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Máté offenbart sein Leben

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Máté war aus der Kutsche ausgestiegen, da streckte Orsolya ihre Nase schon zwischen der geöffneten Haustür hervor.

„Hallo, mein Junge. Schön, dass du schon wieder so schnell zurück bist. Komm rein, die Familie sitzt im Wohnzimmer zusammen. Sie sind vor wenigen Minuten heimgekommen. Ich habe Kuchen gebacken.“

Sie ließ ihn ein und nahm ihm seine Jacke und den Hut strahlend ab, bemerkte aber seine Betrübtheit. Mütterlich streichelte sie seine Wange und erkundigte sich besorgt:

„Geht’s dir denn gut?“

Er nickte stumm. Mit einem zweifelhaften Lächeln antwortete er:

„Ja, mir geht es gut. Es sind nur gerade so viele Erinnerungen, die auf mich einprasseln und die mich über so einiges nachdenken lassen … auch über vielleicht verlorene Zeit.“

Orsolya hing seine Kleidung an die Garderobe.

„Man kann nichts zurückholen, deshalb lass uns doch einfach zuversichtlich nach vorne blicken und uns darüber freuen, dass wir jetzt alle wieder zusammen sind. Erinnerungen habe ich auch. Manche trösten, manche schmerzen. Das kann sich über die Jahre aber auch wieder ändern.“

Dominik trat mit einem prüfenden Blick aus dem Wohnzimmer in den Flur.

„Ich habe doch Stimmen gehört und mir gleich gedacht, dass unser Hausgeist doch lieber einen Plausch hält, anstatt sich um die Arbeit zu kümmern, die ich förmlich nach dir rufen höre, Orsolya. Wie wäre es mit frischem Kaffee? Orsolya hat Kuchen gebacken und diesmal kann man ihn sogar essen, lieber Schwager. Für dich scheint sie förmlich über sich hinauszuwachsen.“

Mit diesen Worten drückte er ihr die leere Kaffeekanne in die Hand. Die Haushälterin wusste sehr wohl, wie sie den Hausherrn zu nehmen hatte, aber es ärgerte sie immer wieder aufs Neue. So biss sie ihre Zähne zusammen und verneigte sich mit übertriebener Hochachtung vor ihm, als er sich bereits umgedreht hatte, um Máté ins Wohnzimmer zu geleiten.

„Oh, Sie fusseln, Herr Graf. Jedenfalls steht da ein kleiner, frecher Fussel von Ihrer Jacke ab. Wir wollen doch nicht, dass sie zerfleddert aussehen, nicht wahr?“

Dominik blieb stehen und Orsolya zupfte mit ihrer Hand am unteren Teil des Kleidungsstücks.

„Für irgendetwas muss sie ja auch gut sein“, blinzelte der Hausherr seinem Schwager zu.

In diesem Moment holte sie, von Dominik ungesehen, eine Stecknadel aus ihrer Schürze und bohrte diese geradewegs durch den Saum von seinem Sakko. Máté räusperte sich, um nicht laut herauszulachen, und folgte in die Stube. Orsolya schaute zufrieden mit leicht gedrehtem Kopf den beiden Männern nach, während sie zur Küche lief. Bevor sie anfing den Kaffee zu mahlen, horchte sie kurz auf.

„Aua! Was ist denn das?“, ertönte da ein Aufschrei, der wie Musik in ihren Ohren klang. Sie kicherte leise und drehte pfeifend an der Kaffeemühle, um das plötzliche aufkommende, hektische Stimmengewirr im Wohnzimmer zu übertönen.

Gerade als die Haushälterin den frisch aufgebrühten Kaffee über den Flur trug, sprangen ihr die Kinder entgegen.

„Wir müssen lernen, Orsolya. Vater hat uns jetzt weggeschickt, damit wir unsere Nasen in die Bücher stecken“, maulte Bianká.

Ihr Bruder fügte hinzu:

„Ich glaube, die reden jetzt über die Vergangenheit, da wollen sie uns nicht dabeihaben. Dabei wäre das so interessant.“

Bianká kuschelte sich an den Arm der kleinen Frau.

„Kannst du nicht ein bisschen lauschen und uns dann erzählen …“

Bálint haute seiner Schwester unsanft auf den Hinterkopf und lachte.

„Man darf andere zu so etwas nicht verführen, du kleine Kröte.“

Bianká streckte ihm die Zunge raus und boxte ihn. Zwischen dem Gerangel und Geschubse versuchte die Haushälterin, ihr Tablett mit der Kaffeekanne gerade zu halten, um das gute Geschirr nicht zu Bruch gehen zu lassen. Sie drückte im Eifer des Gefechts deshalb die Kaffeekanne an sich und das Tablett mit dem Ellenbogen an ihre Hüfte. In dieser Haltung schritt sie in die Wohnstube. Die Jugendlichen polterten die Treppe, wie üblich, geradewegs hinauf.

Dominiks Gesichtsausdruck sprach Bände. Er saß ein wenig schräg auf dem Sessel und grummelte:

„Ist das die neue Art zu servieren? Was ist das für eine Haltung?“

„Ihre ist auch nicht besser, Herr Graf.“

Er schob Orsolya eine Stecknadel auf der Tischplatte entgegen. Ihr Blick fiel unbeeindruckt und fragend auf das kleine Werkzeug. Davon abgelenkt, rutschte ihr das Tablett mit lautem Geschepper erst auf den Tisch, von dort auf die hölzerne Sessellehne und dann, nach einem erfolglosen Fangversuch von Dominik und ihr, auf den Boden.

Zornig hob der Hausherr die Tragehilfe auf und stellte sich neben die Haushälterin, um seinen Arm um sie zu legen.

„Das ist der Grund, weshalb ich die ersten grauen Haare habe. Kannst du das verstehen, lieber Schwager? Falls du mal eine Haushälterin benötigst, ich hätte hier ein ganz besonderes Exemplar abzugeben. Schwerhörig, ungeschickt, aufmüpfig … aber dafür zu einem Sonderpreis.“

Mit diesen Worten drückte er ihr das Tablett in die Hände und lächelte herablassend.

„Wir schenken uns den Kaffee selbst ein, bevor noch Schlimmeres passiert.“

„Na, immerhin habe ich die Kanne gerettet ohne zu kleckern.“

Sie stellte das Porzellangefäß ab und wischte sich an der Stelle über ihre Schulter, wo der Graf eben noch seinen Arm abgelegt hatte. Plötzlich zeigte Orsolya erschrocken auf den Sessel.

„Ist das Blut auf dem Bezug? Das kriege ich ja nie wieder raus aus dem Stoff.“

Máriska war die Situation peinlich. Ihr Blick ging entschuldigend zu ihrem Bruder. Der wiederum störte sich herzlich wenig an den Kämpfen zwischen Dominik und der Haushälterin, sondern konnte sich sein Schmunzeln darüber nicht verkneifen. Wortlos griff Dominik die Stecknadel und hielt sie Orsolya entgegen.

„Nimm deine Stecknadel und geh!“, befahl der Hausherr mit kontrolliert aufbrausender Stimme.

„Wieso meine? Steht da etwa mein Name drauf? Was weiß ich, wo die herkommt und wo die überhaupt steckte“, stellte die gute Seele des Hauses keck, aber mit einer Unschuldsmiene fest, nahm ihr Tablett, die Nadel und ging in den höchsten Tönen singend aus dem Raum.

Máriska atmete tief durch und sagte:

„Dass du sie aber auch immer ärgern musst. Sei doch einfach mal ein bisschen netter zu ihr.“

Dominik sah seine Gemahlin verwundert an.

„Ich hatte gerade eine Stecknadel im Hintern.“

„Ja, das war nicht zu überhören. Es hätte ja auch schlimmer kommen können“, lächelte sie verschmitzt.

Höflich bot Dominik seinem Schwager eine Zigarre an, der dankend ablehnte. So steckte er nur sich – selbstzufrieden sowie entspannt – eine an und pustete den Rauch in Form von Kreisen aus.

„Außerdem, was heißt, ich soll netter sein? Das würde sie nach so vielen Jahren nur durcheinanderbringen. Zudem bin ich nett. Nett genug für diese Familie. Ich gebe dir einen guten Rat, Schwager. Heirate nie, jedenfalls keine Frau, an die gleichzeitig auch eine kleine, dicke Haushälterin mit der gesamten Familiengeschichte geschweißt ist.“

Der Hausherr betrachtete seinen Schwager fragend und lehnte sich im Sessel zurück. Máté zögerte nicht lange und entgegnete:

„Was willst du wissen, Dominik? Oder sagen wir so: An welcher Stelle hat deine Recherche über mich eine Lücke?“

Sein Gegenüber zog hochachtungsvoll seine Augenbraue hoch.

„Du gehst also davon aus, dass ich Erkundigungen über dich eingezogen habe?“

Máté lachte.

„So, wie ich über dich. Deshalb weiß ich es ja auch. Also, was willst du noch wissen?“

Die Gräfin staunte und fauchte beide an:

„Was sind das für seltsame Spielchen, die ihr miteinander treibt? Ich freue mich einfach nur darüber, dass du zurückgekommen bist. Das, was du erzählen möchtest, erzählst du. Und das, was du für dich behalten möchtest, bleibt dein Geheimnis.“

„Es ist sein gutes Recht, Schwester. Er macht sich Sorgen, und das ist sogar seine Pflicht. Er ist dein Gatte. Mein Leben ist nicht wie das von vielen anderen. Einem getreuen Staatsdiener mit hohem Pflichtbewusstsein und geregeltem Leben mag mein Leben sehr seltsam vorkommen. Ich kann ihn verstehen – und er sicher auch mich, wenn ich wissen möchte, mit wem meine Schwester verheiratet ist.“

Dominik gefiel der Gedanke nicht, dass einer seiner Getreuen, warum auch immer, es Máté ermöglicht hatte, die Recherche herauszubekommen.

Máriska beäugte ihren Bruder und äußerte traurig:

„Da ihr beide ja anscheinend schon genug übereinander wisst, möchte ich dich fragen, warum Mama mit dir weggegangen ist und warum du nie zu Besuch gekommen bist oder mich eingeladen hast? Warum hast du uns erst so spät gesagt, dass sie gestorben ist und von welchem Geheimnis wird in den Briefen zwischen Mama und Papa gesprochen? Ich werde aus den Briefen nicht richtig schlau, dabei habe ich sie alle förmlich verschlungen. Teilweise wurde angedeutet, dass du damals schwer krank gewesen bist.“

Máté blickte zu Boden und bat seinen Schwager:

„Ich möchte, dass Orsolya bei uns sitzt, wenn ich all die Fragen beantworte. Für mich ist sie ein Teil meiner Familie und darf alles wissen – so wie ihr.“

Der Graf zuckte die Schultern.

„Es ist deine Entscheidung. Aber es könnte peinlich werden – für dich.“

Die Hausherrin mahnte:

„Ich will hier kein Duell und kein Verhör. Hörst du, Dominik? Er ist unser Gast, ein Familienmitglied, mein Bruder.“

Máté versuchte, seine Schwester zu beruhigen, die ihren Mann garstig ansah, und streichelte ihr übers Haar.

„Es ist in Ordnung. Ich gehe rasch Orsolya holen“, äußerte er ruhig.

Als er die Tür öffnete, stand die Haushälterin am Treppenaufgang schräg gegenüber der Wohnzimmertür und wischte das Geländer. Sie schien überrascht, kam auf ihn zu und meinte:

„Sicher, junger Herr, dass du mich dabeihaben möchtest? Der Graf ist heute nicht gerade in bester Laune, da kann er sehr verletzend werden. Ich möchte nicht erleben, dass er es zu dir wird.“

Máté flüsterte erstaunt:

„Hast du gelauscht?“

Verlegen zu ihm aufblickend, sagte sie:

„Die Wände sind so dünn und die Türen nicht wirklich dicht. Was soll man da machen?“

Er zog sie ins Zimmer und setzte sie neben sich an den Tisch.

Máriska goss ihr Kaffee ein und legte ein Stück von dem köstlichen Kuchen auf den Teller.

„Jetzt dürfen die Angestellten schon mit am Tisch essen“, murrte der Hausherr spöttisch.

„Ich bin ein Familienmitglied. Hat er gesagt“, stellte Orsolya selbstsicher fest, zeigte dabei mit ihrer Kuchengabel auf Máté und erfreute sich an ihrem Backwerk.

Dieser nickte und begann zu erzählen:

„Ich kann mich noch erinnern, dass Mama nur sagte, dass wir unsere Heimat verlassen müssten, weil ich sehr krank sei und wir hier keine Ärzte hätten, die mir helfen könnten. Am nächsten Morgen stand die Kutsche da und wir reisten direkt nach Wien. Ich hatte seltsame Schübe von Fieber sowie Muskel- und Knochenschmerzen. Diese wurden immer schlimmer und entwickelten sich zu richtigen Anfällen. Niemand wusste, woher diese Anfälle kamen, ob es etwas Ansteckendes war oder ob sie irgendwann wieder verschwinden würden. Ich wurde schlechter in der Schule und brach letztendlich ab, um eine Ausbildung ohne höheren Schulabschluss anzufangen. Allerdings wurde auch die wieder ohne Zertifikat beendet. Mir fehlte die Kraft, das Durchhaltevermögen und es mangelte mir an Konzentration. Ich fing an, mich zurückzuziehen. Die Frage, ob und wann wir wieder nach Hause fahren würden, blieb unbeantwortet. Bereits nach einem Jahr ahnte ich, dass es keine Rückkehr geben würde. Der Grund, warum wir nicht mehr nach Hause konnten, war wohl ich. Aber der andere war, dass sich unsere Eltern zerstritten hatten. Sie liebten sich, aber aus irgendwelchen Gründen funktionierte ihr Zusammenleben nicht mehr. Sie blieben verheiratet, aber wohnten getrennt in unterschiedlichen Ländern. Angeblich war es für mich hier zu gefährlich, deshalb gefiel es Mama nicht, dass wir uns immer wieder geschrieben haben. Auch mein Drängen, endlich wieder nach Hause zu fahren, wurde nur kurz kommentiert mit ‚Ungarn ist für dich zu gefährlich‘. Sie begründete es mit Rache und Vergeltung von irgendjemanden, den ich nicht kennen würde und mit Begebenheiten, weit vor unserer Geburt. Also reiste Mama nie wieder nach Ungarn. Nur Papa kam ein paar Mal zu Besuch, aber ihn durfte ich nicht mehr treffen. Irgendwann hatte ich mich damit abgefunden und aufgegeben zu fragen. Ich begann, mich für das Bankwesen zu interessieren und habe mich schließlich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann entwickelt. Devisen, Aktien, Immobilien, Investitionen als Teilhaber, Geldverleih. Es ist alles dabei, was als unehrenhaft gilt, wenn es privat getätigt wird. Aber ich hatte keine andere Wahl. Nie wusste ich, ob ich bei einem Geschäftsessen dabei sein konnte, ob ich an diesem oder jenem Tag mich so gesund fühlen würde, dass ich meine Vorhaben oder meine Termine wahrnehmen konnte. Egal, ob es sich um private oder berufliche Treffen handelte, immer schwebte über mir die Unsicherheit, dass etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. Freunde treffen, tanzen gehen – alles war durch diese seltsamen Anfälle immer unsicher. Anfangs habe ich es noch probiert, aber wenn ich kurzfristig absagte, warf das immer Fragen auf und ich musste mich für alles rechtfertigen. ‚Warum gehst du schon nach Hause? Wieso trinkst du keinen Alkohol? Warum kannst du heute nicht gerade sitzen? Warum bist du so spät? Warum musst du schon weg?‘ Warum, warum, warum? Ich baute mir ein Leben auf, bei dem es egal war, wann ich aufstand, ob ich zwei Tage durchschlief, ob ich Kraft hatte oder mich gerade elendig fühlte. Manchmal waren die Tage nach diesen Anfällen einfach noch immer kräftezehrend, oder es blieben Schmerzen zurück. Wir haben nicht nur Ärzte aufgesucht, um herauszufinden, was ich hatte, sondern auch okkulte Kreise, die sich anderer Methoden bedienen, Krankheiten aufzuspüren oder sie zu heilen. Es gab Linderung für mich, aber es hat gedauert. Ich ziehe heute noch oft um, weil ich das Gerede der Leute aus der Nachbarschaft nicht ertrage oder mir Dinge unterstellt werden, die so nicht stimmen. Es sind deren Mutmaßungen, wenn etwas nicht ihren Gewohnheiten und Gepflogenheiten entspricht. Deshalb gelte ich als ungesellig, stolz, eingebildet oder mysteriös, eben abgestempelt. In den letzten Jahren kamen nun diese Träume dazu, wovon einer mich auch gestern Nacht aus dem Schlaf gerissen hat. Wenn ich male, was ich da empfinde, halten mich die meisten für verrückt oder glauben, die Träume kommen durch die okkulten Behandlungsmethoden, weil ich jetzt ja etwas Teuflisches in mir tragen könnte. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Der einzige Mensch, der das alles verstanden hat und wusste, war Mama. Einerseits war sie stolz, weil wir finanziell unabhängig geworden waren, und andererseits sehr traurig, weil ich mich irgendwann vom normalen Leben abgewandt hatte. Man kann nur mit mir leben, wenn man akzeptiert, wie ich bin, und dann wird man Teil meiner Lebensart und meines schlechten Rufs. Das ist der Grund, weshalb ich nicht verheiratet bin. Ich will es niemandem zumuten, und ich habe auch noch niemanden getroffen, der es sich selbst hätte zumuten wollen. Jede Dame versuchte nur, mich zu ändern oder mir zu ‚helfen‘, anstatt mich meinen Weg gehen zu lassen. Also bin ich auch Gast in Freudenhäusern. Ein verbindliches Geschäft ohne nachhaltige Verpflichtungen. Für viele ein verwerfliches und unmoralisches Geschäft, auch übrigens für diejenigen, die dort dann seltsamerweise auch selbst regelmäßig zu Gast sind. Meist die, die in Politik und Wirtschaft ihr Unwesen treiben. Das ist die Doppelmoral derer, die gerne Wasser predigen und selbst Wein trinken. Reicht das als Erklärung, weshalb ich nie zu Besuch gekommen bin oder euch eingeladen habe? Ich hätte viel zu viel erklären müssen. Als Mama unerwartet starb, habe ich mich einsam und allein gefühlt. Ich wollte niemanden sehen. Die Beerdigung habe ich nach Mamas Wünschen für ihre Bekannten und Freunde ausgerichtet und für diese Zeit durchgehalten. Ich kann nicht leugnen, dass ich eine gewisse selbstzerstörerische Ader oder depressive Neigung habe, aber das hat sich aus allem Erlebten irgendwie entwickelt. Mir helfen von Zeit zu Zeit Ärzte, meine Seele und meine Gedanken mit meinen Gefühlen in Einklang zu bringen. Was für einen Großteil der Menschen wieder bedeutet, dass ich verrückt bin.“

Die Anwesenden schauten ihn schweigend und mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken an. Orsolya war der Kuchen förmlich in der Backe steckengeblieben und beulte diese aus. Vor lauter Mitgefühl standen schon wieder Tränen in ihren Augen. Dominik zückte ein Taschentuch und reichte es der Haushälterin.

Völlig überrascht von dieser Geste, schluchzte sie:

„Danke.“

„Aber nicht so laut schnäuzen. Das stört!“, befahl er barsch.

Der Hausherr blickte skeptisch zu seinem Schwager. Er konnte nicht leugnen, dass dessen zusammengestellter Lebenslauf irgendwie einen Sinn ergab. Máté hatte nichts vergessen, fast nichts.

Máriska strich über die Hand ihres Bruders und sagte:

„Du hast kein einfaches Leben. Vor allen Dingen bist du einen sehr einsamen Weg gegangen, das ist schlimm. Aber du darfst mir glauben, dass ich gerne an deinem Leben teilgenommen hätte und wahrscheinlich wir alle.“

„Wer ist András Horvát?“, stellte der Hausherr als Frage in den Raum.

„Das ist der einzige Freund, den ich habe und der mir in den schweren Stunden hilft. Er ist auch mein Geschäftspartner und nimmt die öffentlichen Termine wahr, während ich im Hintergrund die Fäden ziehe, sonst würde es so nicht funktionieren. Habe ich denn jetzt alles zufriedenstellend beantwortet, was dich interessieren könnte, Schwager?“

„Jedenfalls erscheint alles sehr stimmig“, erwiderte Dominik mit einem seltsamen Unterton.

„Kannst du nicht einmal mit deinem Herzen sehen und hören? Sieh dir doch mal den ganzen Menschen an“, reagierte seine Gemahlin ungehalten auf die unausgesprochene Unterstellung ihres Mannes.

„Oh, ich schaue mir immer den ganzen Menschen an. Körper, Haltung, Stimme, Augen und die Lebensgeschichte. Ich weiß in den meisten Fällen, wen ich vor mir habe. Im Falle deines Bruders noch nicht so ganz. Aber vielleicht liegt es auch an meiner Skepsis und meinem Vorurteil, das ich jetzt wohl revidieren muss“, gestand der Graf und schaute dabei Máté genau in die Augen.

„Ich kann meine Lebensgeschichte aber nicht umschreiben, nur damit sie dir besser gefällt.“

Der Hausherr zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Das hat mit gefallen nichts zu tun. Ich bin generell ein vorsichtiger Mensch, also nimm es nicht persönlich. Das ist einfach ein Wesenszug von mir.“

Máriska fand ihren Mann unhöflich und anstrengend. Allerdings schossen ihr Gedanken zu Parallelen von Bálints und Mátés Symptomen durch den Kopf. Sollte sie dies jetzt vorbringen? Sie tastete sich diplomatisch vor.

„Gibt es dafür keinen Namen? Ich meine für deine Schwächeanfälle?“

Máté schüttelte den Kopf.

„Es gibt keinen Namen, jedenfalls keinen, den ich kenne. Du meinst wegen Bálint? Ich würde an deiner Stelle den Ärzten Glauben schenken und dich nicht unnötig sorgen. Er ist bereits ein großer junger Mann, da kommt es schon mal vor, dass Wachstumsschübe schmerzen und von Fieber begleitet werden. Bei einigen im frühen Kindesalter, bei anderen in der späten Wachstumsphase. Aber wenn es dich beruhigt, können wir zu einem Arzt in Wien gehen, von dem ich sehr viel halte.“

Bevor sie nachfragen konnte, lenkte Dominik das Thema wieder auf seinen Schwager.

„Aber was hat sich bei dir verändert? Warum bist du nun gekommen? Jetzt, nach so vielen Jahren?“

„Vermutlich weil ich jetzt erst den Mut hatte, euch zu begegnen. Oder die Sehnsucht stärker war als alle Bedenken. Ich weiß es nicht. Das Verlangen war einfach da, alle noch einmal zu sehen“, bemerkte er traurig, auf den Griff seiner Tasse schauend, während seine Finger nervös daran spielten.

Orsolya wischte sich verängstigt ihren Mund ab.

„Alle noch einmal zu sehen, bevor was …?“

Máté bemerkte selbst, dass er den letzten Satz ungünstig betont hatte, und verbesserte sich:

„Alle noch einmal zu sehen. Punkt. Oder: Endlich alle einmal wiederzusehen.“

Dann lächelte er unsicher und blickte zu Dominik.

„Mehr kann ich dazu nicht sagen. Reicht das, um bleiben zu dürfen?“

„Ich denke schon“, nickte dieser und sah auf seine Taschenuhr.

Orsolya wusste, was jetzt kommen würde, und bevor sie sich wieder ein paar Spitzen gefallen lassen musste, stand sie auf und räumte das Geschirr zusammen mit dem bewusst gewählten Tonfall einer Ansage:

„Das Essen wird heute etwas später wegen familiären Angelegenheiten serviert. Wäre halb sieben dem Herrn Grafen recht?“

Dieser nickte zustimmend und sagte freundlich:

„Ich habe noch einige Schreibarbeit zu erledigen, das passt mir hervorragend. Orsolya, manchmal kannst du Gedanken lesen und bist wahrlich ein Engel. Ihr beide könnt euch sicher derweil allein die Zeit vertreiben.“

Dominik verließ lachend das Zimmer. Die kleine Frau stand wie versteinert mit ihren Tellern in der Hand da und schaute ungläubig zu den Geschwistern.

„Ich habe ihm nichts in seinen Kaffee getan. Wieso ist er plötzlich so nett? Seltsam, hoffentlich wird er nicht krank“, wunderte sich die Haushälterin und wollte hinausgehen.

„Warte, ich helfe dir“, rief Máriska und räumte schon Geschirr auf ein Tablett.

„Oh, nein. Ihr zwei unterhaltet euch jetzt erst mal in Ruhe. Es gibt doch bestimmt noch viel zu erzählen.“

Orsolya tippelte nach draußen.

„Lass uns in den Stall gehen. Ich würde gerne einmal eure Pferde anschauen“, schlug Máté freudig vor.

„Jetzt? Es wird gleich dunkel. Außerdem würde ich lieber noch mehr über deine Krankheit erfahren.“

Ihr Bruder eilte schon zur Tür und holte ihren und seinen Mantel.

„Ja, jetzt. Außerdem gibt es in diesem Haus bestimmt Laternen, die wir mitnehmen können und im Stall gibt es sicher auch ein paar Leuchten, falls es dich im Dunkeln zu sehr gruselt. Von Krankheiten will ich heute erst mal nichts mehr hören“, strahlte er.

Es waren fünf wunderschöne Pferde in den Einzelboxen des Stalls untergebracht. Ebenso gab es drei Abstellplätze für die unterschiedlichen Kutschen. Máté war beeindruckt und betrachtete sie beim Durchschlendern genau. Das Kauen der Pferde und das leichte Schnauben sowie der Duft des Strohs ließen in ihm Erinnerungen aufkommen. Sein Augenmerk fiel auf einen Rappen mit langer, gewellter Mähne.

„Das ist mein Pferd. Sie heißt Zigánká. Es ist wunderschön, im Winter durch die Wälder zu reiten. Wenn du magst, können wir morgen einen kleinen Ausritt durch die Landschaft machen.“

Er streichelte die stolze Stute mit einem Stockmaß von 1,75 Meter, die an seinem Ärmel knabberte.

„Sie ist sehr neugierig und lebhaft. Manchmal wird sie auch vor die kleine Kutsche gespannt. Dann haben wir noch unseren Muraköser Gidran, wenn es ordentlich was zu ziehen gibt. Das da sind unsere zwei Querbeet Züchtungen. Kincsem, unsere liebe Stute, und Kengyel, ein kleiner Wilder. Ich meine ja immer, es wären Noniuspferde, aber Dominik belächelt das. Das da hinten ist Dominiks Arabermischling Sólyom. Schnell, groß, wendig, aber schwierig im Charakter, wie sein Besitzer eben auch.“

Sie schaute Máté an.

„Hörst du mir eigentlich zu?“

Er streichelte immer noch ihre Stute und antwortete:

„Ja, gerne. Gleich morgen ausreiten, klingt gut.“

Fragend blickte sie auf, während er sich ertappt fühlte.

„Ich habe nicht wirklich zugehört, entschuldige.“

„Und wo warst du gerade gedanklich?“

Er zuckte die Schultern.

„Einfach kurz nicht da.“

„Gut, wir reiten morgen aus. Ich mache mir trotzdem Gedanken um Bálint, weil es so verdammt nach dem klingt, was auch dich quält.“

Ungehalten antwortete er:

„Steigere dich da jetzt nicht so rein. Nur weil ich ähnliche Symptome habe, muss es sich bei deinem Sohn nicht auch darum handeln. Alle unsere männlichen Vorfahren hatten in der Wachstumsphase diese Probleme und dann waren sie wieder verschwunden. Opa, Papa …“

„Mein Kind leidet! Du bist ein Verwandter und es klingt, als wenn es genauso schlimm ist wie bei dir damals. Was, wenn es etwas Erbliches ist und ihr beide davon betroffen seid und es eben nicht wieder weggeht? Ich mache mir einfach nur Gedanken, kannst du das nicht verstehen?“

Máté drehte sich wütend zu ihr und packte sie unwirsch an den Schultern.

„Ich habe dir gesagt, dass es sich bei ihm nicht um die Art Krankheit handelt, die ich habe, also glaub mir gefälligst!“

Im gleichen Moment erschrak er über sich selbst und ließ seine Schwester los, die ihn fassungslos anstarrte. Bemüht, die Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen, drehte er sich beschämt von ihr ab.

„Es … es tut mir leid, Máriska.“

„Schon gut.“

„Nein, ist es nicht. Ich bin im Moment einfach so angespannt und durcheinander.“

„Wenn du darüber nicht reden willst, verschieben wir es einfach. Schau, da oben. So einen Boden mit Stroh gab es bei uns zu Hause auch, weißt du noch? Da haben wir beide immer viel Blödsinn gemacht. Wollen wir hochklettern und uns an die tollen Zeiten von früher erinnern?“

Erwartungsvoll wartete sie auf eine Reaktion. Ihr Bruder wandte sich ihr mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zu, der sie ängstigte. Es war diese Leere in seinen Augen – gepaart mit Angst, Verzweiflung und doch unbändigem Zorn. Er nahm sie schweigend in den Arm und hielt sie ganz fest. Liebevoll küsste er ihre Stirn und nahm den ihm so vertrauten Geruch ihrer Haut wahr. Máriska genoss diese innige Umarmung. Es erinnerte sie daran, wie ihr Vater sie umarmte, wenn sie früher traurig gewesen war. Langsam ließ er sie los und nahm ihre Hände in seine, um diese zu liebkosen. Fast flehend kamen die Worte über seine Lippen.

„Sei mir nicht böse, aber ich würde gerne ein wenig allein sein. Ich bleibe einfach hier und sortiere meine Gedanken. Darf ich das?“

„Du musst doch nicht fragen, wenn es dir guttut, mache es. Du sollst dich hier wohlfühlen. Wenn es dir zu viel wird in unserem Trubel, dann zieh dich einfach zurück. Du hast dein Zimmer, den Hof, den Stall und kannst dich auch im Haus ganz nach Belieben frei bewegen. Sag mir bitte einfach nur, wenn du etwas brauchst oder reden möchtest, ja?“

Er nickte und setzte an, um noch etwas hinzuzufügen, doch Máriska hielt ihm ihren Finger vor den Mund.

„Es ist in Ordnung. Ich bin glücklich, dass du wieder da bist. Alles andere können wir zu einem anderen Zeitpunkt besprechen.“

Sie verließ den Stall und lief langsam zum Haus zurück.

Máté war nun allein mit seinen Gedanken. Er blickte aus dem Stallfenster zur untergehenden Sonne, die gerade die letzten Strahlen ihres Lichts mit sich nahm. Verzweifelter Zorn ließ ihn in ein paar aufgetürmte Strohballen an der Wand einschlagen. Vor ihnen sank er in sich zusammen und blieb auf dem Boden sitzen.

Der Schatten des Werwolfs

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