaum ästhetische Ansprüche. Sie benutzt handliche, unprätentiöse kleine Formate mit Werbeschriftzügen. Unter dem jeweiligen Datum trägt die Künstlerin, wie aus Anlass der Vesuvbesteigung, persönliche Notizen ein, die durchaus literarischen Charakter haben. Ein anderes Mal sind es kurze, stichpunktartige Anmerkungen: wann sie gearbeitet hat, Geburtstage von Freunden und Angehörigen und Termine oder Krankheitssymptome. Ihre Kalender dienten Hannah Höch als Tagebuch und als Erinnerungshilfe. Die Berlinische Galerie bewahrt den Nachlass der Künstlerin auf, unter anderem auch die »Originale« ihrer Kalender.2 Für diese Lebensbeschreibung waren ihre Jahrbücher eine wichtige Quelle. Mein Blick auf die Grande Dame der Berliner Dada-Bewegung konzentriert sich erstmals auf einen bisher nur sehr zurückhaltend dargestellten Lebensabschnitt der Künstlerin, auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland unter der NS-Diktatur. Ihre Forderung »Schrankenlose Freiheit« für Hannah Höch formuliert die Künstlerin erstmals als ihr »künstlerisches Credo« in einer ihrer Fotomontagen von 1919.3 Nach der Zeit des Nationalsozialismus bekräftigte sie ihr Bekenntnis noch einmal: »Ich habe immer gekämpft gegen alle Grenzen der Welt.«4 In den sechziger Jahren, als das Interesse an Dada, auch bedingt durch neue zeitgenössische künstlerische Tendenzen wie Fluxus und Pop Art, immer größer wurde, äußerte sich Hannah Höch über ihre Wahrnehmung als Dada-Künstlerin: »Ich kann das Wort Dada nicht mehr hören, aber die Leute wollen es ja derzeit nicht anders.«5 Mittlerweile hat sich der Blick auf Hannah Höch deutlich erweitert und auch ihre späteren Arbeiten werden von der Kunstgeschichte gewürdigt. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass viele von ihren herausragenden Werken mit der Dada-Bewegung und ihren Folgen in Verbindung stehen. In der Kunstgeschichte wurden bisher vor allem ihre Fotomontagen und ihre Gemälde der späten zehner und zwanziger Jahre beleuchtet.
In Ausstellungskatalogen, Aufsätzen und Büchern wurde ihre Beziehung zu Raoul Hausmann und zu Til Brugman beschrieben. Über das Leben der Künstlerin während der NS-Diktatur war bisher wenig zu erfahren. Das machte mich neugierig. Wie hat eine politisch kritische Frau wie Hannah Höch, deren Kunstwerke als »entartet« galten, unter den für sie bedrohlichen Strukturen einer Diktatur leben und überleben können?
Hannah Höchs Werk und ihre Biographie entziehen sich vereinfachenden Kategorisierungen. Die Künstlerin hat sich in ihren Arbeiten und durch ihr Leben gegen solche Deutungsversuche gesperrt. Ihre Biographie ist gezeichnet von Brüchen, bedingt durch politische und persönliche Umstände. Von Hannah Höchs Lebenssituation auf ihre Werke zu schließen scheidet schon auf Grund der Vielschichtigkeit ihrer Arbeiten aus. Dennoch bestimmt die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Biographien Hannah Höchs gesamtes Œuvre. Das Sichtbarmachen von Ambivalenzen und die Suche nach »Gleichgewicht« tauchen in vielen ihrer Collagearbeiten und in ihren Gemälden auf.6 Immer wieder involviert Hannah Höch in diese Auseinandersetzung die Betrachter. Etwa wenn in ihrer Fotomontage »Dompteuse« (1930) in der rechten unteren Ecke wissend und frivol ein »niedlicher« Seehund aus dem Bild grinst. Die Physiognomie des Seesäugetiers erfüllt mit seinen großen dunklen Kulleraugen und der weichen Schnauze zunächst alle Kriterien des Kindchenschemas, was bei Betrachtern meist große Sympathien auslöst. Doch diese Robbe hat durch die von der Künstlerin verpasste Wimpernverlängerung alle Unschuld verloren. Ihre natürlichen Schnurrhaare mutieren zu einem Männlichkeit simulierenden Schnauzer, der wiederum einen scharfen Kontrast zu der betont weiblichen Augenpartie bildet. Von dieser Robbe, die ein Detail in einer der wichtigsten Fotomontagen Hannah Höchs ist, geht eine beunruhigende Ausstrahlung aus, die Klischees in Frage stellt.
Die Beschreibung einer bisher kaum beachteten Phase im Leben der Künstlerin öffnet die Möglichkeit, ein neues Versatzstück ihrer Biographie transparenter erscheinen zu lassen. Dennoch bleibt auch meine Lebensbeschreibung ein Biographiefragment. Insbesondere die Aufarbeitung ihres Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg steht trotz der bereits existenten und umfangreichen Zusammenstellung des Quellenmaterials von Seiten der Berlinischen Galerie noch immer aus. Es wäre eine Herausforderung, auch diese Zeit eine ausführliche Würdigung erfahren zu lassen, in der zwar die internationale Anerkennung Hannah Höchs als Künstlerin stattfindet, die sich aber vor allem auf ihre Werke der Dada-Zeit bezieht.
Die humorvolle Beschreibung der Vesuverklimmung aus dem Jahr 1940 in einem kleinen rotbraunen Taschenkalender der Firma Mageco zeugt von Lebensfreude und Humor. Gleichzeitig klingt an, dass es die Künstlerin selbst nicht so recht wahrhaben wollte, auf vergleichsweise harmlose Art und Weise unter den politischen Umständen des Zweiten Weltkriegs ein solches Ferienabenteuer zu erleben. Im Vorfeld der Besteigung des Vulkans war allerdings nicht nur der Weg auf den Berg steinig gewesen.
Auch wenn der Vesuv, den Hannah Höch und Kurt Heinz Matthies im September 1940 nachts besteigen, sehr eindringlich Kriegsgeräusche produziert und mit seinen zahlreichen Ausbrüchen mehrfach furchtbare Zerstörungen angerichtet hat, werden diese in seiner von Geologen auf 20000 und bis 37000 Jahre geschätzten Geschichte die durch den Zweiten Weltkrieg und Nazideutschland verursachte Zerstörung nie annähernd erreichen.
Mit der Besteigung des »feuerspeienden Ungeheuers«, wie Hannah Höch den Berg taufte, reihen sich die Reisekalenderschreiberin und ihr Begleiter in eine 200-jährige europäische Tradition ein. Seit dem 18. Jahrhundert zählt das Erklimmen des Vesuvs zu den zentralen Stationen bildungshungriger, antikensehnsüchtiger Italienreisender. Auf der Suche nach einem erhabenen Gefühl nahmen die beiden nächtlichen Bergsteiger gezielt die mit der Wahl der Tageszeit verbundenen zusätzlichen Strapazen auf sich. Denn Ende September brennt selbst in Süditalien die Sonne nicht mehr so unerträglich heiß, dass nicht auch eine morgendliche Tour ein beeindruckendes Erlebnis böte. Nachvollziehbar: Schließlich sehen Großstädter aus dem Norden nicht alle Tage einen aktiven Vulkan. Diesen Anblick dann mit anderen zu teilen würde nur stören, wie auch ein zeitgenössischer Reiseführer warnt. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts beklagten sich Reisende über die Touristenströme auf den Wanderpfaden des Vesuv.7 Nachts und am besten natürlich bei Vollmond potenziert sich die Wirkung des mächtigen Bergs. Dann leuchtet die rötlich glühende Lava besonders kontrastreich gegen das Schwarz des Himmels – ein Effekt, den Maler zahlreicher Ölbilder, Gouachen und farbiger Stiche aus der Zeit der Aufklärung und Romantik zu nutzen wussten.
Neben dem rein naturwissenschaftlichen Interesse – demonstrieren doch die verschiedensten Abstufungen von noch flüssigem Gestein hin zu schon gefestigten Auswürfen nichts weniger als die Entstehungsgeschichte der Erde – bietet der Berg einen brisanten zusätzlichen Kick. Ihre sportliche Aktivität und das Wissen um die potentielle Gefahr, jederzeit mit dem ganzen Haufen in die Luft fliegen zu können, erhöhen die Pulsfrequenz der beiden. Und ein Blick in die Zukunft bestätigt, dass schon dreieinhalb Jahre nachdem Hannah Höch und Kurt Heinz Matthies auf den Vesuv geklettert waren, die Katastrophe eintrat, die die meisten Vulkanbesucher, während sie zwischen Schwefelausdünstungen herumsteigen, nur als ein beklemmendes Gefühl erahnen, das ihnen die Begrenztheit des eigenen Seins vor Augen führt. Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges traf die italienische Zivilbevölkerung in Neapel und Umgebung besonders hart. Zunächst bombardierten die Amerikaner das Gebiet und nach der Landung der Alliierten bei Salerno im September 1943 die Deutschen. Am 18. März 1944 kam es zum letzten Ausbruch des Berges, bei dem der kleine Krater im Inneren des Kegels vollständig zusammenbrach. Steine, Lava und Asche wurden in die Luft geschleudert. Nachfolgende Lavaströme zerstörten zwei Dörfer in der Umgebung. Vom Himmel fallende Gesteinsbrocken zertrümmerten eine Start- und Landebahn der Alliierten bei Terzigno und zahlreiche Flugzeuge.8 Den willkürlichen Eingriff des Berges in die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs konnten Hannah Höch und Kurt Matthies nicht vorhersehen.
Quellen
Die vorliegende Lebensbeschreibung der Künstlerin stützt sich maßgeblich auf die mehrbändige Veröffentlichung ihres Nachlasses in der Berlinischen Galerie. Ausführlich ist darin das Leben Hannah Höchs dokumentiert und wissenschaftlich kommentiert. Zitate der Künstlerin und der Personen, denen sie begegnet ist, habe ich, soweit sie aus dem publizierten Nachlass der Berlinischen Galerie entnommen sind, in der entsprechenden Transkriptionsweise wiedergegeben. Nur an wenigen Stellen wurde die Orthographie der besseren Lesbarkeit halber korrigiert.
Neben zeitgenössischen Quellen und Selbstaussagen Hannah Höchs aus ihren Kalendern und Briefen an Freunde oder Kollegen benutzte ich ihre rückblickenden Kommentare, die sie etwa ihrem ersten Biographen Heinz Ohff gegenüber äußerte oder die in ihrem publizierten Lebensüberblick von 1958 nachzulesen sind. Diese retrospektiven Kommentare hat Hannah Höch autorisiert und nachträglich überarbeitet. In den Zitaten kommt die Künstlerin zu Wort. Ihre Selbstaussagen eröffnen einen Assoziationsraum, der Feinheiten ihrer zeitgenössischen und retrospektiven Sichtweisen erkennbar werden lässt.
Darüber hinaus dienten mir bisher unveröffentlichte Briefe von Til Brugman, der niederländischen Lebenspartnerin von Hannah Höch, als Quelle. Sie werden im Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums aufbewahrt.
Die Darstellung ihrer Beziehung zu Kurt Heinz Matthies stützt sich auf Autographen der Künstlerin aus den Gerichtsakten ihres späteren Ehemanns. Ich habe versucht, ihre Briefe in den Kontext der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der NS-Diktatur einzuordnen.
Ohne Hannah Höchs Vorgeschichte, ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen in dem gutbürgerlichen Elternhaus in Gotha, ihre erste Liebe zu Raoul Hausmann und ihre Teilhabe am Kreis der Berliner Dadaisten, ihre Partizipation an der Berliner Kunstszene der zwanziger Jahre sowie ihre Beziehung zu der holländischen Schriftstellerin Til Brugman ließe sich das Leben der Künstlerin unter der NS-Diktatur kaum beschreiben. Die einleitenden Kapitel enthalten jedoch nur wenige neue Forschungsergebnisse. Sie stützen sich auf die umfangreiche kunsthistorische Fachliteratur, die mittlerweile zu diesem Lebensabschnitt von Hannah Höch existiert.