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Der erste Abend

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Wie gewünscht, hatte die Familie pünktlich zu Abend gegessen. Die Teller waren leer und die Stimmung ausgelassen. Dominik mied Themen zur aktuellen politischen Lage oder der Familiengeschichte der Márusis. Man beschränkte sich auf Erinnerungen von früher, den Träumen und Plänen der beiden Kinder sowie amüsante Geschichten aus der Stadt Wien. Das Kaminfeuer knisterte vor sich hin und strahlte eine wohlige Wärme im Wohnzimmer aus. Üblicherweise wurde im Esszimmer gegessen, aber heute, an diesem besonderen Tag, hatte der Graf gewünscht hier zu speisen. Das Zimmer war größer und mit herrlichen, verzierten Möbeln bestückt. Besonders fielen der Schrank mit Büchern und eine Vitrine mit kunstvoll gearbeiteten Porzellanfiguren an der Längsseite des Zimmers gegenüber dem Kamin, auf. Die Tafel war aufwendig mit dem schönsten Geschirr gedeckt worden.

Bianká beobachtete ihren Onkel. Sie hing förmlich an seinen Lippen, wenn er Geschichten aus der Hauptstadt Wien erzählte. Auf Fragen von ihm antwortete sie nur verhalten. Ihr Bruder Bálint hingegen löcherte den Besucher mit Fragen zu dessen beruflichen Geschäften, dem Leben in Wien und vor allen Dingen dem Nachtleben und den Theatern. Dominik gab sich Mühe, seinem Schwager unvoreingenommen zuzuhören. Trotzdem entging ihm nicht, dass Máté hin und wieder in eine Art Nachdenklichkeit verfiel und dabei die Anwesenden auf seltsame Weise beobachtete.

Orsolya kam ins Wohnzimmer und war erfreut, die leeren Teller zu erblicken. Glücklich grinste sie in die Runde.

„Ich sehe, es hat allen geschmeckt. Wenn es recht ist, würde ich abräumen und nach einer kleinen Pause den Nachtisch bringen.“

Doch bevor sie einen Teller anfassen konnte, sprang der junge Herr auf und setzte sie auf seinen Stuhl.

„Ich bin gleich wieder da“, rief er in die Runde, während er aus dem Zimmer huschte. Die Anwesenden schauten ihm verwundert nach. Gleich darauf schleppte er einen großen Lederkoffer herein und stellte diesen ab. Er wandte seinen Blick zu seiner Schwester und fing, sichtlich bewegt, an zu reden:

„Ich habe lange über die Worte nachgedacht, die ich nach meiner Ankunft sagen werde und habe eine kleine Dankesrede verfasst, weil ich überhaupt empfangen und nach dieser langen Zeit, ohne nähere Erklärungen, kommen durfte. Aber ich muss gestehen, dass mein erster Besuch nach zwanzig Jahren und das erste Aufeinandertreffen mit euch allen und Ihnen, Herr Graf, sich ganz anders dargestellt und angefühlt hat, als die Möglichkeiten, die ich in meinem Kopf durchgespielt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es nach so vielen Jahren nicht doch etwas gibt, das uns trennt. Das machte mir Angst. Aber jetzt bin ich glücklich, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Ich kann nur Danke sagen für den herzlichen und warmen Empfang. Danke, für die Gastfreundschaft und die Erlaubnis, Graf Dominik, hier sein zu dürfen. Ich weiß, dass gerade Sie mir sehr skeptisch gegenüberstehen. Ich kann nur hoffen, …“

Máté schaute in diesem Moment zum Hausherrn und nahm selbst das Zittern in seiner Stimme wahr.

„… dass ich Sie als Schwager nicht enttäuschen werde. Es ist schön, wieder im Kreise der Familie zu sein.“

Dominik hob sein Glas und prostete:

„Auf die Familie, lieber Máté. Ich denke, an dieser Stelle sollten auch wir beide auf eine vertraute Ansprache wechseln und uns beim Vornamen nennen dürfen.“

„Gerne, verehrter Schwager.“

Máriska schenkte auch Orsolya ein Glas Wein ein und die gesamte Familie stieß an.

„Ich habe für jeden ein kleines Geschenk mitgebracht“, kündigte der Besucher an und stellte hurtig sein Glas auf dem Tisch ab.

Er bückte sich, um den am Boden stehenden Koffer zu öffnen. Dominik überreichte er, fast unterwürfig, eine Flasche Wein und ein paar gute Zigarren sowie eine wertvoll gearbeitete Gürtelschnalle. Der Hausherr kommentierte dies wortlos durch das anerkennende Hochziehen seiner Augenbraue und einem Schmunzeln.

„Eine sehr gute Wahl, Schwager. Ich fühle mich geehrt. Vielen Dank.“

Dann griff Máté wieder in den Koffer und kniete sich vor Bianká. Er legte ihr zwei Stücke Haarseife in die Hände, die einen besonderen Duft verströmten und eine große Schatulle auf ihren Schoß. Bedächtig streichelte er über ihre schönen, langen Haare.

„Deine Mutter hat mir geschrieben, dass du wunderschöne Haare hast, die du gerne frisierst und in besonderem Maße pflegst. Das ist für dich, liebe Nichte.“

Verschämt roch sie mit einem Lächeln an den Seifen. Unsicher sah sie zu ihrem Vater, der ihr ermunternd zunickte und somit signalisierte, das Geschenk annehmen zu dürfen. Sie legte vorsichtig die Seife zur Seite und öffnete die wunderschöne Schatulle. Diese enthielt einen vergoldeten Kamm mit wertvollen Verzierungen, eine ebenso mit Edelsteinen verzierte Haarbürste, passend dazu zwei Steckkämme und einen Reif für die Haare. Die Augen seiner Nichte strahlten. Sie strich mit ihren Händen über die funkelnden Accessoires. Überrascht über den wertvollen Inhalt, starrten alle wortlos auf die Schatulle.

„Aber lieber Onkel, das ist doch viel zu kostbar für mich. Das hat Sie doch ein Vermögen gekostet.“

Er hielt einen Finger vor ihren Mund und sprach:

„Es kommt von Herzen und allein das ist wichtig. Ich hoffe, es gefällt dir.“

„Es ist wunderschön“, hauchte sie gerührt.

„Es ist vergoldetes Silber mit echten Steinen. Es wird dir sehr gut stehen. Solltest du, warum auch immer, einmal in Not geraten, kannst du es verkaufen. Oder irgendwann an deine Kinder weitergeben. Ich war so viele Jahre weg. Ich habe etwas gutzumachen.“

Sie fiel, ungeachtet ihrer üblichen Zurückhaltung, ihrem Onkel um den Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er erwiderte die Umarmung und blickte seine Nichte entzückt an. Biankás Gesichtszüge erinnerten ihn sehr an die seiner Mutter Boglarká, als sie noch jung gewesen war. Bálint war erheitert über die Reaktion seiner Schwester und mimte, wie sie ihre Haare demnächst kämmen würde. Máriska schubste ihn mit dem Zeigefinger an. Ihr Blick forderte ihn klar auf, dies gefälligst zu unterlassen.

„Jetzt bist du dran, mein lieber Neffe.“

Er zog ein Paar Reitstiefel und eine Kassette aus dem Koffer.

„Über dich habe ich gehört, dass du ein ausgezeichneter Reiter bist und schon viele Preise gewonnen hast. Nicht nur, dass deine alten Stiefel abgetragen sind, laut deiner Mutter dürften sie auch etwas eng geworden sein.“

Er hielt dem jungen Mann die Reitstiefel entgegen, der diese mit freudigem Blick entgegennahm.

Die Stiefel waren aus feinem Leder gearbeitet und hatten an der Seite Riemen mit Metallverzierungen. Dann übergab ihm sein Onkel die Schatulle.

„Ruhig Blut, es ist kein Haarschmuck.“

Der Neffe lachte.

„Hu, da bin ich aber beruhigt.“

In der Kassette war ein Schreibset aus Ebenholz und vergoldeten Metallteilen. Es bestand aus einem Brieföffner, verschiedenen Federn und einem Tintenfässchen. Auch Wachs und ein Siegel mit den Initialen von Bálint Utazási lagen im Inneren. Máté klopfte ihm auf die Schulter und meinte:

„Du bist ehrgeizig und wissbegierig. Schreibe und lerne, soviel du nur kannst.“

Bálint war überwältigt, bedankte sich und umarmte seinen Onkel voller Freude.

Dann wendete sich dieser mit einem tiefen Seufzer an Orsolya.

„Ich weiß, dass du sehr bescheiden bist und es vieles gibt, das man dir schenken könnte. Du würdest es dankend annehmen, aber es würde dich nicht wirklich glücklich machen. Also habe ich gegrübelt und mir gedacht, ich schenke dir etwas von sehr ideellem Wert, das du auch nutzen kannst und mit dem du etwas verbindest. Ich hoffe, es ist in deinem Sinne.“

„Oh, du hast auch an mich gedacht, junger Herr? Das wäre nicht nötig gewesen. Mir ist das wirklich unangenehm“, äußerte sich die Haushälterin beschämt.

Dominik nippte an seinem Glas und konnte sich einen zynischen Kommentar nicht verkneifen.

„Das stimmt. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen.“

Máté ignorierte die Bemerkung und zog fünf wunderschöne Kleider aus dem großen Koffer. Diese breitete er liebevoll über den freien Stühlen am Tisch aus. Alle waren sehr fein gearbeitet und mit Spitzen verziert. Drei von ihnen stachen durch eine besondere Eleganz hervor, die anderen zwei waren ebenso hochwertig gewebt, aber traditionell geschnitten und eher für den Alltag gedacht.

„Sie gehörten einst unserer Mutter. Ich habe ein paar ihrer schönsten Kleider aus Sentimentalität aufgehoben. Die anderen habe ich verschenkt.“

Orsolya war gerührt und wischte sich die Tränen von der Wange.

„Boglarká war viel schlanker als ich. Ich befürchte, die Kleider werden mir gar nicht passen“, schluchzte sie.

„Mama hatte in den letzten Jahren etwas an Fülle zugelegt. Du kannst dir sicher sein, dass ich die Kleider nicht mitgebracht hätte, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass sie passen würden.“

Orsolya kämpfte gegen ihre Gerührtheit an, aber verlor. Ungehindert brach sie in Tränen aus und fiel dem jungen Herrn in die Arme.

„Jetzt geht das wieder los“, brummte der Graf.

„Bitte, Dominik. Es gibt Menschen, die sind sensibel“, forderte Máriska ihren Mann zur Zurückhaltung auf.

„Ja, genau. Ich bin sensibel, und mir ist das peinlich, wenn jemand so nett zu mir ist“, jammerte die Haushälterin in einem herzzerreißenden Tonfall.

Máté fühlte sich unbeholfen und wusste so gar nicht, wie er die alte Dame wieder freudig stimmen konnte. Nun erinnerte er sich wieder daran, dass Orsolya schon immer sehr mitfühlend und nah am Wasser gebaut war. So streichelte er ihren Arm, während er sein Taschentuch reichte.

„Orsolya, beruhige dich doch. Ich wollte dir doch nur eine Freude machen. So bringst du mich ganz in Verlegenheit.“

Wieder weinte sie, schnäuzte und klammerte sich an Máté.

„Ich freue mich doch. Ich freue mich sogar sehr …Vielen Dank. Ich bin nur so gerührt. Diese Kleider sind so wunderschön, und dass ich sie nun tragen darf, ehrt mich sehr.“

Dominik bemerkte mit einem garstigen Lachen:

„Wenn sie für jede Träne, die sie in diesem Haus schon vergossen hat, ein Gramm abgenommen hätte, könnte sie vor Leichtigkeit an der Zimmerdecke herumfliegen.“

Schlagartig verstummte die Haushälterin und setzte sich aufrecht auf den Stuhl, tupfte sich stolz ihre Tränen weg und schwieg. Sie schluchzte noch einmal und erklärte beleidigt:

„So wird man in diesem Haus gezwungen, seine wahren Gefühle zu unterdrücken.“

„Geht’s denn jetzt wieder?“, wollte der junge Herr wissen.

Die Getroffene nickte wehleidig. Bianká tätschelte ihre Hand und hielt sie tröstend fest.

Jetzt waren alle gespannt, was Máté für Máriska mitgebracht hatte. Er überreichte seiner Schwester eine große Schmuckschatulle und legte dann mehrere Stapel Briefe, die mit Stoffschleifen zusammengebunden waren, auf den Tisch. Die Gräfin ahnte, um welche Briefe es sich handelte und um welchen Schmuck. Bedächtig strich sie über die Sachen. Bedrückt sprach er:

„Ich hätte sie dir schon viel früher geben sollen. Es sind die Nachrichten von unserem Vater an unsere Mutter. Ich kenne sie alle auswendig. Vielleicht darf ich die Zeilen von unserer Mama an unseren Papa auch einmal lesen?“

Máriska nickte und fasste seine Finger.

„Selbstverständlich darfst du das. Denn auch ich habe alle aufgehoben, die ich fand, und in eine Schatulle gelegt.“

Er führte ihre Hand an den Schmuckkasten und öffnete ihn gemeinsam mit ihr.

„Ich habe nichts herausgenommen. Und tragen werde ich ihn mit Sicherheit auch nicht. Mama hat ihn mir zu Lebzeiten geschenkt, weil sie dachte, ich benötige ihn eines Tages, um den Inhalt zu Geld zu machen. Nie wurden Teile dafür gebraucht, deshalb sollen die Schmuckstücke dir gehören“, äußerte er sanft.

Máriskas Blick glitt über die wertvollen Ketten, Ringe, Ohrringe und Broschen.

„Das ist alles wunderschön – ein Vermögen. Woher hatte Mama so viel Geld? Von wem hat sie den Schmuck denn bekommen?“, fragte seine Schwester besorgt.

„Ein paar Erbstücke von unseren Großeltern, ein paar Dinge von unserem Vater, aber das meiste von mir, als ich es mir leisten konnte. Wir haben auch schlechte Zeiten gesehen und es gab Probleme, die verhinderten, meine Geschäfte so zu führen, wie es erforderlich gewesen wäre. Aber wie gesagt, ich brauche diese Sicherheit nicht mehr und will diese Erinnerungsstücke für solche Zwecke auch nicht nutzen. Es soll alles dir gehören.“

Orsolya gluckste und schluckte ihre Betroffenheit hinunter.

„Na also, es geht doch“, murmelte der Graf mit einem Grinsen, ohne zu Orsolya zu schauen. Máriska sah ihren Bruder an und umarmte ihn fest.

„Danke! Ich werde auf diesen Schatz achtgeben und ihn als Rückhalt für Krisenzeiten ansehen. Er gehört uns beiden.“

„Nein, es ist ein Geschenk für dich und deine Familie.“

Dominik begutachtete die auf dem Tisch liegenden Sachen und machte sich seine eigenen Gedanken darüber.

Die Gräfin klatschte auf einmal in die Hände.

„So, wegräumen, wir haben noch Nachtisch, der auf uns wartet.“

Sie stellte die Schatulle behutsam auf ein Schränkchen und legte die Briefe darauf. Bianká faltete mit Orsolya die Kleider wieder zusammen und trug diese in das Zimmer der Haushälterin. Auch Bálint räumte seine Geschenke weg.

Die Familie gestaltete sich einen angenehmen Abend. Máriska war klug genug, mit ihren Fragen bis zum nächsten Tag zu warten, wenn die Kinder in der Schule und Dominik bei der Arbeit waren. Als der Hausherr mit seiner Gattin und seinem Schwager endlich allein war, brannte ihm jedoch eine Frage unter den Fingernägeln.

„Jetzt wo die Kinder und die schreckhafte Orsolya im Bett sind, möchte ich dich noch etwas fragen. Du wohnst in Wien. Ich habe gehört, dort soll ein Irrer sein Unwesen treiben. Wieso schafft die Polizei es nicht, diesen Menschen zu fassen? Weißt du da mehr drüber? Seit Jahren geht das nun schon so, dass er auftaucht, wieder für längere Zeit verschwindet, dann wieder in Erscheinung tritt … und niemand kann ihn fassen. Wie ist so etwas möglich? Ist doch eine eigenartige Geschichte.“

Máté zuckte mit den Schultern.

„Ich habe auch davon gehört, und die Zeitungen sind hin und wieder voll davon. Dieser Mörder ist schon lange in der Gegend von Wien unterwegs, aber es gibt sehr viele Nachahmer, sodass nicht immer klar ist, ob es sich um die ein und dieselbe Person handelt, die ihr Unwesen treibt. Die Redakteure machen aus diesen traurigen Ereignissen phantasievolle Geschichten und Mutmaßungen, um ihre Zeitungen zu verkaufen. Wenn die Hälfte von dem stimmt, was geschrieben wird, wäre das schon viel. Warum interessiert dich das?“

Dominik nippte an seinem Glas Wein.

„Na ja, sollten sich unsere familiären Verbindungen festigen und die politische Lage uns nicht in die Quere kommen, bin ich mir sicher, dass meine Frau und die Kinder bestimmt gerne einmal nach Wien reisen würden. Aber wenn ich Angst haben müsste, dass jemandem von uns etwas zustoßen könnte, weil ein unbändiger Irrer seinem Treiben nachgeht, würde ich mir das doch sehr wohl überlegen. Gerade weil sich die Meldungen im Moment darüber häufen. Da macht man sich als Familienvater schon so seine Gedanken.“

Sein Schwager antwortete leise:

„Das kann ich gut verstehen.“

Der Graf bemerkte lächelnd:

„Und jetzt, wo ich dich kennengelernt habe, ist mir nicht wohl dabei, zu wissen, dass solch ein Mörder dir vielleicht nachts begegnet, wenn du wieder mal zu Hause in Wien im Dunkeln unterwegs bist. Wir alle werden zukünftige Nachrichten aus Wien sorgenvoller, wie auch interessierter aufnehmen als bisher.“

Der Schatten des Werwolfs

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