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Mátés Geständnis

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Er stockte und umfasste liebevoll ihre zusammengebundenen Hände. Dann schaute er sie mit einem verzweifelten Ausdruck an.

„Ich trage eine schwere Last, die mich langsam erdrückt. Mit niemandem kann ich darüber reden. Solltest du wünschen, dass ich euer Haus sofort verlasse, wenn du die Wahrheit über mich erfahren hast, bin ich dir nicht böse.“

„Das werde ich nicht“, erwiderte sie beunruhigt.

Er zog das Strohgeflecht aus den Fingern, rutschte mit gesenktem Haupt vor ihr auf die Knie und flüsterte:

„Ich bin die Bestie von Wien.“

Dieser Satz kam nicht nur unerwartet, sondern sie zweifelte daran, ihn richtig verstanden zu haben.

„Was meinst du denn damit?“

Verzweifelt sah er sie an. Máriska schüttelte den Kopf und meinte:

„Wie kommst du denn auf so etwas?“

„Ich bin die Bestie von Wien und habe das Unheil nach Ungarn gebracht“, wiederholte er klar und deutlich.

Ihr fehlten die Worte. Eindringlich sprach er weiter:

„Ich habe heute Nacht zugeschlagen. Du musst mir glauben, denn ich bin derjenige, der unfassbares Leid über Familien gebracht hat. Es wurde von mir auf grauenhafte Weise gemordet und daran gehe ich zugrunde!“

Máriskas Gedanken waren mit dieser Nachricht überfordert, und so saß sie nur verstört und stumm da. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber damit nicht. Ungläubig strich sie ihm über den Kopf und fragte irritiert:

„Aber wieso solltest du das tun? Du bist so ein lieber und sensibler Mensch. Was bringt dich dazu …“

„Ich bin ein Werwolf“, unterbrach er seine Schwester weinend und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß, während er seine Finger verkrampft in den Stoff ihres Kleides krallte.

Máriska konnte nicht klar denken. Was hatte das alles zu bedeuten? Sie atmete tief durch und versuchte, die abstruse Aussage erst einmal nicht ganz ernst zu nehmen. Dennoch konnte sie sich seiner Verzweiflung nicht entziehen. So nahm sie ihn fest in die Arme, tupfte seine Tränen weg und ließ ihn weinen. Sie wehrte sich gegen das, was sie gehört hatte, und versuchte, etwas Sinnhaftes daraus zu machen. Vielleicht waren es Medikamente, die er einnahm und die seinen Geist verwirrten. Sie hatte gespürt, dass ihn von Anfang an etwas bedrückte. Es musste sich um seine Krankheit handeln, die ihn quälte. Vielleicht war er sogar verrückt oder drogenabhängig. Sie erinnerte sich an die seltsamen Bilder, die er gemalt hatte. Sorge und Ratlosigkeit machten sich in ihrem Kopf breit, denn gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass es viele Geheimnisse gab. Aber dass er ein Werwolf sein sollte, schien ihr abwegig. Während sie ihn im Arm hielt, verirrten sich ihre Gedanken in die Zeit, als sie immer eine Antwort für ihn parat gehabt hatte, ihn trösten oder ihm jegliche Angst vor den täglichen Dingen des Lebens nehmen konnte. Jetzt hielt sie ihn wieder im Arm, aber seine Traurigkeit und Verlorenheit waren so unendlich groß, dass auch sie sich darin verlor. Sie musste herausfinden, was ihn bewog, so etwas von sich zu denken.

Nach einiger Zeit hatte er sich beruhigt und setzte sich wieder auf den Strohballen.

„Erzähle mir alles, auch wenn es gerade nicht leichtfällt, das zu glauben, was du gesagt hast. Wie kann ich dir helfen? Sollen wir zu einem Arzt gehen?“

Enttäuscht schluchzte er:

„Hast du mir zugehört? Ich bin ein Werwolf, eine Bestie. Ich zerreiße Menschen! Ich beiße ihnen sogar manchmal den Kopf ab!“

Er konnte an ihrem Blick erkennen, dass sie es nicht glauben wollte. Er schubste sie von sich, stand auf und wendete sich von ihr ab.

„Ach, vergiss es. Ich habe gedacht, hier finde ich jemanden, der mir zuhört, der mir glaubt und mich verstehen würde in meiner Not.“

Máriska erhob sich und wollte seine Hand nehmen, doch er zog seine weg. Traurig meinte sie:

„Du bist jetzt gerade ein wenig ungerecht zu mir. Ich sehe, wie du leidest und ich will dir doch helfen. Werwölfe sind Kreaturen aus Sagen, Märchen und Mythen. Lieber Máté, es gibt sie nicht. Wer immer dir das erzählt hat, der hat sich geirrt. Oder er ist einfach nur von deinem Zustand erschrocken. Nimmst du Tabletten? Ist es die Krankheit? Was immer dann mit dir los ist, ich werde dir nicht von der Seite weichen, wenn es wieder passiert.“

Ohne Vorwarnung ergriff er Máriska an den Oberarmen und drückte sie zornig auf den Strohballen. Seine Augen blickten sie vorwurfsvoll und voller Ärger an.

„Ich bin ein Werwolf. Ein Werwolf! Ich brauche niemanden, der das anzweifelt, sondern jemanden, der mir hilft. Ich weiß es und es gibt Beweise. Ich bin gefährlich, richtig gefährlich, und deshalb benötige ich jemanden an meiner Seite, der die Welt vor mir beschützt. Wenn du das nicht einsiehst und mir nicht glaubst, dann muss ich schleunigst wieder von hier verschwinden.“

Er ließ sie los und sank am nächsten Stützbalken zusammen.

Sie hatte ihn so noch nie gesehen und erlebt. Das erste Mal in Ihrem Leben hatte sie sich vor ihm richtig gefürchtet. Sie krabbelte an seine Seite. Er wimmerte:

„Es tut mir leid. Das wird nicht wieder vorkommen. Verzeih mir. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich morgen wieder abreise und du alles vergisst, was ich dir eben erzählt habe.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Es muss niemandem von uns leidtun. Wir sollten uns darüber noch einmal in Ruhe unterhalten und zwar dann, wenn niemand uns zum Kaffee trinken erwartet. Dominik und die Kinder könnten bald kommen. Es ist etwas viel auf einmal gewesen. Verstehst du das? Der Strick, dann dein Geheimnis, dass du eine Bestie oder besser gesagt ein Werwolf sein sollst. Das muss ich doch auch erst einmal verdauen.“

„Bin. Ich bin ein Werwolf“, betonte er harsch.

Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung. Dem jungen Herrn tat es unendlich leid. Sie hatte recht mit dem, was sie sagte. Er war ungerecht. Was jahrelang schon Teil seines Lebens war, war nun etwas völlig Neues für sie. Er verlangte ihr viel ab, vielleicht zu viel. Sie konnte in ein paar Minuten nicht verstehen, was in all den Jahren passiert war und wie sehr seine Nerven blank lagen. Er fühlte sich ihr nah und verbunden. Erneut drückte er sie an sein Herz. Die Gräfin erwiderte die Liebkosung und erinnerte sich daran, wie es war, als ihr Papa sie so umarmte. Im Schutz dieses wohligen Andenkens erlaubte sie sich, sich zu beruhigen. Ohne seine Gefühle erneut zu verletzen oder seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen, musste sie dringend mehr herauszufinden. Auch wenn sie diese Werwolf-Geschichte nicht glauben mochte, so wollte sie trotzdem wissen, welche Gefahr von ihm ausging. Immerhin konnte er sehr wütend werden, dass hatte sie nun begriffen. Sie löste die Umarmung.

„Ich traue mich gar nicht zu fragen, aber muss ich denn um unsere Familie fürchten, wenn du da bist?“

„Nein. Ich kenne die Zeitpunkte meiner Verwandlungen, dann lasse ich mich einsperren und anketten.“

„Auf jeden Fall werde ich bei der nächsten Verwandlung bei dir sein.“

Aufgebracht mahnte er:

„Du darfst das nicht unterschätzen, was mit mir passiert. Warum begreifst du nicht, wie gefährlich ich bin? Es gibt Werwölfe und einer sitzt mit dir auf dem Fußboden. Alles, was ich vor dem Abendessen letztens erzählt habe, ist wahr – bis auf die Krankheit. Meine Krankheit ist in Wirklichkeit ein Fluch; ausgesprochen von einer Zigeunerin, die unseren Vater für etwas bestrafen wollte. Deshalb ist Mama von ihm weg und hat mich mitgenommen, damit diese Geschichte in Ungarn zu einem Ende kommt. Sie wollte die Familie vor dem Gerede schützen und vor meinen Klauen. Wenn ich zu einem Werwolf werde, dann bin ich nicht mehr ich selbst. Es bleibt mir keinerlei Erinnerung an das Geschehene. Mein Geschäftspartner und Freund András sorgt dafür, dass ich in diesem Zeitraum sicher weggeschlossen bin. Aber hier und da habe ich es geschafft, mich zu befreien, und dann passieren diese schrecklichen Dinge in Wien und der Umgebung. Er ist nun auf der Suche nach einer Frau in Rumänien, die den Fluch vielleicht aufheben kann. Infolgedessen brauche ich jemanden an meiner Seite, der mich versteckt, ankettet und wegschließt. Da habe ich an dich gedacht, denn diesem Jemand muss ich blind vertrauen können. Das ist der wahre Anlass für mein Kommen. Es tut mir leid, dass es jetzt wohl sehr enttäuschend für dich ist.“

„Nein, es ehrt mich, dass du immerhin an mich gedacht hast in deiner Not.“

„Aber im Schoß der Familie hat sich alles wieder wie früher angefühlt. Ich war stellenweise überglücklich. Es kam der Gedanke auf, dass ich dich nicht zusätzlich belasten wollte und da habe ich … das in Betracht gezogen, was ich des Öfteren schon in meinen Gedanken durchgespielt habe. Es war nicht mein erster Versuch, meinem Leben ein Ende zu setzen. Obwohl ich das alles nicht mehr aushalte, fand ich immer einen Grund, es zu verschieben. Mag sein, dass ich doch zu feige dafür bin.“

„Danach hat es vorhin wirklich nicht ausgesehen.“

„Ich weiß, aber wahrscheinlich hätte ich doch wieder einen Rückzieher gemacht.“

„Gott sei Dank! Jetzt, wo wir wieder zusammengefunden haben, helfe ich dir doch und möchte teilhaben an dem, was dich belastet.“

Er schaute ihr tief in die Augen und bat eindringlich:

„Du musst mich übermorgen verstecken, einsperren und anketten. Weit weg, damit mich niemand schreien und brüllen hört. Das ist jetzt das Wichtigste. Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde, was ich über den Fluch und unsere Familie weiß. Alles, aber du musst darüber schweigen, und du darfst auf keinen Fall leichtsinnig werden, was mich angeht. Befolge alles, was ich dir sage, ganz genau, dann wird niemandem etwas passieren.“

Fassungslos saß sie da. Dass es nun auch noch einen Fluch gab und weitere Verstrickungen, ließ sie unruhig und gleichzeitig neugierig werden. Sie nickte zustimmend.

„Ich werde alles so machen, wie du es willst. Ich bin die Briefe schon fast alle durchgegangen und trotzdem fehlt etwas, um sie richtig zu verstehen. Werde ich das fehlende Bindeglied dann von dir erfahren?“

„Ja, wahrscheinlich. Komm, lass uns ins Haus gehen, sonst werden sie skeptisch.“

Sie klopfte die Strohhalme aus ihrem Kleid und blickte ihn an.

„Wie könnte ich mich denn deiner erwehren, falls du dich plötzlich befreien solltest? Würdest du uns angreifen oder instinktiv erkennen?“

Entschlossen stand er auf und zog sie hoch. Ohne weitere Worte lief er, mit ihr im Schlepptau, geradewegs zum Gutshaus. Verwundert stolperte sie an seiner Hand hinterher.

„Was soll das denn? Was ist denn in dich gefahren? Gib mir eine Antwort. Was müsste ich machen?“

Zwei dunkle Augen beobachteten beide, als sie über den Hof hasteten. Die Gestalt flüsterte bösartig:

„Du hältst dich wohl für besonders schlau, Máté.“

Ohne eine Antwort zu geben, schleppte der junge Herr seine Schwester ins Wohnhaus. Im Gang trafen sie auf Orsolya.

„Na endlich, wo bleibt ihr denn?“

„Wir kommen gleich“, beantwortete Máriska die Frage hektisch, während er Máriska die Treppe hoch zu seinem Zimmer zerrte und hinter ihnen die Tür verschloss.

Er setzte sie unsanft auf das Bett und öffnete seinen Nachttisch. Aus der Schublade holte er eine zweiläufige Pistole, legte sie in ihre Hand und befahl:

„Dann erschießt du mich.“

Der Gräfin zog es förmlich den Boden unter den Füßen weg, als sie auf die Waffe starrte.

„Du hast keine andere Chance. Das sind spezielle Kugeln. Geweiht und aus Silber. Nur mit denen kannst du mich töten. Andere Kugeln verletzen mich, aber nur kurz. Und auf einen Nahkampf darf sich niemand mit mir einlassen. Du darfst auch keine Gedanken daran verschwenden, mich nur verletzen zu wollen. Wenn du schießen musst, dann ziele richtig. Herz oder Kopf. Versprich mir das. Solltest du mich aber gut und sicher wegschließen, wird es dazu nicht kommen.“

Ihr blieb die Luft zum Atmen weg. Aufgeregt stammelte sie:

„Was redest du denn da? Weißt du, was du da von mir verlangst?“

„Wenn ich als Bestie vor dir stehe, glaube mir, wird es dir nicht schwerfallen abzudrücken. Und wenn es so weit kommen würde, dann wäre ich erleichtert, dass du es bist, die mein Leben beendet – und niemand, der mich vielleicht vorab noch gejagt hat. Du müsstest kein schlechtes Gewissen haben.“

Sie schüttelte aufgebracht den Kopf und gab ihm die Waffe zurück.

„Ich will sie nicht haben. Ich vertraue dir, und ich weiß, du wirst uns nichts anhaben, falls du ausbrechen kannst.“

„Die Menschen, die heute Nacht gestorben sind, habe ich umgebracht.“

„Du warst in Pest-Buda. Wie hättest du so schnell dahin kommen sollen?“, konterte sie.

Er schwieg für einen kurzen Augenblick und schloss ihre Hände um die Waffe.

„Ich war nicht in Pest-Buda und ich habe auch keine Geschäfte dort abgeschlossen. Ich wurde heute Nacht angekettet, weil ich mich in einen Werwolf verwandelt habe. In zwei Tagen wird es wieder so sein. Meine Fesseln und Ketten sind in einem alten Gebäude in der Nähe von Diósvölgy, welches früher als Gefängnisunterkunft für Gefangenentransporte genutzt wurde.“

Máriska spürte, dass sich ihr immer mehr Fragen aufdrängten.

„Aber hattest du dich denn befreit? Wer hat dich dorthin gebracht und wer wieder los gemacht, wenn dein Freund sich woanders aufhält?“

„Bleib ruhig, es darf niemand mitbekommen, was wir hier sprechen. Heute Morgen machte es den Anschein, als wenn ich mich nicht befreit hätte, aber nach der Nachricht in der Zeitung, habe ich daran gezweifelt.“

Bekümmert schaute sie in seine Augen.

„Du musst doch wissen, ob du dich befreit hattest. Oder zumindest die Person, die dich angekettet und wieder von den Fesseln losgemacht hat. Hast du mit den Fesseln an deinem Körper dein Bewusstsein wiedererlangt?“

Er versuchte, ihre Aufgebrachtheit einzudämmen.

„Leise, Máriska. Versuche dich doch zusammenzureißen. Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Ich werde dir alles erläutern und zeigen. Vertraue mir. Ich habe dir gesagt, dass es eine große Last ist und du wirst einiges lernen müssen, wenn du mir helfen willst.“

Sie versuchte, ihre Emotionen zu bändigen und atmete tief durch.

„Ich gebe mir alle Mühe. Es darf nie so weit kommen, dass ich diese Waffe benutzen muss.“

Ohne es zu wollen, konnte er spüren, was sie fühlte, und erahnen, was sie dachte. Ihre Zweifel und die gleichzeitig aufkommende Panik machten ihn unruhig. Umso mehr bedauerte er es zutiefst, sie in diese Situation zu bringen. Ohne András war er aber verloren, deshalb benötigte er einen zweiten Verbündeten, auch um Zeit zu gewinnen. Nur so konnte er sich darüber klar werden, was er wirklich wollte und welchen Preis er bereit war, für seine Freiheit, seinen Tod oder das Leben, so wie er es jetzt führte, zu bezahlen.

„Wir müssen runter, sonst werden die anderen misstrauisch, wenn wir gar nicht zum Kuchen essen kommen“, hörte er plötzlich Máriskas gefasste Stimme, die ihn aus seinen Gedanken riss. Die Gräfin stand auf, strich sich ihren Rock zurecht und richtete sich die Haare. Mit einem bekümmerten Lächeln meinte sie:

„Wir dürfen niemandem einen Grund geben, irgendetwas seltsam an unserem Verhalten zu finden. Dominik anzulügen fällt mir schwer. Er sieht es mir bestimmt an.“

„Ich bin geübt darin. Sag einfach wenig und lass mich machen. Mir ist bewusst, dass dein Gatte nicht zögern würde, mich ins Gefängnis zu werfen, in die Irrenanstalt einliefern zu lassen oder mich gar zu töten, aber nur aus Liebe und zum Schutz für euch. Vergiss das nie, Máriska.“

Arm in Arm liefen beide die Treppe hinunter.

„Was glaubt ihr eigentlich, wie lange Kaffee auf dem Stövchen warm bleibt ohne bitter zu werden?“, murrte Orsolya in der Küche, als die Geschwister eintraten.

Der Abend verlief ruhig. Dominik erzählte von den Glanzleistungen seiner Familien und konnte es nicht lassen, hier und da eine kleine Spitze über die Márusis oder das Leben mit Orsolya zu verteilen. Trotz der allgemeinen Ausgelassenheit vernahm er sehr wohl fehlende Konzentration bei seiner Frau. Dies beunruhigte ihn.

Ausnahmsweise durften auch die beiden Jugendlichen zur sehr späten Stunde noch anwesend sein, denn Máté und der Hausherr hatten die Idee, eine Partie Schach zu spielen. Bálint fand das Spiel äußerst aufregend und wollte unbedingt zusehen, wie sein Vater gegen seinen Onkel vorging. Dem Grafen gefiel das Interesse seines Sohnes am Schachspiel. Bianká hätte er am liebsten gleich zu Bett geschickt, denn es war offensichtlich, dass ihr Interesse mehr ihrem Onkel galt als diesem aufregenden Spiel. Trotzdem gewährte er seiner Tochter die Bitte. Bianká schaute ganz genau, wie Máté bei seinen Zügen vorging, stickte dabei und lächelte schüchtern, wenn sich ihre Blicke trafen. Alles in allem war es ein angenehmer Abend gewesen.

Die Lichter waren erloschen und alle im Haus waren zu Bett gegangen. Alle bis auf einen. Máté saß auf dem Rand seines Bettes und zeichnete. Dabei führte er den Stift ruhig und gelassen über das Papier. Aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive skizzierte er ein Schachbrett mit Spielfiguren darauf. Doch je länger er herummalte, desto mehr erweckte die Nachttischlampe durch ihr Flackern den Eindruck eines lebendigen Gemäldes. Die Spielfiguren änderten mit jedem weiteren Strich ihre Haltung. Die Bauern verdrehten sich, die Türme stürzten umher oder zerschmetterten sich gegenseitig, wenn sie aufeinandertrafen. Die Malbewegungen entglitten seiner Kontrolle und gestalteten das erst so korrekt und realistisch gemalte Kunstwerk zu einem schaurigen, abstrakten Schauspiel auf Papier.

Der Schatten des Werwolfs

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