Читать книгу Der Schatten des Werwolfs - Cecilia Ventes - Страница 11
Kurzreise nach Pest-Buda
ОглавлениеSo wie jeden Morgen traf sich die Familie pünktlich um viertel vor sieben am Frühstückstisch. Orsolya hatte bereits alles vorbereitet und den Kindern sowie Dominik die Brote und Obst zum Mitnehmen an den jeweiligen Platz gestellt. Da sie zuhause geschlafen hatte, wusste sie noch nichts von dem nächtlichen Zwischenfall.
Wie gewöhnlich fuhr Ervin um halb acht mit der Kutsche vor. Dominik gelangte so zur Arbeit und die Kinder zur höheren Schule nach Esztergom. Es war noch dunkel und kalt, aber es hatte nicht neu geschneit und so waren die Wege mit der Kutsche weiterhin gut befahrbar. Als Máriska ihren Mann und die Kinder draußen auf der Treppe verabschiedete, lief Máté schnell in die Küche.
„Orsolya, wie komme ich am schnellsten nach Pest-Buda?“
Die Haushälterin sah ihn erschrocken an und fragte:
„Was willst du denn da? Du willst doch nicht schon wieder abreisen?“
„Nein, ja doch, aber nur geschäftlich. Wie komme ich am schnellsten hin und möglichst heute wieder zurück?“
Máriska war unbemerkt in die Küche gekommen und richtete ihre Augen traurig auf ihren Bruder.
„Mit der Kutsche nach Esztergom und dann weiter mit dem Zug nach Pest-Buda. Eine schnellere Möglichkeit gibt es nicht. Du hättest eben mitfahren können. Was ist denn los?“
Aufmunternd erwiderte er ihren Blick und beteuerte:
„Mir ist da eine Idee gekommen und wenn du magst, kannst du gerne mitfahren.“
„Ich dachte, wir wollten uns heute unterhalten. In Ruhe und ganz allein“, befand sie enttäuscht.
„Das machen wir. Ich verspreche es dir, aber gerade deshalb muss ich vorher noch etwas erledigen, damit ich meinen Kopf frei habe“, sprach er tröstend.
Máriska blieb nichts anderes übrig, als es so hinzunehmen. Máté war derweil in seinem Zimmer verschwunden und tauchte erst wieder auf, als Ervin mit der Kutsche zurückkam. Somit konnte dieser gleich wieder drehen und den jungen Herrn zur Kreisstadt fahren. Dort gab der Reisende ein Telegramm auf und fuhr mit dem nächsten Zug nach Pest-Buda.
András Horvát saß im Kaffeehaus und las die Zeitung. Beim Umblättern blickte er hier und da über den Rand, um zu sehen, was sich auf den Straßen von Pest-Buda so abspielte. Er war etwa im gleichen Alter wie Máté. Allerdings war sein Teint etwas dunkler als der seines Freundes und die Gesichtszüge sehr markant männlich. Seine nach hinten gekämmten, tiefschwarzen, gewellten Haare und die skeptisch blickenden tiefbraunen Augen ließen ihn nicht auf Anhieb sympathisch wirken, sondern hatten etwas Beunruhigendes und gleichzeitig Respekteinflößendes. Seine großen Koteletten machten sein Gesicht hager. Er strich mit Daumen und Zeigefinger an seinem langen Schnurbart entlang. Endlich trat Máté ein. Hektisch hing er seinen Mantel und den Hut an die Garderobe. Ohne zu warten, bis jemand auf ihn zukam und ihn zu einem Tisch leitete, bestellte er gleich am Tresen der Kuchentheke einen Kaffee und stürzte dann förmlich auf seinen Bekannten zu. Als sich beide Männer gegenübersaßen und András in seiner Melange rührte, blickte dieser seinen Freund erwartungsvoll an.
„Ich brauche deine Hilfe, András. Nur noch einmal“, flüsterte Máté aufgebracht.
„Wieso habe ich das geahnt?“, stellte dieser, wenig verwundert, mit seiner tiefen Stimme unhöflich fest.
Empört konterte Máté:
„Wieso so vorwurfsvoll? Es geht immerhin um mein Leben, nicht um deins. Und nicht nur um meins, sondern auch …“
Sein Gegenüber beugte sich etwas über den Tisch und sprach:
„Auch um meins! Ich bin dein Freund. Schon seit Jahren. Ich sehe, wie du dich quälst, wie du leidest, wie dein Leben bisher fern des normalen Lebensstroms abläuft. Immer auf Rückzug bedacht, immer im Dunkeln, keine Frau beständig an deiner Seite, keine Freunde und immer auf der Flucht vor dir selbst. Glaubst du, mir macht das Spaß, dich so zu sehen und immer Angst haben zu müssen, dass du dir oder jemand anderem irgendwann etwas antun könntest? Das ist jetzt deine Chance, Máté. Du wolltest ein neues Leben und wir wissen jetzt, wie es gehen kann. Also, was hält dich nach so vielen Jahren Leid davon ab, den geplanten Weg zu Ende zu gehen? Das ist es doch, weshalb du dich mit mir treffen wolltest, oder?“
Die Bedienung brachte ein Kännchen Kaffee und goss ihn ein. Máté legte seine Hände an die wärmende Tasse.
„Ich benötige noch etwas Zeit. Nur ein bisschen, ich will sie einfach besser kennenlernen.“
„Wieso?“, keifte András und fuhr im gleichen Atemzug fort:
„Das macht es doch nur noch schlimmer. Du kannst dir jetzt kein Mitgefühl leisten, denk an ein befreites Leben. Es steht dir nach so langer Zeit zu.“
„Herr Gott, es ist meine Familie. Ich habe ein Gewissen“, schleuderte er seinem Freund bissig, aber leise entgegen.
„Das sagst du! Jahrelang hast du sie nicht treffen wollen. Hast dich zurückgezogen und nur auf Drängen deiner Schwester auf Briefe geantwortet – und jetzt? Jetzt ist es plötzlich deine Familie?“ András Augen spiegelten Unverständnis.
„Es war schon immer meine Familie, und warum ich sie nicht treffen wollte, weißt du nur zu gut. Der Grund, weshalb ich jetzt hingereist bin, ist … eher verwerflich“, befand Máté traurig und rührte seinen Kaffee um.
Nach einer kurzen Pause legte András seine Zeitung zur Seite, rückte seinen Stuhl näher an den Tisch und erklärte in ruhigem Tonfall:
„Wie stellst du dir das vor? Soll ich dich hier in Pest-Buda irgendwo in einen Keller sperren? Dich mit Seilen an irgendwelche Bretter binden? Wir haben deine Fesseln extra herstellen lassen, damit du dich nicht befreien kannst und sie mit dir mitwachsen, um dir nicht die Hände, Füße oder den Hals abzuquetschen. Selbst wenn ich es schaffen würde, dich irgendwo zu befestigen, ist dein Brüllen und Heulen so unbändig, dass es die ganze Stadt wecken würde. Soll ich irgendwo einen dunklen Keller anmieten und zusehen, wie du Seile oder Ketten entzweist als wenn es Seidenfäden wären? Máté, du hast unbändige Kräfte, du reißt mit deinen Krallen und Zähnen alles auseinander. Ich habe es schon gesehen. Ich nehme nicht umsonst Reißaus, nachdem ich dich angekettet habe.“
„Wir fahren nach Hause und brechen alles ab. Ich weiß selbst nicht, wieso ich mich darauf eingelassen habe. Wer sagt, dass es überhaupt funktioniert? Ich weiß nicht mal, was ich überhaupt mache, wenn ich von dem Fluch heimgesucht werde. Was, wenn ich mich dann dem verweigere, was nötig wäre?“
András atmete tief durch und stierte seinen Freund an.
„Wir haben das alles schon tausendmal durchgesprochen. Entweder du willst deine Freiheit oder nicht. Du kannst dich von deinem Fluch freikaufen, aber nur, wenn du auch bereit bist, den Preis dafür zu bezahlen. Niemand weiß, ob das teuflische Geschäft wirklich funktionieren wird, aber es ist deine einzige Chance. Immerhin bin ich an deiner Seite, um dir dabei zu helfen. Du willst sie nicht erst kennenlernen, du hast ein anderes Problem, mein Freund. Du magst sie alle jetzt schon. Stimmt´s? Es ist anders, als du es dir vorgestellt hattest, richtig? Deine Schwester, die Haushälterin, die beiden Kinder … es ist ein bisschen wie früher, das gleiche gute Essen, eine Familie … Wäre da nicht der etwas störende Ehemann. Wenn du noch einen Tag länger bleibst, würdest du ihr wahrscheinlich von deinem wahren Leid erzählen.“
„Was wäre daran so schlimm? Vielleicht wäre es sogar das Beste.“
Mit einem lauten „Nein“, schlug sein Vertrauter mit der Faust auf den Tisch. Die Anwesenden im Kaffeehaus erschraken sich kurz, sahen irritiert zu den beiden Männern und vertieften sich dann wieder in ihre Gespräche.
András schüttelte den Kopf und versuchte, seinen Gefühlsausbruch wieder zu bändigen. Mit eindringlichem Blick flüsterte er:
„Wen hast du gedacht, triffst du dort an? Bestien? Deine Schwester hat sich immer um dich bemüht, und ich habe dir gesagt ‚Keinen Briefkontakt‘, weil ich wusste, dass es dich eines Tages in Schwierigkeiten bringen würde. Diese Geschenke, die vielen teuren Geschenke, die dein Gewissen rein kaufen sollen, hättest du dir sparen können. Ich hatte dich davor gewarnt. Es wäre das Beste gewesen, niemanden von ihnen kennen zu lernen. Nimm dir jetzt, was dir zusteht! Immerhin würde auch ich mir wünschen, einen weniger gefährlichen Freund an meiner Seite zu haben. Du hast noch genau Zeit bis morgen Abend, Máté. Dann ist es wieder soweit und ich werde in deiner Nähe sein, um unseren Plan mit dir durchzuführen. Wenn du es dir anders überlegen solltest, dann schicke mir ein Telegramm und ich werde abreisen. Aber dann erwarte zukünftig keine Hilfe mehr von mir, sondern suche dir einen anderen Getreuen, der an den besagten Tagen für dich die Gefahr eingeht, von dir zerrissen zu werden. Höre ich nichts von dir, bin ich morgen Abend da.“
Er stand auf und legte Geld für die Rechnung auf den Tisch.
Erschrocken sah Máté ihn an und ergriff verzweifelt sein Handgelenk.
„Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen, nur weil ich vielleicht meine Meinung ändere. Ich möchte einfach nur noch etwas Zeit und dafür brauche ich dich. Das weißt du auch. András, bitte.“
András zog seine Hand weg, drehte sich wortlos um und ließ sich seinen Mantel sowie den Hut bringen. Bevor er die Lokalität verließ, wendete er sich noch einmal seinem Freund zu.
„Wir sehen uns hoffentlich morgen Abend.“