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Die Ankunft

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Aus dem Fenster der Kutsche blickend, verfingen sich seine Gedanken in den vorbeiziehenden Bildern der Vergangenheit. Der aufgewirbelte Schnee der Kutschenräder, der Geruch der heimatlichen Luft und der Anblick der vertrauten Natur weckten Erinnerungen an seine Kindheit, die Familie, die Nachbarn und ließen das Gefühl von Geborgenheit in ihm aufkommen. Aber er spürte auch Angst vor dem stärker werdenden Heimatgefühl, das sich sowohl in eine schöne, aber auch schmerzliche Melancholie verwandelte.

„Ich sehe eine Kutsche. Er kommt! Er kommt!“, rief Máriska aus Leibeskräften durchs Haus.

Hastig lief sie vom Wohnzimmer zur Haustür und riss diese freudig auf. Rechtzeitig, bevor es dunkel wurde, fuhr die Droschke endlich in den Hof ein. Máté schaute vorsichtig aus dem Fenster, während er die Baumallee bewunderte, durch die sie trabten. Das Gefährt nahm eine ausladende Kurve und so konnte er rasch seinen Blick über das restliche Grundstück schweifen lassen. Das dreistöckige weiße Herrscherhaus mit kleinen Erkern an den Außenzimmern und prunkvollem Treppenaufgang thronte förmlich am Ende des Anwesens. Es war prachtvoller gebaut als es für eine Familie, die aus dem Kleinadel stammte, üblich war. Die großzügige Aufgangstreppe erhob sich über den gemauerten Bereich, wo die Kriechkeller untergebracht waren. Links, etwas abseits des Hauses, befand sich ein gemauerter Pferdestall.

Die Kinder sprangen die Stufen im Hausgang herab und stellten sich sogleich neben ihre Mutter, die bereits vor dem Gebäude auf der letzten Treppe stand. Aufgeregt wischte sich Máriska unauffällig ihre zittrigen und feuchten Hände an ihrem Rock ab. Der Hausherr schritt langsam mit einer beschwichtigenden Handbewegung vor seine Familie, um als erster den Gast begrüßen zu können. Orsolya zog, eilig aus der Küche kommend, den fünfundvierzig Jahre alten Haushelfer Ervin Abonyi hinter sich her. Keinesfalls wollte sie die Ankunft des jungen Herrn verpassen. Ervin stopfte sich, während er lief, noch die restliche Griebenpogatsche in den Mund, die er eigentlich in Ruhe, noch vor seinem Feierabend, hatte essen wollen. Er war ein gemütlicher Geselle. Nichts brachte den kräftigen, wortkargen Mann aus der Ruhe. Beide Angestellten platzierten sich oben an der Haustür.

Die Räder der Kutsche gelangten zum Stehen. Máté hörte sein Herz aufgeregt schlagen; dennoch bemühte er sich beim Aussteigen, einen gelassenen Eindruck zu machen.

Er trug einen Zylinder und hatte einen sehr edlen schwarzen Mantel an. Der gutaussehende und stolz wirkende Mann zog seine Kopfbedeckung ab und verneigte sich vor der Familie. Der Besucher war eine eigentümliche Erscheinung. Nicht unsympathisch, denn seine strahlend blauen Augen wirkten gütig, aber darin spiegelte sich auch eine befremdliche Tiefgründigkeit. Die etwas längeren, nach hinten gekämmten, dunklen Haare ließen ihn verwegen wirken. Herzlich und doch auf seltsame Weise distanziert lächelte er und löste, ohne es zu wollen, Faszination bei den Umherstehenden aus. Máriskas Freude raubte ihr die Fähigkeit zu sprechen, und so starrte sie ihren Bruder nur bewundernd an. Máté bemerkte dies und blickte mit einem verschmitzten Lächeln beschämt zu Boden. Dominik setzte gerade zur Begrüßung an, da ertönte ein lauter und gellender Freudenschrei. Orsolya tippelte so schnell sie konnte die Treppe herunter und fiel dem jungen Herrn weinend vor Freude in die Arme.

„Ich halte das nicht aus. Ich muss Sie umarmen, junger Herr. Ich habe Sie so viele Jahre nicht gesehen. Ich bin so glücklich, ich bin so glücklich.“

Beherzt zog sie ihn an sich und drückte ihn fest. Er erwiderte freudig die Geste und ließ die vielen Küsse der stämmigen Frau gerne über sich ergehen.

„Orsolya, immer noch so temperamentvoll und herzlich wie damals“, stellte er mit seiner angenehmen Stimme vergnügt fest.

Aufgeregt schob sie ihren verrutschten Haarkranz zurecht und bückte sich nach dem Zylinder, der dem jungen Herrn bei der überfallartigen Begrüßung aus der Hand gefallen war.

Máté gab ihr einen Handkuss.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals in förmlicher Weise angesprochen haben. Ich denke nicht, dass wir das jetzt einführen sollten, Orsolya, oder?“

„Du darfst dich wieder in die Küche scheren, Orsolya!“, unterbrach der Graf diese überschwängliche Glückseligkeit.

Die Haushälterin überhörte dies geflissentlich. Sie packte den Besucher am Ärmel und führte ihn direkt zu Máriska, um seine Hände in ihre zu legen.

„Das ist deine Schwester, junger Herr. Erkennst du sie wieder? Ist sie nicht eine hübsche Dame geworden?“, fragte die kleine Frau in einem sanften Tonfall und zog die Gräfin von der letzten Stufe auf den Boden.

Die Geschwister sahen sich an, und endlich schien der Bann der Zurückhaltung gebrochen. Máté küsste seine Schwester und beide umarmten sich so innig, als wenn sie sich nie wieder loslassen wollten.

Zufrieden lächelnd, klopfte die Haushälterin den Schnee vom Zylinder, den sie im Arm hielt, und fügte träumerisch hinzu:

„So, wie aus dir ein stattlicher Mann geworden ist. Ach ja, und es ist doch irgendwie wie früher, oder? Ich erinnere mich noch genau, wie ich dich …“

Mit einem Räuspern unterbrach Dominik den Redefluss seiner Hausdame. Er schäumte innerlich vor Wut. Diese mollige Haushälterin hatte sich einfach undiszipliniert vorgedrängelt und seine Stellung in diesem Haus missachtet. Aber seine Erziehung ließ ihn sein gutes Benehmen nicht vergessen. So schmunzelte er, wenn auch gequält, als Orsolya winkend an ihm vorbeilief und säuselte:

„Den Zylinder hänge ich schon mal auf und gehe natürlich auch sofort in die Küche, damit wir pünktlich das Essen auf dem Tisch haben, nicht wahr, Herr Graf?“

Die beiden Jugendlichen verkniffen sich ihr Lachen über Orsolyas Verhalten. Die alte Dame zwinkerte ihnen zu und zeigte unauffällig auf das andere Geschwisterpaar, das sich immer noch umarmte.

„Genau wie ihr zwei, wenn ihr euch gerade mal wieder leiden könnt“, flüsterte sie glücklich, doch erschreckte dann fürchterlich mit Dominiks ungehaltenem Ausruf:

„Küche!“

„Ist ja gut!“, kollerte sie zurück und verschwand.

Der Hausherr fand, dass dies nun der richtige Moment war, um sich für seine Begrüßungsworte Gehör zu verschaffen. Er streckte dem Angekommenen die Hand entgegen.

„Ich heiße Sie herzlich willkommen, Herr Schwager, und freue mich sehr, dass unsere Wege sich endlich kreuzen. Treten Sie ein, ich lasse Ihr Gepäck sofort auf das Zimmer bringen und stelle Ihnen meine Familie und die Bediensteten vor. Vielleicht machen wir das besser im Haus, es ist hier doch etwas kühl. Orsolya kennen Sie ja bereits, insofern kann ich mir diese Bekanntmachung schon sparen. Schlechtes Personal bekommt man halt vererbt, das Gute kann man sich selbst aussuchen.“

Niemand kommentierte seine Bemerkung, sondern man ging höflich darüber hinweg. Nur Bianká flüsterte ihrem Bruder zu:

„Hoffentlich hat sie das jetzt nicht gehört, sonst ist Papas Suppe heute Abend versalzen.“

Die Männer begrüßten sich freundlich, und die Familie begab sich in das Haus. Dominik ergriff die Hand seiner Frau und zog sie näher zu sich, als er seinem Schwager die Anwesenden vorstellte. Bianká fand ihren Onkel sehr interessant, aber aufgrund ihrer Schüchternheit traute sie sich gar nicht, ihn richtig bei ihrem Begrüßungsknicks anzusehen. Bálint verneigte sich vor seinem Onkel und gab ihm ebenfalls die Hand.

Der Kutscher war derweil vom Bock geklettert und begann die Koffer und das restliche Gepäck aus der Kutsche zu laden. Sein Gesicht war kaum zwischen seiner tiefsitzenden Mütze, dem Schal und dem hochgestellten Kragen seines dicken – zu großen – Mantels zu erkennen. Unauffällig hatte er die Familie die ganze Zeit beobachtet. Ervin nahm von ihm gerade einen Koffer auf der Treppe entgegen, als Máriska plötzlich wieder im Türrahmen stand.

„Möchten Sie nicht hereinkommen? Sie können sich gerne aufwärmen und etwas essen und trinken.“

Der Kutscher erschrak und drehte sich sogleich mit einem Kopfschütteln von ihr weg, um einen weiteren Koffer anzureichen.

Freundlich wandte sie sich ihm noch einmal zu.

„Aber Sie können wirklich gerne …“

„Lass ihn“, ertönte die Stimme ihres Bruders.

Er nahm seine Schwester an der Hand.

„Er übernachtet im Gasthaus und fährt dann morgen wieder zurück. Für ihn ist gesorgt. Er hat mich schon des Öfteren begleitet, deshalb weiß ich, dass er eher in Gesellschaft befangen ist und das Alleinsein vorzieht.“

„Auf Wiedersehen! Kommen Sie gut nach Hause. Gott möge Sie beschützen“, rief Máriska winkend dem Fuhrmann noch zu, bevor ihr Bruder sie in das Haus zog.

Der seltsame Kutscher verneigte sich dankend, ohne dabei aufzusehen. Ervin begutachtete die vier Koffer und die zwei Taschen, die er schon an die Tür getragen hatte.

„Was hat der junge Herr bloß in diesem einen Koffer, der ist ja schwer wie Blei“, richtete er die Frage an den Kutscher. Unverhofft stand Máté im Türrahmen und erwiderte:

„Ich helfe Ihnen nachher. Jetzt stellen wir meine Sachen vielleicht erst einmal im Gang ab.“

Beide Männer hievten das Reisegepäck in den Flur. Der Droschkenfahrer entfernte sich still und kletterte auf seinen Sitz. Genau in dem Moment, als Máté die Eingangstür eilig schließen wollte, traf sein Blick durch den Türspalt auf den des Kutschers, der ihn eindringlich und fordernd ansah. Máriskas Bruder verharrte kurz, bevor er sich abwendete und die Haustür ins Schloss fallen ließ. Er wartete den Peitschenknall ab, mit dem sich die Kutsche in Bewegung setzte. Dann atmete er tief durch.

Der Schatten des Werwolfs

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