Читать книгу Könnte schreien - Carola Clever - Страница 23

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MODEL

Früh fuhr ich ins Reisebüro. Am Nachmittag verkaufte ich wieder Perücken. Arbeit tat gut, lenkte ab vom Schmerz, hob mich auf eine andere Bewusstseinsebene und zwang mich, keine weiteren Gedanken an zu Hause zu verlieren. Ich stieg eine Station früher aus und ging schnurstracks zur Bank. Am Automaten brannten meine Pupillen regelrechte Löcher in den Auszug. Die Entscheidung war getroffen: kein Flug!

Wie konnte das sein? Schon wieder Ebbe? Den Gürtel musste ich enger schnallen. Nur wo sollte ich ansetzen? Ich wohnte zwar kostenlos, aber den Unterhalt des Hauses musste ich zahlen, nur fair. Tierarzt, Tierfutter, Spielzeug. Lebensmittel, Strom, Wasser, Heizung, Reparaturen, Versicherungen, Rücklagen. Ich addierte die Zahlen, sah sofort, dass die Kostenseite wesentlich höher war als die Einnahmen. Ich nagte am Kugelschreiberkopf, als wenn es ein Hähnchenschlegel wäre. Shit!

Ich sah den Bruder von Mrs. Levinson, der Besitzerin des Perückenstands, von Weitem an der Kasse. Seine Schwester hasste es, wenn er lange Finger bei den Scheinen machte. Laut ihrer Anweisung mussten wir es melden, wenn er mal wieder unangemeldet erschien und sich an den Scheinen großzügig bediente.

„Aaah, da ist ja unsere Starverkäuferin!“, raspelte er das Süßholz klein.

„Guten Tag!“, presste ich, ohne ihn bei seinem Namen zu nennen, angewidert hervor.

„Ich habe schon auf Sie gewartet, möchte Ihnen nämlich ein lukratives Angebot machen.“

Bei dem Wort lukrativ wurde ich umgehend aufmerksam und hellhörig.

„Was kann ich für Sie tun?“, antwortete ich kühl und sachlich.

„Nun, nicht so förmlich. Was halten Sie davon, wenn wir das Sie lassen und uns einfach duzen? Das Sie klingt so förmlich. Also, ich heiße Jakov Werner, nennen Sie mich Werner.“ Dabei streckte er mir seine Hand entgegen.

Ich fühlte mich überrumpelt, aber spielte mit.

„Nachdem wir so erfolgreich mit den Perücken im Markt eingeschlagen sind, wollen wir uns jetzt an Dessous wagen, denken auch an Nachtwäsche, Hausanzüge, Bademode.“ Warum kratzte er sich am Kopf, zupfte an seinem Bart? War er nervös? Die ganze Zeit beobachtete er mich, wie ich Perücken verkaufte. Heute waren es sechs Stück. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Kurz vor Ladenschluss nahm Langfinger vier Fünfziger aus der Kasse und reichte sie mir.

„Die sind für Sie. Schöne Grüße von meiner Schwester. Wir wissen Ihren Einsatz zu schätzen. Sie machen das großartig. Äh … für dich, Valentina.“

Ich stotterte meinen Dank, der begleitetet wurde von einem Unwohlsein, das sich als Grummeln im Magen äußerte.

Am nächsten Tag erwartete mich Werner mit laufendem Motor an der Ecke zum Shopping-Center. Ich stieg in sein schwammiges Wüstenschiff, grüßte ihn freundlich, aber knapp. Er strahlte mich an, streifte sich in Gigolo-Manier mit flacher Hand seitlich über sein weiß gewordenes Haar, gab mir einen galant-aufgesetzten Handkuss. Schmierfink! Irgendwie war er mir unangenehm. Sein Handkuss war sicherlich eine nette Geste, aber ich empfand ihn als schleimig.

Für sein Alter fuhr Werner ziemlich rasant auf dem Don Valley Parkway in nordwestlicher Richtung. Ich mutmaßte, seine Schwester war wohl schon vor Ort, hatte sie lange nicht mehr gesehen. Wir sprachen meist am Telefon. Werner erklärte mir das neue Projekt. Heute sollte ich mal eben für meinen Vorführeinsatz von drei Stunden schlappe vierhundert Dollar verdienen. Ein Vermögen! Der Stundenlohn war gut und würde mein Konto auf ein neues Niveau bringen. Mein Ticket rückte in greifbare Nähe. Ich freute mich, dass beide in mir ein Model sahen. Maße und Größe könnten ja stimmen. Abgemagert auf achtundfünfzig Kilo, wallende Naturlocken à la Shirley Temple. Römische Nase à la Medici. Aristokratische Haltung. Okay … ich driftete in Selbstbeweihräucherung ab, ließ es gut sein.

Werner fuhr mit Kickdown, überholte rasant andere Autos. Entweder waren wir spät oder er musste pünktlich sein. Ich konnte mir seinen aggressiven Fahrstil nicht erklären, schaute aus dem Fenster, hatte keine Ahnung, wo wir waren. Wir fuhren bereits über fünfundvierzig Minuten auf dem Highway. Nichts kam mir bekannt vor. Wahrlich eine große Stadt!

Endlich bog er ab. Wir standen vor einer Ampel, warteten. Werner erklärte, dass wir zu einem neuen Industriegebiet fuhren. Nach Kurven bog er auf ein riesiges Gelände ab. Die lange bläuliche Wellblechhalle erstreckte sich über den Großteil des Grundstücks. Die Nachbargrundstücke waren noch nicht bebaut, aber für bauliche Maßnahmen mit Seilen schon abgesteckt. Alles sah sehr neu aus. Werner hielt direkt vor der Eingangstür, öffnete die Tür mit einem dicken Schlüsselbund, den er von innen stecken ließ, schaltete das Licht direkt am Eingang ein. Der hintere Teil der Halle erhellte sich im beißenden Licht.

Ich schaute auf fahrbare Kleiderstangen, zählte sie leise. Es müssen locker dreißig Stück gewesen sein. Dicht an dicht hingen die Sachen, fein geordnet nach Größe, Farben und Einsatzmöglichkeiten. In einer Ecke standen drei große Ledersofas in U-Form. Werner schaltete die Stereoanlage ein, die auf dem weißen Sideboard thronte. Er wählte etwas Peppiges. „Ah … hier ist sie, die Queen of Soul, Aretha Franklin. Magst du sie? Ihr Rhythmus sollte zum Vorführen gut sein.“

Ich kannte sie nicht, aber ein zwei Lieder hatte ich schon gehört. Car Wash war für mich neu.

„Meinst du nicht, es ist etwas zu schnell?“

Er nickte. „Okay, dann nehme ich Gladys. Okay, Süße!“. Er klatschte in die Hände. „Schlage vor, du suchst dir etwas aus, was du gern anziehen möchtest, und dann legst du los.“ Dabei lächelte er freundlich, machte eine galante Handbewegung und beugte sich vornüber.

Mich störte, dass er mich auf einmal Süße nannte, ärgerte mich, dass ich nicht genügend Mut aufbrachte, um ihn zu korrigieren. Ich ging zu den hinteren Ständern, wählte einige Sachen aus, die ich auf einen leeren Ständer hängte, sortiert nach Farben. Ich drehte mich um, suchte mit den Augen in der Halle: keine Fenster, keine Türen.

„Wo sind die Umkleidekabinen?“, fragte ich.

„Die haben wir gestern abgebaut und an das andere Ende der Halle verlegt, weil der Boden erneuert wird. Aber bleib locker, du kannst deine Sachen hier über die Lehne der Sofas legen. Hier kommt nichts weg. Ich passe auf wie ein Luchs“, erwiderte er strahlend.

Sah ich richtig oder hatte Werner einen hochroten Kopf? Sah aus wie Bluthochdruck! Ich holte tief Luft, zog meine Schultern zurück, gab mir innerliche Anweisungen, während ich mir die Haare zum Dutt steckte: Vali, sei nicht komplizierter als erlaubt. Zieh das Ding durch, umso schneller bist du wieder zu Hause.

Werner hatte auf dem Sofa Platz genommen, die Beine übereinandergeschlagen, seinen rechten Arm auf der Sofalehne ausgestreckt. Der andere lag im Schoß: eine lässige Haltung. Sein übergeschlagenes Bein wippte nach der Melodie. Das Geld lag abgezählt, ausgebreitet wie ein Fächer auf dem Tisch.

Mit der Fernbedienung stellte er die Lautstärke lauter. Ich konnte mein eigenes Wort nicht mehr hören, stand jetzt in BH und Slip vor dem Ständer, musste innerlich lachen, wenn ich an die wollenen Liebestöter von Ella dachte, die sie Weihnachten schickte. Das wär’s doch jetzt, wenn ich die anhätte. Ich wählte einen samtweichen gelben Hausanzug. Werner zeigte wortlos auf die Pumps, die vor der Kleiderstange standen. Pumps waren nun wirklich keine geeigneten Schuhe für einen Hausanzug, aber wenn er meinte! Kaum hatte ich die Pumps übergestreift, zeigte Werner auf den roten langen Teppich, der quer durch die Halle ging, bedeutete mir mit seinen Händen, dass ich darauf auf und ab gehen sollte. Ich hasste seine Manieren, sein ungepflegtes Äußeres, seine abschätzenden Handbewegungen. Sie hatten etwas Erniedrigendes, Abwertendes.

Werner brüllte seine Worte: „Ich hole uns zur Feier des Tages Champagner aus dem Kühlschrank. Möchtest du auch einen oder etwas anderes?“

Was für eine Feier des Tages? Ich brüllte zurück: „Kein Champagner, bitte.“

Ich hasste das perlige Zeug so früh am Tag, musste davon aufstoßen, bat um Wasser. Werner stand auf, holte aus dem nahestehenden Kühlschrank Wasser und Champagner, goss die Getränke in die bereitgestellten Gläser, setzte sich wieder, schlug die Beine übereinander und sank süffisant lächelnd tief in die Couchkissen.

Ich marschierte los. Wie ein Storch im Salat. Kopf hoch, die Schultern zurückgezogen, den Bauch eingezogen, das Kreuz durchgedrückt. Das Becken nach vorn geschoben, stolzierte ich auf dem Teppich auf und ab, war mit meinem unnatürlichen stelzigen Gang zufrieden. Werner schien es auch zu sein. Ich zog mich um und das Spiel ging von vorne los. Ich zählte die Reihenfolge der Lieder, schätzte ihre Dauer, um einen zeitlichen Überblick zu bekommen. Werner saß jetzt irgendwie anders auf der Couch. Es sah aus, als notierte er sich etwas auf einem Block. Oder täuschte mich meine Wahrnehmung?

Werner bedeutete mir mit der Hand, dass ich Badeanzüge anziehen sollte. Dazu müsste ich unter dem Chiffon-Nachthemd mit passendem Mantel meinen BH ausziehen. Ich überlegte, wie ich das gekonnt und souverän gestalten könnte, ohne mich vor ihm völlig zu entblößen. Zum Umziehen musste ich in die Nähe der Couch kommen. Dann sah ich es. Völlig perplex starrte ich auf seine Bewegungen. Er schüttelte seinen Arm wie verrückt, hatte einen völlig verklärten Gesichtsausdruck. Er sah aus, als wenn es gerade geblitzt hätte. Schockiert und angewidert blieb ich stehen, sortierte, was hier vorging. Seine Schwester war nicht da. Wieso war mir das nicht gleich aufgefallen? Wir waren mit seinem Auto gekommen. Ich war abhängig. Wir waren völlig allein, irgendwo in der Prärie. Im Industriegebiet gab es sicherlich noch keine Telefonzellen.

Was machst du, wenn er dich überrumpelt? Vergewaltigt? Einsperrt oder dich zum Sterben hier liegen lässt? O Gott, wie leichtgläubig ich gewesen war! Ich erinnerte mich an einen Vortrag in der Runde bei Sabia, wie die Vortragende eine ähnlich brenzlige Situation meisterte, und fasste einen kühnen Entschluss, der von Angst gesteuert war.

„Showtime!“, herrschte ich ihn laut mit einem breiten Lächeln an.

Werner zuckte. Ich drehte mich lässig, fast anzüglich um, damit er mich von hinten sah. Theatralisch wie im Film, warf ich den farblich passenden Mantel meines tief dekolletierten Nachthemds schwungvoll über die Schultern, strahlte den Idioten wieder mit breitem Lächeln an. Er sollte sich in Sicherheit wiegen. Ich wackelte zusätzlich mit dem Po, dass selbst mir schwindlig wurde. Werner drehte durch und schüttelte weiter.

Ich suchte mit den Augen nach dem Ausgang, erkannte ihn ganz hinten, weil er mit „Exit“ gekennzeichnet war, überlegte, während ich eine forsche Dreihundertsechzig-Grad-Drehung machte, ob er den Schlüssel abgezogen hatte oder er von innen steckte? Mmh … ein Wagnis! Ich ging länger über den Teppich als vorher, nur um in die Nähe der Tür zu gelangen. Dann hatte ich Gewissheit. Uuh! … Er steckte. Mir wurde ordentlich warm. Nein, heiß! Wie war das? Angriff ist die beste Verteidigung? Attacke!

Ich kam zurück in Richtung Couch, sah, wie Werner seinen bis zur Bewusstlosigkeit geschüttelten Samen durch die Luft spritzte, erstarrte zur Säule. Wie ein lauerndes Tier sprang Werner von der Couch auf, rannte zu mir herüber, krallte sich in meinem Arm fest, schüttelte mit der anderen Hand weiter, um auch dem Rest den Rest zu geben. Ich hätte kotzen können vor Angst und Ekel, befahl mir absolute Ruhe – eine Disziplin, die unter den Umständen eine echte Herausforderung war. Ich hielt eiskalt Augenkontakt zu ihm, merkte am Nachlassen seines Händedrucks auf meinem Arm, dass er sich völlig verausgabt hatte. Erschöpft ging er zur Couch und sank nieder.

Mein Adrenalin erreichte den Höchststand. Ich grabschte pfeilschnell das Geld vom Tisch, knüllte es in meiner linken Hand, reckte mich herüber, riss meine Sachen vom Ständer. Bückte mich nach meinen Schuhen, die ich mir unter den Arm klemmte. Sprintete barfuß im wehenden Negligé den roten Teppich entlang in Richtung Ausgang. Drehte den Schlüssel, knipste das Licht aus und riss die quietschende Tür auf. Rannte wie ein Wiesel, bepackt wie ein Esel, in einem Affenzahn über den asphaltierten, von der Sonne aufgeheizten Parkplatz.

Alles in meinem Körper drehte auf Hochtouren. Nie fühlte ich eine derartige Freiheit. Ich verdoppelte den Sprint. An der Abzweigung nach links lief ich den Berg hoch, schaute kurz rechts, stockte, weil ich die Orientierung verloren hatte, entschied mich für links, betete, schrie mein Gebet in die Luft, schaute abwechselnd über meine Schulter, ob er mich schon verfolgte. Lieber Gott, bitte halt ihn zurück. Lass ihn nicht folgen, sonst bin ich hier in der Prärie verloren. Kein Baum, kein Strauch, keine Hütte oder Lastwagen. Ich schaute auf staubiges Gelände.

Bitte, bitte hilf mir. Hilf mir, diesen Scheißkerl loszuwerden. Ich werde Gutes tun. Bitte, lieber Gott, verlass mich nicht. Ich sah Molly, wie sie zittrig an ihren Nägel kaute, wie das rotumrandete Nagelbett blutete.

Mir wurde so wahnsinnig warm an den Schenkeln, an meinen Beinen. Wieso nur? Ich lief weiter – nur nicht anhalten! Das konnte den Tod bedeuten, ermahnte ich mich. Ich schrie laut um Hilfe, nur um es gleich wieder einzustellen. Es war sinnlos. Hier war weit und breit absolut niemand. In ein Auto würde ich nicht mehr so ohne Weiteres steigen, mich auch nicht mehr mit Geld ködern lassen. Es tat weh, seiner eigenen Dummheit zuzusehen. Ich erkannte meinen Fehler und war sauwütend auf mich.

Ängstlich drehte ich mich um, suchte mit den Augen etwas Öffentliches, eine U-Bahn oder einen Bus, hatte nur kurz angehalten, um das dämliche Nachthemd abzustreifen und meine Klamotten anzuziehen. Dann hielt ein Bus, ein wunderschöner, silbriger Bus. Ich war noch nie so glücklich, einen Bus zu sehen. Sein Schild informierte mich, dass er auf Betriebsfahrt war. Der Fahrer blickte irritiert zu mir herüber, als ich wild mit den Armen ruderte. Ich versuchte hüpfend, seine Aufmerksamkeit zu erregen, hoffte, dass er meinen desolaten Zustand, meine Not erkannte.

Das tat er. Bill Anderson, so stand es auf der Ausweisplakette auf dem Armaturenbrett, nahm mich mit und setzte mich an einer U-Bahn-Haltestelle ab. Ich blies ihm ein Handküsschen als Dankeschön, belohnte ihn mit meinem nettesten Lächeln. Keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen würde. Meine Erlebnisse fühlten sich völlig unrealistisch an, als wenn ich in einem Film gewesen wäre und dort mehrere Rollen und Szenen gespielt hätte.

Könnte schreien!

Könnte schreien

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