Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 22
ОглавлениеWARUM?
Auf dem Rückweg kaufte ich einen großen Kübel mit rosa Bauernhortensien für Mary, als Dankeschön. Ich stoppte im Supermarkt, nahm zwei Säcke Hundeleckerlies nebst Flohbändern mit, fuhr bei Lim und Sung vorbei, die eine Bitte an mich hatten und nichts am Telefon sagen wollten.
„Hallo, hallo? Hier ist die schwangere Auster mit den flauschigen Freunden?“, röhrte ich lachend in den Laden. Lim und Sung kamen sofort nach vorn, baten mich, doch nach hinten in die Arbeitsküche zu kommen. Am Tisch bei einem leckeren Chai-Tee räusperte sich Lim: „Wir wissen nicht, wie wir es dir sagen sollen, aber wir würden uns wünschen, dass du noch mal deine Hilfe gibst!“
„Na klar, wobei? Meinst du beim Würfel? Ich war letzte Woche in Scarborough, kümmere mich noch diese Woche um die ausstehenden Vertriebsfragen.“
„Nein, nein, ist kein Problem mit Würfel, ist Problem mit Familie. Wir müssen dringend nach Peking reisen. Meine Eltern sind sehr krank. Die Mutter von Sung ist überfahren worden und schwebt in Lebensgefahr.“
„Was? Das ist doch wohl nicht möglich!“
„Doch, doch! Plus, meine Eltern liegen beide in zwei verschiedenen Krankenhäusern mit Alzheimer.“
Wow, das war eine Zehnerkarte! Ich stand auf, ging um den Tisch und umarmte beide. Sung weinte herzzerreißend.
„Wollten dich fragen, ob du unseren Sonnenschein beaufsichtigen könntest. Wären in ein bis zwei Wochen zurück.“ Lim wartete mit aufgerissenen Augen auf meine Antwort.
Ich überlegte fieberhaft, wie ich alles managen konnte. „Ach, irgendwie wird es schon gehen. Was ist schon eine Woche? Na, klar doch. Mache ich.“
„Könntest du bei uns wohnen, damit die Kleine sich nicht umgewöhnen muss? Du könntest selbstverständlich deine Vierbeiner mitbringen. Sie dürfen aber nicht in den Laden, sonst bekommen wir Ärger mit den Behörden.“
„Wer ist denn im Laden?“
„Na, unsere Angestellten. Die bleiben auch länger, wenn du sie brauchst.“
„Könntest du die beiden fragen, ob sie an den Uni-Tagen bis zwanzig Uhr bleiben könnten. Ich weiß, ich darf nichts schleifen lassen. Nach den Vorlesungen müsste ich noch in die Bibliothek zur Recherche. Und natürlich den nächsten Dienstag darf ich nicht vergessen: verpasse nie einen Abend bei Sabia. An diesem Abend müssten sie auch abschließen.“
„Ich melde mich bei dir, wenn sie es machen. Was ist, wenn nicht?“
„Dann muss ich einen Babysitter bestellen.“
„Okay, lasse dir genügend Geld hier.“
In ihrer Wohnung breitete ich mich aus. Der Sonnenschein war ganz verzückt, dass ich meine Tiere dabei hatte, watschelte breitbeinig hinter ihnen her, quiekte und schrie vor Freude. Alles wird gut!
Die erste Woche verging im Flug. Alles war wunderbar. Der Laden lief. Die Kleine war ruhig und zufrieden. Uni lief. Reisebüro lief. Trotzdem, nach drei Tagen hatte ich so ein superungutes Gefühl. Nichts, was ich genau bestimmen konnte!
Völlig grundlos wurde ich morgens ab dem neunten Tag extrem unruhig. Ich sah Jeff überraschend im Laden, der von seiner Reise zurück war, der mich erstaunt frühmorgens hinter der Kasse erblickte. Er kaufte für seine Familie zehn Becher vom Cocktail zum Frühstück. Ich erzählte ihm, wie es mir ergangen war, dass er meinen Bruder verpasst hatte, dass ich aushalf. Die Unruhe blieb. Ich wusste auch am vierzehnten Tag nicht, woher sie kam. Zur Unruhe gesellte sich eine Form der Nervosität, dich mich wirklich aus der Bahn warf. Ständig rieb, zupfte ich an meiner Nase, kratzte mich heftig an den Schultern, kratzte mich anfallsartig seitlich am Kopf, als wenn ich Läuse hätte. Unentwegt rieb ich mit der Zunge an meinem Gaumen, drehte meine Nackenlocke wie eine Wahnsinnige mit dem Zeigefinger, hatte keinen Appetit. Am fünfzehnten Tag rief Lim an. Leider müssten sie noch in China bleiben. Dort gestaltete es sich schwieriger, als sie dachten. Ich beruhigte Lim, alles war in fester Hand. Keine Probleme. Dachte ich.
Ich bemerkte, dass ich nicht genügend Leckerlies für die Tiere hatte. Mein Shampoo war leer. Ich brauchte zwei Bücher, um etwas für die Uni nachzuschlagen, brauchte mehr T-Shirts und andere Sandalen. Grund genug, die Angestellten zu aktivieren, dass sie in der zweiten Etage bei der Kleinen und den Tieren bleiben sollten, bis ich zurück war. Da es erst kurz nach zehn Uhr war, ging die Busfahrt sehr schnell. Ich schloss das Haus auf. Die Post quoll von innen aus dem Briefkasten. Briefe, die schon auf dem Boden lagen, hob ich auf. Ich stockte.
War das nicht die Schrift meiner Mutter auf diesem Brief? Ich schaute mich um, wühlte durch die Post. Ein Telegramm lag dazwischen. Ich wollte die Eingangstür schließen, sah aus dem Augenwinkel ein großes Paket hinter dem Busch direkt an der Hauswand. Ich balancierte alles hinein, setzte mich in die Küche, um die Post zu begutachten, öffnete das Telegramm zuerst. Meine Hände zitterten, als ich den Text las.
Ich legte das Telegramm zur Seite, holte Luft, nahm das Papier wieder auf.
„Komm sofort zurück! Alex hat sich das Leben genommen. Deine Großeltern haben am selben Tag ein Stopp-Schild überfahren, sind von einem Zehntonner überrollt worden. Waren auf der Stelle tot. Beerdigung in acht Tagen. Deine Eltern.“
Völlig ungläubig starrte ich die Zeilen an, glaubte, meine Atmung setze aus. Draußen hatten dunkle Wolken die Sonne verdrängt. Ich saß reglos in Schockstarre da, unfähig, mich zu bewegen, erlebte in Zeitlupe, wie mein Herz zweigeteilt wurde, wie der Riss Zacken durch mein Herz zog. Das Blut, jetzt dickflüssig, verursachte im Kopf Schwindel. Mir wurde schlecht. Ich erbrach mich über den Tisch. Der Damm brach. Endlich schrie ich. Weinte und weinte. Versuchte, sie mir alle vorzustellen. Küsste allen drei die Augen, die mich aufgerissen, schockiert ansahen. Eine Collage aus schmerzverzehrten Gesichtern schaute mich an. Flehend! Ich sah sie, fühlte sie, spürte sie.
Ich ging zum Sofa ins Wohnzimmer, schlug mit der Faust aufs Sofakissen. Wieder und wieder hämmerte ich meinen Schmerz ins Kissen, sprach laut mit Gott, fluchte, schrie ihm meine unbändige Wut ins Gesicht:
„Wie konntest du so etwas zulassen? Meine geliebten Großeltern! Meinen geliebten Bruder! Sie waren pure Liebe, hatten das edelste und größte Herz, haben nie jemandem etwas getan.
Warum?
Warum hast du das zugelassen? Warum hast du es nicht verhindern können?
Warum?
Habe ich nicht täglich deine Gebete gebetet? Habe ich dich nicht geachtet? Respektiert?
Wieso bestrafst du mich?“
Ich ließ meine Fäuste fliegen, bis mein Schultergelenk sich mit einem stechenden Schmerz meldete.
Ich sank wimmernd auf die Knie, gab mich ganz meiner Trauer hin. Keine Ahnung, wie lange ich wie, wo und was gemacht habe. Aber so gegen neun Uhr abends war ich wieder bei Sinnen, streckte meine Beine aus, blieb auf dem Boden sitzen, starrte ins Nichts.
Mein Blick, trancegleich, richtete sich auf den dreiteiligen Kalender, der neben der Küchentür hing. Wie von einem anderen Stern sah ich auf Zahlen, die ich nicht sofort erkannte. Plötzlich sprang ich auf und lief zum Kalender. Ein grauenhafter Gedanke formte sich. Ich drehte mich um, suchte das Telegramm, den Brief auf dem Küchentisch. Hektisch fegte ich mit der Hand andere Post vom Tisch, wühlte. Dann hielt ich es in der Hand. „O Gott, bitte nicht. Sag, dass es nicht wahr ist!“
Die Realität konnte messerscharfe Klingen haben. Die Beerdigung meiner Großeltern war heute, die von Alex in sechs Tagen, weil dann erst die Freigabe seines Körpers war. O nein, das auch noch!
„Shit, Shit, Obershit!“, brüllte ich den Tapeten entgegen, kickte mit dem Fuß gegen den Stuhl, der direkt bis zum Waschbecken flog. Ich stampfte wütend mit dem Bein auf, schrie wieder meinen Schmerz in Richtung Himmel, fühlte mich alleingelassen. Sammelte meine Siebensachen, knüllte sie in eine Plastiktüte, schloss die Tür hinter mir zu, lief zur Bushaltestelle und setzte mich wartend auf die Bank. Eine gespenstische, eiskalte Ruhe legte sich wie ein Umhang über mich. Ich stieg in den Bus, der direkt vor mir hielt.
Mechanisch schloss ich die Wohnungstür auf. Die Flauschbälle rannten mir springend entgegen, schmiegten sich um mein Bein, sprangen an mir hoch, zeigten mir ihre Wiedersehensfreude. Ich bückte mich, hob beide gleichzeitig hoch, küsste sie abwechselnd, während sie mir über meine nassen Augen schleckten.
Noch nie war ich derart dankbar für ihre Anwesenheit, genoss ihre Abhängigkeit. Wie schön es doch war, gebraucht zu werden! Sonnenschein schlief entspannt in ihrem Bettchen, der Babysitter auf der Matratze davor. Ich erkannte Monika, die sechzehnjährige Nachbarin, schlich mich zur Couch, lud meine Vierbeiner ein, legte sie vor meinen Bauch und schlief erschöpft ein.
Noch war es draußen leicht gräulich. Das Licht wechselte. Der Tag drängelte sich vor, schickte als Vorboten sein grelles Licht. Ich bewegte mich nicht, denn die Vierbeiner schliefen noch. Ich überlegte: Wieso ging ein Tag, das Leben weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Alles lief weiter wie gehabt. Die Erde drehte sich. Die Nacht wurde vom Tag abgelöst. So wie jeden Tag standen Menschen auf und gingen zur Arbeit. Keiner wusste, wie ich mich fühlte. Kein Hahn krähte danach, wer wie wann fühlte.
Ich lag auf der Couch mit dem schalen Gefühl, dass ich seit gestern betäubt war und heute mit dem Wachzustand zu kämpfen hatte. Ich nahm das Telefon vom Beistelltisch, stellte es seitlich auf die Armlehne, wählte ihre Nummer. Ella meldete sich.
„Ella Behrmann“, kam es bedrückt.
„Hallo Ella, ich bin es. Mein herzliches Beileid.“ Schon schluchzte ich. Meine Worte verzehrten die Vokale.
„Danke! Wo bist du?“
„In Toronto!“
„Du bist nicht zur Beerdigung deiner Großeltern gekommen!“, klagten ihre Worte vorwurfsvoll.
„Ich weiß“, antwortete meine Trauer.
„Du weißt? Ist das alles, was du dazu sagen kannst? Seit Tagen haben wir uns die Finger blutig gewählt. Tag und Nacht. Du warst wie vom Erdboden verschwunden! Wo warst du? Ich brauche dich. Jetzt! Hier!“
Ich weinte bitterlich, denn ich fühlte mich schuldig. Ella weinte mit.
„Wann kommst du?“, fragte sie erschöpft.
„Keine Ahnung, kann hier nicht weg.“
„Wie? Du kannst nicht kommen?“, kreischte sie in den Hörer.
„Mein über alles geliebter Sohn, dein Bruder ist tot. Meine geliebten Eltern, deine Großeltern sind tot und du kannst nicht kommen? Das höre ich doch wohl nicht, oder?“
„Ich weiß, Ella. Wünschte mir nichts lieber, als zu kommen. Sitze fest. Keiner meiner Freunde, die ich um Hilfe bitten könnte, ist da. Alle sind unterwegs. Ich mache derzeit Babysitter bei meinen Freunden, passe im Gemüseladen auf. Mrs. Clark ist vor Kurzem verstorben. Ich habe eine Katze und seit vier Wochen auch einen Hund“, flehte ich kläglich um Verständnis. „Weil ich nicht zu Hause war, habe ich die Nachricht auch erst gestern erhalten. Ich brauche Zeit, um meine Abwesenheit zu organisieren, bin genauso frustriert und traurig wie du. Was soll ich deiner Meinung nach machen?“
„Vergiss es!“ Ella legte den Hörer auf.
Ich starrte den Hörer erstaunt und vorwurfsvoll an. Hatte Ella aufgelegt oder war die Verbindung unterbrochen worden? Ich wählte noch mal.
„Martin Behrmann“, ertönte eine tiefe Stimme.
„Hallo Martin! Ich bin es, Hummel.“
„Wir haben dir ein Telegramm geschickt“, drohte auch seine Stimme.
„Ich weiß, habe es gestern gelesen.“
„Wieso gestern erst? Gestern war die Beerdigung. Wir haben auf dich gewartet, auf dein Kommen gezählt. Du hast uns bitterlich enttäuscht“, peitschten seine Worte vorwurfsvoll auf mich nieder.
„Das tut mir wirklich leid. Das war doch keine Absicht“, baten meine Worte um Verständnis. „Wenn ich es vorher gelesen hätte, wäre ich doch gekommen!“
„Das brauchst du jetzt auch nicht mehr.“
„Wieso hat sich Alex das Leben genommen? Als er hier wegflog, machte er mir einen glücklichen Eindruck!“
„Nun, der täuschte. Wahrscheinlich war es eher ein Abschiedsbesuch.“ Stille. „Stell dir vor, er hat sich in unserem Keller mit der Bügelschnur erhängt! Wie konnte er uns das nur antun?“
„Was? Erhängt?“ Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. „Was hast du ihm angetan, dass er diesen Stritt gewählt hat?“
„Ich?“, kreischte Martin wütend in den Hörer. „Wieso ich? Ich habe ihn nicht aufgehängt!“
Ich sprang auf. Wie ein Panther ging ich im Zimmer auf und ab. „Kein Mensch hängt sich einfach so auf, weil sein Leben schön ist, er glücklich und zufrieden ist. Er fühlte sich bestimmt mit seinen Problemen alleingelassen. Fühlte sich nicht wertgeschätzt, ignoriert, belächelt. So wie es schon immer war.“
„Was hat das mit mir zu tun? Wir alle haben Sorgen und Probleme, müssen doch alle sehen, dass der Rubel rollt. Das Leben ist teuer und der Monat geht schnell vorbei. Das hätte er bedenken sollen, als er sich von seiner Frau und seinen Kindern getrennt hat, als er gleich im Bett bei der Nächsten aufgewacht ist. Scheidungen kosten nun mal Geld. Wer bekommt schon alle Erwartungen im Leben erfüllt? Das Leben ist doch kein Wunschkonzert … oder eine Pralinenschachtel! So spielt das Leben. Hummel!“
Ich hasste Hummel. Es hatte sich ausgehummelt.
„Bei dir ist alles reduziert auf Geld und Verstand. Es gibt noch mehr als das“, blökte ich zurück. „Du hättest Alexander aushelfen können, bis er sich gefangen hätte. Er ist euer Sohn! Was macht dich eigentlich so heilig? Hast du noch nie Fehler gemacht? Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du ein tolles Vorbild als Mann oder Vater für ihn warst, oder?“ Ich ließ ihn nicht zu Wort kommen, holte noch weiter aus. „Deine Prügel-Attacken waren doch legendär. Deine Aggression basierte auf deinem eigenen Konstrukt aus Defiziten. Beim Fremdgehen, Lügen, Betrügen warst du doch der Weltmeister. Wieso wirfst du hier den ersten Stein?“, schrie ich laut in die Muschel. „Bist zu unfehlbar?“
„Willst du mir Vorwürfe oder gar Vorschriften machen? Kümmer dich um deine eigenen Sachen! Ich lasse mir doch nicht von einem Dreikäsehoch das Leben erklären. Wir sind immer noch deine Eltern, ja?“
So bissen sich seine Worte in mein Gehör. Ich setzte mich aufrecht hin, drückte meinen Rücken durch.
Es war definitiv leichter, Martin aus räumlicher Distanz und am Telefon meine Meinung zu sagen. Ich fasste all meinen Mut zusammen.
„Vielleicht hättest du dich mehr um ihn kümmern sollen, als dauernd nach Österreich zu deiner Geliebten zu fahren. Er hätte einen liebenden Vater gebraucht, der ihm das Leben erklärt, der großzügig mit Worten und Taten ist, der ihn liebevoll unter seine Fittiche nimmt. Du hast sicherlich auch schon Fehler in deinem Leben gemacht, wärst auch froh gewesen, wenn deine Richter milde mit dir gewesen wären!“, hörte ich mich sagen.
„Was weißt du schon von meinen Richtern, meiner Geliebten. Ich verbitte mir jegliche Anspielung und Anzüglichkeiten. Hörst du?“
Angewidert warf ich den Hörer auf die Gabel. „Arschloch!“, rief ich ins Zimmer. „Riesen-Arschloch!“
Es klingelte wieder. „Ja“, bellte ich kampfbereit in den Hörer.
„Hier ist deine Mutter“, kam es gequält, leise über Ellas Lippen. „Bleib, wo du bist. Er ist unerträglich. Besser, du bleibst da. Melde mich. Tschüss, Kind.“ Schluchzend legte sie den Hörer auf.
Stocksteif saß ich auf der Couch, schlug mit der Faust auf die Polster ein. Ich vibrierte innerlich. Meine Wut hätte ganze Schaumbäder füllen können. Beide Vierbeiner rasten erschrocken von den Polstern, versteckten sich unter der Kommode.
Irgendwie war ich perplex. Es war das erste Mal, dass ich meine Stimme erhoben und Martin Fakten an den Kopf geschleudert hatte. Mmh … es fühlte sich gut an. Ich musste mir sein Gesülze und dummes Geschwätz nicht länger anhören, kuschte nicht mehr vor diesem Lügner, Fremdgänger, Großkotz. Ich legte mich auf den Boden. Auf dem Kopfkissen liegend, stellte ich mir vor, wie Alex an der Bügelschnur baumelte. Grauenhafte Vorstellung! Welche Aussage wollte er damit machen? Ihr Keller, ihre Bügelschnur? Hatten Martin und Ella das mitbekommen? Konnten sie überhaupt so weit denken?
Ella hatte Martin damals nicht davon abgehalten, ihn zu Brei zu schlagen. Als liebende Mutter wäre das ihre Aufgabe gewesen. Ich schämte mich für sie und ihr Versagen. Wie viele Mütter gab es wohl auf der Welt, die ihre Kinder nicht vor destruktivem, egozentrischem Verhalten schützten? Ich fühlte mich leer und ausgesaugt. In diesem Zustand rief ich die Nummer meiner Ex-Schwägerin an.
„Hallo?“
„Hallo, meine Liebe, ich bin es, Valentina. Mein aufrichtiges Beileid möchte ich dir wünschen.“
„Ach, Valentina. Schön, dass wenigstens du dich meldest. Mein Kind und ich, ihr Enkelkind, dein Neffe, sind für deine Familie abgemeldet, existieren nicht mal. Dabei ist Alex fremdgegangen, nicht ich. Er hat mich verlassen, nicht ich ihn. Das ist so schreiend ungerecht“, klagte sie. „Dabei liebe ich ihn heute noch. Zu seiner Beerdigung wollen sie nicht, dass ich dabei bin. Kannst du dir das vorstellen?“
„Es tut mir so leid. Ich verstehe da meine Eltern nicht. Es ist ja auch ihr Enkelkind. Ihr gehört doch zur Familie. Menschen können schockierend verletzend sein.“ Sprechpause. Ich hörte, wie sie leise weinte.
„Kann ich etwas für dich tun?“, fragte ich aufrichtig.
„Ja, kannst du. Bleib in Verbindung! Ich würde mich freuen, wieder von dir zu hören. Oder schreib eine Karte, eine Mail, einen Brief. Komm uns besuchen, wenn du mal hier bist. Was auch immer. Hauptsache, du bleibst mit uns im Kontakt.“
Schluchzend verabschiedeten wir uns.
Ich stand auf, öffnete die Fenster, lüftete, damit meine schweren Gedanken den Weg ins Freie fanden.
Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, plante ein Arrangement, das alle befriedigte. Aber egal, was ich mir vorstellte, nichts funktionierte. Das Telefon klingelte. Ich stürzte von der Toilette zum Telefon. Lim war dran.
„Hallo, wir haben gute Nachrichten. Wir kommen schon in vier Tagen zurück, konnten viel regeln. Danke nochmals für deine außerordentlich großzügige Hilfe. Deshalb auch lieben Dank von unseren Familien. Wir waren eine große Stütze für sie, haben soeben das Rückflug-Ticket gekauft.“
„Toll, freue mich.“
„Wie geht es der Kleinen?“, fragte Sung, die sich in das Gespräch einschaltete.
„Sehr gut. Sie hat einen ordentlichen Schuss getan. Die Kleider gehen ihr jetzt übers Knie. Sie ist ein guter Kostverwerter und hat Energie für drei. Ich züchte gerade Sumo-Ringe um ihre Taille.“
Sung lachte erleichtert. Wir verabschiedeten uns.
Im Bus zur Uni waren meine Gedanken über den Wolken und ich traf meine Lieben. Ich hielt ein Zwiegespräch mit ihnen, hatte tausend Fragen: Wie es da oben aussah, ob sie auf mich herunterschauten? Mich sahen und beobachteten, mich vermissten? Vielleicht Freunde oder alte Bekannte wiedersahen?
In der Uni war ich unfähig, das Gehörte aufzunehmen. Auf der Rückfahrt im Bus fasste ich mir an die Brust. Der stechende Schmerz war unerträglich. Meine Atemnot kam in Schüben. Ich kniff mich minutenlang vorn am Nagel meines Mittelfingers. Der Druck sollte das Kribbeln im Arm vermindern. Am nächsten Morgen klingelte in aller Frühe das Telefon.
Schlaftrunken nahm ich den Hörer ab.
„Valentina?“ schrie jemand laut in den Hörer. „Bist du es? Grüß dich, hier ist Anita. Kennst du mich noch?“ Pause. Ich versuchte, wach zu werden. „Anita? Na klar. Entschuldige, dass ich so lange gebraucht habe, bin gerade erst wach geworden und noch nicht so ganz auf der Höhe. Hallo Anita, wie geht’s dir! Schön, dass du dich meldest.“
„Die Freude liegt ganz bei mir. Sei bitte nicht beunruhigt, aber ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Ella hatte einen Herzinfarkt!“
„Neeeiiin“, schrie ich in den Hörer. „Wie ist das passiert? Wo ist Martin?“
„Mmh, das ist es ja gerade. Er ist in Österreich und kommt erst zur Beerdigung von Alexander zurück. Deine Mutter hat sich so aufgeregt, dass sie ohnmächtig geworden ist. Sie hat alles unter sich gelassen. Ich stand gerade bei euch in der Küche, als ich sie im Esszimmer habe fallen hören. Habe sofort den Krankenwagen geholt. Der hat sie in die Uniklinik auf den Venusberg gefahren. Ich war bis jetzt bei ihr. Sie liegt auf der Intensiv. Die Ärzte haben sie unter Kontrolle.“
Ich musste mich setzen. „Wie kann er nur so rücksichtslos sein? Dieses Schwein. Was hat diese Frau, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlt und Ella so verletzt? Nach so vielen Jahren rennt er immer noch dahin. Will Ella es nicht merken? Will sie keine Konsequenzen ziehen? Was macht sie so blind? Oder weiß sie es und hat resigniert? Weiß er, was mit Ella ist?“, sprudelte es aus mir heraus. Dann dämmerte es mir. „Großer Gott, das fällt mir gerade auf. Sie wird auf der Beerdigung von Alex nicht dabei sein können! Anita, glaubst du, dass die Ärzte sie in drei Tagen entlassen?“
„Im Leben nicht. Außerdem liegen bis dahin nicht alle Befunde vor. Sie ist bestimmt noch zwei Tage auf der Intensiv!“
„Albtraum.“
„Wie?“
„Hatte heute Nacht einen Albtraum, der jetzt wahr geworden ist!“
„Ich kümmere mich um deine Mutter, bleib ruhig. Ich liebe deine Mutter seit vielen Jahren, aber von diesem Despoten krieg ich sie leider nicht weg.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Nun, ich war leider auch mal mit einem Despoten, so einem verkappten Adolf, verheiratet. Der körperliche und seelische Horror ging über Jahre. Dann traf ich auf Lisa und verliebte mich in sie. Sie starb vier Jahre später an Krebs. Ich zog in eure Nachbarschaft und seitdem liebe ich deine Mutter. Leider erwidert sie meine Gefühle nicht. Ich liebe sie aber trotzdem.“
Mir blieb die Spucke weg. War ich früher blind, taub oder einfach nur ignorant? Wir verabschiedeten uns. Sie wollte mich in zwei Tagen anrufen.