Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 8
ОглавлениеMOLLY
Vittorio, unser sizilianischer Strahlemann, strahlte wie die Mittagssonne in Palermo, als wir hereinkamen. Er ging sofort zu einem freien Tisch, zog zwei Stühle unterm Tisch zurück, wischte hektisch mit einer weißen Serviette über die Stuhlsitze und bat uns in gebeugter Haltung und mit galanter Geste zu Tisch. Präsentierte sein Motto: Eintreten, wohlfühlen!
Wir prosteten uns mit Prosecco und einem Schuss Mirabelle zu. Mary erzählte zuerst, wie es ihr auf der Reise ergangen war, was sie erlebt hatte. Ich übte mich in Geduld. Eine Eigenschaft, die bei mir wirklich nicht ausgeprägt war. Mary erzählte.
„Dieser Arzt, Dr. Huegli, hatte eine spezielle Kamera. Damit hielt er meine Aura auf dem Foto fest. In seiner Praxis spielte als Hintergrundmusik einer deiner Lieblinge, Maurice Ravel, während er mir die sichtbaren Farben erklärte. Er sagte, dass die Aura eine persönliche Sache ist und keine der anderen gleicht. Weil wir alle unterschiedlich sind. Laut seinen Ausführungen habe ich viel Rot in meinem Bild. Das zeugt von Energie und großer Dynamik. Das Lila steht für Menschenkenntnis und Intuition, der Streifen Blau für Ehrlichkeit, Schutz und Kommunikation, das Gelbgrün für Selbstreflexion und Offenheit. Gott sei Dank habe ich wenig Orangegelb, was ein Hinweis für Stress, Ermüdung und Kopflastigkeit wäre. Er gratulierte mir zu meinem großen Anteil an Blautürkis, das Zeichen für große Spiritualität und dafür, dass ich ein Gefühlsmensch bin. Das war sehr interessant für mich.“
Ich hörte ihr mit offenem Mund zu. Wow, ihre Geschichten waren lang, spannend und schmerzhaft zugleich, dauerten bis zum Dessert: Kuchen mit geeister Zabaglione, frischen Walderdbeeren und Vanilleeis.
„Hm, ich nehme den achtstöckigen Kuchen mit Sahne, Kirschwasser und anderen leckeren Zutaten, strecke meinen Rücken und ziehe meinen Bauch ein, damit dieses Stück noch Platz hat.“
Mary schaute erst gar nicht in die Karte, als sie dem Oberkellner winkte. Vittorio, dessen Aufmerksamkeit nichts entging, war sofort strahlend zur Stelle. „Was darf ich den Damen Leckeres servieren?“
Mary strahlte zurück, vielleicht sogar ein wenig länger als erlaubt! Sie kokettierte mit ihrem Hunger: „Vittorio!“ Sein Name kam klagend über ihre Lippen. „Bitte zwei Stück von eurer hausgemachten bella torta.“
Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, klopfte mit dem Zeigefinger immer auf dieselbe Stelle am Tisch. Endlich, ich war dran, sprudelte wie die heißen Quellen auf Island alle Neuigkeiten aus. Mein Redeschwall war nicht zu stoppen.
Nachdem all meine Quellen versiegt waren, fragte Mary ungeduldig: „Hat Sabia dich nach deinem inneren Kind gefragt?“
„Welches Kind?“
„Okay, ich erkläre es dir: Dein inneres Kind ist eine Art Instanz, die sich wie ein kleines Kind verhält. Zunächst ist es noch unwissend und sehr zerbrechlich. Das kleine Kind ist unschuldig, fröhlich, neugierig, verspielt. Es ist aber auch ängstlich, verletzlich, wild, beleidigt, um nur einige Eigenschaften zu nennen, wie kleine Mädchen so sind. Jede Frau trägt so ein kleines Mädchen in sich, der Mann einen kleinen Jungen. Wenn du erwachsen wirst, zeigst du vielleicht in manchen Situationen diese charmanten Züge. Du wirkst herrlich jugendlich und unbeschwert. Wenn wir die Kleine lieben, pflegen, unterstützen, achten und respektieren, wird daraus eine starke, selbstbewusste und liebenswürdige junge Frau, die sich auf ihre Wurzeln besinnt, die diese Stärke für andere sichtbar ausstrahlt.“
„Aha, das ist ähnlich wie die Haltung beim Qi Gong, wenn ich meine Zehen in den Boden kralle und mich mit der Erde, mit meinen Wurzeln verbinde!“
„Wahrscheinlich. Ich mache Yoga. Dort gibt es auch Übungen, die das vermitteln. Wie gesagt, das kleine Mädchen trägst du immer bei dir. Auch wenn du alt bist, ist es immer da. Für so ein kleines Ding ist die Welt noch in Ordnung. Denn sie denkt mit dem Herzen. Es ist hilfreich, wenn du oft mit ihr sprichst. Die Kleine fragt, wie es ihr bei deiner Entscheidung geht, was sie fühlt und denkt. Diese Kommunikation zwischen dir und der Kleinen kann sich zu einem tollen Selbstgespräch entwickeln. Du kannst ihr auch einen Namen geben, um Nähe zu erzeugen!“
„Lustige Vorstellung. Nach dem Motto die große Valentina und die kleine Valentina?“
„Genau. Mit der Zeit verstehst du sie, ziehst ihre Gefühle, ihre Wünsche in Betracht, hast ein kleine Freundin, auf die du aufpassen musst.“
„Also meine Kleine heißt nicht Valentina. Meine heißt Molly!“
„Molly wie mollig?“
„Ja, ich sehe sie als kleine mollige, robuste, fröhliche Prinzessin. Mit Grübchen und Schillerlocken!“
Vittorio stellte mit breitem, geradezu frechem Grinsen die Kuchenteller vor uns hin. Dieses gigantische Stück Torte. Achtstöckig. Es sah aus wie Schwarzwälder Kirschtorte und strahlte uns an. Mary bohrte mit steifem Zeigefinger seitlich in die Sahnecreme, leckte genüsslich ihren Finger der Länge nach ab. Vittorio beobachtete im Hintergrund die Szene, wischte sich nervös die Stirn mit einer Serviette ab. Ich nahm die Deko-Kirsche von oben, ließ sie in meinen geöffneten Mund plumpsen. Vittorio rollte seine Augen nach hinten, tupfte wieder mit der Serviette.
„Gosh, lecker.“ Ich sprach mit Molly. Sie nickte zustimmend.
Mary brach ein riesiges Stück aus dem Kuchenstück ab, schob es mit dem Finger auf die Gabel. Während ich ihr zuhörte, balancierte ich ebenfalls ein überdimensionales Stück auf meiner Gabel. Keine Ahnung, wie es passierte. Ich blickte zu Mary, während sie lautstark „Scheiße“ brüllte. Das fette sahnige Häppchen fiel von der Gabel direkt über ihren Busen, rutschte im Zeitlupentempo von dort glibberig über ihr rotes Lederkleid in Richtung Schoß. Bei ihrem Aufschrei hatte mein Stück Torte vor Schreck ebenfalls die Balance verloren, hüpfte gleichfalls von der Gabel direkt auf mein Oberteil, folgte der Erdanziehung in Richtung Hose. Die sahnige Schleimspur machte in meinem Bermuda-Dreieck halt. Geschockt blickten wir auf unsere sahnigen Schlachtfelder, tauschten ungläubige Blicke aus, prusteten und lachten, gackerten und juchzten, sahen herrlich bescheuert und verschmiert aus. Ich lachte so hart, dass meine Blase auch kicherte. Freudig berührt, sonderte sie etwas Flüssigkeit ab, was zu meinem Entsetzen direkt auf den grünen Samtbezug des Sessels lief. Wohlige Wärme breitete sich unter mir aus. Wir erstickten im Lachen, bevor der Horror begann, sich Platz zu verschaffen. Toll! Ich saß hier mit bepisster Hose. Wenn der Samt jetzt nicht farbecht war, hatte ich auch noch hinten auf meinem Anzug einen riesigen grünen Fleck!
Ich glaubte es nicht. Klein-Molly lag auf dem Boden, krümmte sich vor Lachen, als wenn wir uns abgesprochen hätten. Wir standen zeitgleich auf, nahmen beide unsere Serviette, die Gott sei Dank das Ausmaß eines Kopfkissens hatte. Mary ging vor, hielt sich die ausgebreitete Serviette vor ihre Scham. Ich folgte dicht hinter ihr, hielt meine Serviette großflächig über meinen Po. Wie siamesische Zwillinge bewegten wir uns durch das Lokal zur Toilette unter den ungläubigen und verwunderten Blicken der anderen Gäste. Hilfe! Das war megapeinlich.
Im Vorraum der Toiletten brachen wir wieder in schallendes Gelächter aus. Mary hatte zuerst ihr Kleid über den Kopf gezogen, während ich noch mit dem Reißverschluss kämpfte. Wir standen in BH und Höschen vor dem Spiegel, hielten die versauten Stellen von Kleid und Anzug ins Waschecken unter warmes Wasser und begannen mit der Waschung. Handwäsche! Ich zog kurzerhand auch mein Höschen aus. Pissnass.
Mary schaute mich verwundert von der Seite an.
„Kann es ja wohl nicht fassen! Was für eine gemeine Sauerei. Schau uns an, fast nackt auf der Toilette und die Klamotten im Waschzuber. Das Stück ist bühnenreif. Wirklich.“
Wir brachen wieder in schallendes Gelächter aus, schnappten nach Luft wie Fische auf dem Trockenen.
„Süße, mit dieser Nummer können wir demnächst beim Zirkus auftreten!“
„Wieso?“
„Du schaffst es, mit einem Stück Torte dich vorn und hinten zu besudeln!“
Jetzt gackerte sie wie ein Huhn. Sie ging in die Hocke, während sie sich vor Lachen in die Muschi kniff.
Ihr Gesicht streute feuerrote Flammen. Ich krümmte mich ebenfalls.
„Die Nummer sieht nicht nur wie Zirkus aus, sie ist auch Zirkus.“
„Häh? Wie meinst du das?“
„Ich habe mir bei deinem entsetzten verschmierten Anblick direkt mal vor Lachen in die Hose gepinkelt!“
„Waaas? Du bist der Knaller, Vali. Wirklich? Ich glaub es nicht. Auf dem Stuhl? In den Samt? Nach dem Yoga-Motto ‚befreien und loslassen‘?“
Dabei wälzte sie sich auf dem Boden, schüttelte sich vor Lachen.
Lachend beendete ich meine gründliche Waschung, wrang den Anzug und den schwarzen Ritzenfeger aus, ging auf die andere Seite zum elektrischen Händetrockner, schaltete ihn ein. Das Gebläse mit Turbinenstärke ließ meine Wäsche flattern. Ich stieg auf den Mülleimer, den ich auf den Kopf gestellt hatte, um näher an das Gebläse zu kommen, beugte mich vor, stand auf Zehenspitzen, hielt meinen Po näher unters Gebläse, damit dieser auch etwas Wärme und Trockenheit bekam.
Mary quiekte und kreischte, schlug lachend mit den Händen um sich, rollte sich beim Anblick meiner Trocknungsnummer von links nach rechts auf dem Boden.
„Scheiß Torte“, sabbelte ich, während ich mit nacktem Po auf die Uhr schaute. Nach zwanzig Minuten ermüdender Trocknungsdauer nahmen die Klamotten eine gute Form an.
„Tja, Vittorio, der Kuchen wird teuer bei dem Stromverbrauch“, murmelte ich vor mich hin, während ich mich anzog.
„Miss Pissy“, lachte Mary wieder. „Mach Platz, Schatzi, am Trockner. Postier dich an der Eingangstür als Wachposten. Hab keine Lust, von Gästen überrascht zu werden, während ich den meinen in die Höhe strecke und meine Fähnchen trockne. Shit, das wird bestimmt noch lustig. Leder in Verbindung mit Wasser und heißer Luft wird bretthart. Ja, super. Was für ein Auftritt!“
Zurück im Restaurant, hatten viele Gäste bereits das Lokal verlassen. Es ersparte uns weitere Blicke und verbale Anzüglichkeiten. Mary ging zu ihrer Handtasche, holte zwei große Scheine heraus. Lachend legte sie diese auf den Tisch.
„Stimmt so, Vittorio. Tut mir wirklich leid!“ Sie schenkte ihm das strahlendste Lächeln, das sie ernsthaft hervorbringen konnte.
Ich sagte gar nichts. Die Nummer war an Peinlichkeit kaum noch zu toppen und an Situationskomik nicht zu überbieten. Vittorio, anscheinend hellsichtig, hatte schon mal ein Taxi bestellt, in das wir wie Flüchtlinge einstiegen. Der Fahrer sah mehrfach in den Rückspiegel, um uns zu beobachten. Solch gackernde Hühner hatte er sicherlich noch nie transportiert. Wir verschluckten die Hälfte der Sätze, weil wir immer noch lachten. Mary saß steif wie ein Brett in den Polstern. Das Leder hatte sich stark zusammengezogen und zwickte überall.
Die Koffer und Taschen standen vor Marys Eingangstür. Jeff war wirklich verlässlich. Mary überreichte mir den Zettel, der auf den Koffern lag. Ich faltete den Zettel auseinander.
„Shayna, Süße! Es war viel zu kurz, aber wie immer interessant, dich zu sehen. Danke für deine überraschende Zusage. Freue mich auf heute Abend. Wenn es dir recht ist, hole ich dich um zwanzig Uhr dreißig ab.
Dein Jeff.
P. S. Die Anrede ist jiddisch. Nicht, dass ich der große Crack in Sprachen oder Dialekten bin, aber das bedeutet: Schöne Süße, und selbst das ist völlig untertrieben!“
Der Zettel zwang ein Lächeln auf meine Lippen. Jeff war echt süß!
Ich fragte Molly nach ihrer Meinung. Sie nickte zustimmend. Okay: Ich musste mich erst mal an diese Form der Kommunikation mit ihr gewöhnen. Mary holte ihren polierten Zweisitzer aus der Garage und fuhr mich nach Hause, klingelte Sturm. Mrs. Clark öffnete freudestrahlend die Tür. Sie schwang dabei ihre Hüften, tänzelte ein wenig.
„Schön, dich zu sehen, du warst aber lange unterwegs! Das Telefon stand nicht still. Habe dir die Zettel an die Tür geklebt.“
Auf dem Weg zu meinem Zimmer hörte ich im Hintergrund Harry Belafonte seinen Yellow Bird singen, ihr Liebling unter vielen. Sein Timbre ließ meinen Beckenbodenmuskel – wie hieß der noch? Popukoksus oder so ähnlich? – vibrieren. Mrs. Clark ließ sich in den Cocktailsessel plumpsen, nahm ihr Glas wieder auf. Die Eisstückchen klimperten an der Glaswand. „Komm, setz dich zu mir, Vali. Möchtest du auch einen leckeren Cuba Libre? Oder lieber einen Rum Runner?“
„Oh, vielen Dank. Bin beim nächsten Mal wieder dabei. Ich bin in Eile, weil mich Jeff gleich abholt.“
„Jeeefff!“ Sie zog seinen Namen in die Länge, strahlte sofort. „Ich freue mich, dass Jeff kommt und du dich für ihn entschieden hast.“
„Wieso entschieden? Wir gehen nur joggen, vielleicht auch essen. Oder wir gehen auf einen Drink. Nichts Verwerfliches oder Entscheidendes.“
„Das ist es ja gerade. Der schwarze Mann ist dagegen gefährlich!“
„Wieso? Du bist doch selbst farbig und ebenfalls aus Jamaika!“
„Waaas? Der ist aus Jamaika? Gott bewahre!“
Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust, hob ihr Glas, nahm einen kräftigen Schluck.