Читать книгу Der Schatten des Werwolfs - Cecilia Ventes - Страница 21
Der alte Gutshof
ОглавлениеErvin hatte die Pferde gesattelt und führte diese aus dem Stall. Es war ein wunderschöner Tag. Der pulverige Schnee glitzerte im Schein der Sonne und der Himmel zeigte sich in strahlendem Blau. Die beiden Geschwister stiegen auf ihre vorbereiteten Rosse. Máriska überließ Máté Zigánká. Sie entschied sich für Kengyel.
„Richte Orsolya bitte aus, dass wir gegen Mittag zurück sind. Sie soll sich keine Sorgen machen“, sagte die Gräfin noch schnell zu dem Haushelfer, bevor beide losritten.
Gemächlich schritten die Pferde beim Verlassen des Innenhofs nebeneinander her.
„Wie geht’s dir heute Morgen?“, fragte Máté besorgt.
„Na ja, ich habe heute Nacht schon viel gegrübelt und war unruhig. Das konnte ich vor Dominik nicht verbergen. Aber heute wird es wohl noch schlimmer werden. Jetzt, wo ich das alles weiß, lese ich die Briefe mit einem ganz anderen Hintergrund und einiges wird verständlicher. Auch deine Zeilen erscheinen mir plötzlich so ganz anders.“
Sie atmete tief durch.
„An welchen Tagen passiert denn deine Verwandlung genau? Ich meine, üblicherweise sagt man, dass Werwölfe sich bei Vollmond verwandeln – üblicherweise, jedenfalls in den Gruselgeschichten. Also, wenn du so eine Kreatur sein würdest …“
„Ich bin so eine Kreatur“, erwiderte er kurz.
Mit traurigem Gesichtsausdruck beteuerte sie:
„Ich glaube dir doch, ehrlich. Dass du nicht mehr weißt, was in diesem Zustand passiert oder es für andere gefährlich ist, aber das mit dem Werwolf … fällt mir sehr schwer und will einfach nicht in meinem Kopf. Das wäre Hexerei und so etwas gibt es doch nicht. Ich glaube daran jedenfalls nicht. Wenn das rauskommen würde, wärst du nirgends mehr sicher. Sie würden dich jagen und als Geschöpf des Teufels entweder fangen und ausstellen oder hinrichten.“
„So wie in den Zeitungen von Wien gefordert? Du erzählst mir da nichts Neues, liebe Schwester. Das ist der Grund, weshalb ich genauso lebe, wie ich lebe. Kannst du das jetzt verstehen?“
Er schaute zu ihr hinüber und vernahm ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck.
„Du darfst auf keinen Fall den Fehler machen, etwas von mir in dieser Bestie sehen zu wollen. Im Gegenteil, ich möchte, dass du gehst, bevor ich mich verwandele, damit du gar nicht in Versuchung geführt wirst, etwas Gutes in mir zu sehen. Das musst du mir versprechen! Versprich es mir, bitte!“, forderte er ungehalten ein.
„Ich habe dir doch schon mehrfach gesagt, dass ich es dir verspreche. Ich schwöre es dir! Zufrieden?“
Obwohl ihre Beteuerung nicht sehr einsichtig klang, hoffte er darauf, dass die Geschichte des Fluchs sie überzeugen würde.
„Mit dem Verschwinden des letzten Sonnenstrahls beginnt meine Verwandlung. Der Mond hat damit nichts zu tun. Es war anfangs überhaupt nicht möglich zu wissen, an welchen Tagen es passierte. Wir mussten uns überraschen lassen und die ersten Jahre erst einmal akribisch alles dokumentieren. Trotz unserer Recherche sind wir nur durch einen günstigen Zufall darauf gestoßen, dass es mit dem Todestag der Männer und Frauen zu tun hatte, die unser Vater durch Intrigen vor Gericht gebracht hatte, und die unschuldig im Gefängnis verstarben oder hingerichtet wurden. An deren Sterbedatum ereilt mich nachts der Fluch. Alle Verurteilten sind bereits gestorben. Unser Vater hat schlimme Dinge getan, sehr schlimme.“
Es klang fast bedrohlich, wie Máté das sagte. Gespannt zuckte sie mit den Schultern.
„Ich möchte trotzdem alles wissen. Egal, wie beschämend die Wahrheit sein wird. Wir haben etwas mehr als eine Stunde Zeit, bis wir an diesem alten Gutshof sind. Ich werde dir also aufmerksam zuhören.“
Er war gewillt, ihr alles über den Fluch zu offenbaren, jedenfalls fast alles.
„Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Es begann damit, dass Papa, obwohl er bereits mit Mama verheiratet war, eine geheime Liebschaft mit einer sehr jungen Zigeunerin namens Ileana Dumitrescu pflegte. Wie er sie kennenglernt hatte und wie lange das alles ging, weiß ich nicht.“
„Fremdgegangen?“, empörte sie sich laut.
„So etwas kommt in den besten Familien vor. Unser Vater war kein Heiliger, stelle dich darauf schon mal ein. Schau mal, wie schön die schneebedeckten Hügel in der Sonne glänzen.“
„Bitte erzähle weiter und lenk nicht ab.“
„Irgendwann kam es zwischen den beiden zum Streit. Warum, weiß so richtig niemand, jedenfalls ich nicht. Er soll Ileana dann im Zorn schwer misshandelt und auch vergewaltigt haben. Er leugnete diese Tat immer, wohl, weil er die Rache der Zigeuner fürchtete. Denn Ileana war nicht nur jung, sondern sehr jung, zu jung und als verheirateter Mann Schande über eine junge Frau zu bringen, entehrte alle. Unsere Familie, die Sippe – und so blieb nur eines: nämlich, es zu verheimlichen, besser gesagt zu leugnen. Natürlich erzählte Ileana ihrer Mutter davon und die blauen Flecken konnte sie wohl auch nicht verstecken. Das war der Auslöser.“
Máriskas Blick blieb starr. Sie streichelte den Hengst und schaute dann zu Máté hinüber, der pausierte.
„Was? Ich höre erst bis zum bitteren Ende zu. Wenn ich jetzt Fragen stelle, verliere ich wahrscheinlich den Überblick. Noch ist es wie eine Geschichte, die jemand anderem passiert ist, denn ich kenne unseren Vater als sehr liebevollen und sorgsamen Menschen. Also, erzähle weiter.“ Er nickte und fuhr fort:
„Unser Vater, sah nur eine Chance, dem Ganzen zu entrinnen und intrigierte gegen die ganze Sippe. Die Zigeuner rebellierten von Anfang an gegen ihn und irgendwie spitzte sich alles zu. Schnell wurden Drohungen ausgesprochen und ihm aufgelauert. Nicht nur, weil er sie geschlagen und über sie hergefallen war, sondern auch, weil herauskam, dass Ileana zum Zeitpunkt der Misshandlung bereits schwanger gewesen war. Die Sippe behauptete, Lévente sei der Vater des Kindes. Ileana und das Baby starben bei der Geburt im Gefängnis, denn dort hatte er auch sie hinbringen lassen. Er fädelte etwas ganz Raffiniertes ein und beschuldigte den damaligen Sippenführer Zsonzo Barasái der Tat an Ileana, aber dies konnte er nur seinen Getreuen weismachen.
Dieser kleinen Gruppe von umherziehenden Leuten wurden weitere Verbrechen untergeschoben. Verbrechen, von denen sich die eigentlichen Schuldigen bei unserem Vater freikauften und ihm dafür ihre uneingeschränkte Loyalität schwuren. So standen plötzlich Schuldige als Zeugen vor Gericht, um die Unschuldigen für etwas verantwortlich zu machen, was sie nie getan hatten. Unser Vater hatte hier einen genialen Plan und ein Netzwerk erschaffen, um das Recht für sich zu beugen und die Richter gleich mit. Diese unliebsame Sippe vermisste niemand in dieser Gegend, deshalb war es den meisten auch egal, wie sich derer entledigt wurde. So erzählte man es sich jedenfalls. Dokumente wurden zerstört, Namen geändert und die, die es hätten aufklären können, waren Teil dieses Komplotts und schweigen bis heute, sofern sie noch am Leben sind. Dieser Plan wurde bis zum bitteren Ende verfolgt.
Die Zigeuner wurden zum größten Teil direkt ausgelöscht oder eingesperrt. Katalin Dumitrescu, die Mutter von Ileana, schaffte es irgendwie zu entkommen. Sie rächte sich für den Tod ihrer Tochter, ihres Enkels und ihrer Sippenmitglieder, indem sie den Fluch des Werwolfs für seinen ersten männlichen Nachkommen aussprach. Das war ich. Der Fluch besagt, dass an dem Datum, an dem ein Sippenmitglied hingerichtet wurde oder im Gefängnis verstarb, ich mich nachts zu einem Werwolf verwandele. Genauso vollzieht sich jetzt der Fluch seit meinem achtzehnten Geburtstag bis zu dem Tag, an dem ich für immer die Augen schließen werde.“
Máriska war schockiert. Beide stoppten ihre Pferde und sie dachte laut nach.
„Deshalb haben sich alle von Papa abgewandt. Mama, Tante Eszter und einige Nachbarn. Seine Freunde waren die, die mit ihm in einem Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen gefangen waren. Das ist ja furchtbar. Wie konntest du solange allein mit diesen Tatsachen leben? Wieso hat mir davon niemand etwas gesagt?“
„Du warst ein kleines Kind, als Papa fremdging und später wollte niemand darüber reden. Das, was ich darüber weiß, hat mir nur unsere Mutter erzählt. Außerdem leugnete unser Vater diese Vaterschaft und die Tat an Ileana bis zum Schluss und befand, dass es für ihn keine andere Chance gegeben hätte, sich der fälschlicherweise gegen ihn gerichteten Rache der Zigeuner zu erwehren. Und …“
Máté verfiel in Schweigen.
„Und was? Was denn noch?“, fragte sie unruhig nach.
Ihr Bruder trieb sein Pferd wieder an und sie folgte.
„Vater konnte es nicht ertragen, einen Werwolf in der Familie zu haben. Er meinte, dass es kein Leben ist, als Werwolf sein Dasein fristen zu müssen. Es wäre für alle belastend und gefährlich. Anfänglich glaubte ich noch an eine Krankheit, bis Mama mir erklärte, dass es eben ein Fluch war. Sie ließ nichts unversucht, diese Verwünschung rückgängig zu machen, aber wir scheiterten. Wien schien deshalb geeigneter für einen wie mich, Fuß zu fassen. Unsere Mutter lehnte irgendwann jegliche Hilfe von ihm ab: Geschenke, Geld und auch seine Besuche. Warum das alles so kam, habe auch ich erst später erfahren.“
„Aber da muss doch etwas vorgefallen sein. Wieso hat sie mich einfach zurückgelassen und nichts gesagt? Nicht mehr geschrieben oder mich zu Besuch eingeladen?“
„Schmerz? Sorge? Ich weiß nicht, welche Abmachung die beiden getroffen haben, aber glücklich war sie über all das nicht. Niemand war es und trotzdem blieb es dabei, dass wir uns ein anderes Zuhause aufbauten. Besonders wegen eines Vorfalls.“
Máriska öffnete ihren Kragen.
„Mir wird ganz heiß. Das ist die Aufregung. Erzähl weiter, sonst halte ich das alles nicht aus. Was denn für ein Vorfall?“
„Also gut. An einem Tag im Winter, als es bereits dunkel geworden war und ich mal wieder etwas später nach Hause kam, schloss ich die Haustür auf und summte noch ein Liedchen vor mich hin. Ich bemerkte nicht, dass jemand im Treppenhaus auf mich gewartet hatte. Hinterrücks stach plötzlich jemand mit einem Dolch mehrfach auf mich ein. Mama hörte mich schreien und kam sofort die Treppe heruntergerannt. Sie schoss auf den Angreifer und traf ihn am Arm. Daraufhin flüchtete er. Das ganze Haus war plötzlich wach und alle kümmerten sich um mich. Wie du siehst, habe ich es überlebt.“
Sie stoppte Kengyel. Betroffen und fassungslos folgte ihr Blick dem Mitreiter.
„Wieso hatte Mama gleich eine Waffe parat? Wusste sie, dass dir jemand nach dem Leben trachtet?“
Stumm zuckte er die Schultern und ritt weiter.
„Sie hatte mir bis dahin nichts davon gesagt, wahrscheinlich weil sie es selbst nicht glauben wollte.“
Sie trieb ihr Pferd wieder an und seufzte, so, als wenn sie es schon ahnen würde.
„Und wer war der Täter?“
„Unsere Mutter war überzeugt davon, dass es unser Vater gewesen war. Sie arrangierte kurz danach ein Treffen mit ihm und konnte ihn an einer Wunde am Arm praktisch überführen, aber er leugnete es. Sie zeigte ihn nicht an, denn sie hatte zu viel Angst, dass dann Dinge herauskommen würden, die wir seit meinem achtzehnten Lebensjahr versuchten zu verheimlichen. Trotz seiner Beteuerung, dass es ihm aufrichtig leidtäte, glaubte sie ihm kein Wort. Deshalb durfte ich ihn nie sehen oder in der Nähe sein, wenn er mal zu Besuch kam. Nach diesem Abend war ich auch extrem vorsichtig geworden. Mein Freund András wurde ab diesem Augenblick nicht nur mein Geschäftspartner, sondern auch mein stetiger Begleiter. Er selbst war über diesen Anschlag so schockiert gewesen, dass er mir nicht mehr von der Seite wich. Ich war damals zwanzig Jahre alt. Mit dem Tod unseres Vaters kam für mich ein Stück Erleichterung in mein Leben zurück. Ich musste keine Angst mehr haben, dass er einen neuen Versuch unternehmen oder jemanden beauftragen würde, mich zu töten.“
„Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist alles so furchtbar. Warum hast du denn nie etwas gesagt oder davon geschrieben? Ich dachte, unser Vater zerbrach daran, dass er dich nicht sehen durfte und Mama ihn nicht mehr zurückhaben wollte. In Wirklichkeit hat er dir nach dem Leben getrachtet, Mama betrogen, Menschen in ihr Unglück gestürzt und viel anderes Unheil angerichtet. Ich kann das alles gar nicht fassen. Ich kenne unseren Vater ganz anders: Lieb, fürsorglich, leidend über den Familienzerfall und herzensgut zu meinen Kindern und anderen. Wie kann das alles zusammenpassen?“, stellte sie völlig aufgelöst fest.
„Wollen wir einen Schneemann bauen?“, fragte Máté mit einem Lachen. Seine Schwester starrte ihn entgeistert an und stammelte verwirrt:
„Was? Einen Schneemann? Jetzt? Máté, meine Welt stürzt gerade zusammen! Gestern das über dich und jetzt diese verworrene Familiengeschichte …“
Er brachte beide Rosse zum Stehen, indem er ihr in die Zügel griff. Schwungvoll sprang er aus seinem Sattel und hob danach Máriska aus ihrem. Er streichelte ihre kalte Wange, lächelte sie zuversichtlich an und beteuerte:
„Deine Welt muss nicht auseinanderfallen. Behalte alles so in Erinnerung, wie du es kennengelernt hast. Schließe einfach nur deine Wissenslücken, um das eine oder andere besser zu verstehen. Unser Vater hat dich und deine Kinder geliebt – genau, wie er Mama geliebt hat. Da bin ich mir sicher. Vielleicht hat er sogar mich geliebt und wusste einfach, dass ich mich nicht wohlfühlen werde in dieser Welt. Er hat nur in einem unachtsamen Moment die Folgen seines Handelns nicht bedacht. Wahrscheinlich hat er sogar die junge Zigeunerin geliebt. Wer will von uns zwei jetzt noch darüber richten? Wir haben ein Stück gemeinsame Geschichte und jeder hat zusätzlich noch seine eigene. Auf jeden Fall wollte jeder Elternteil für uns nur das Beste und das ist wichtig.“
„Wie kannst du das so hinnehmen? Wir hatten einen egoistischen, selbstsüchtigen, gewissenlosen Menschen als Papa“, wunderte sie sich verstimmt.
„Aber ich kann es nicht mehr ändern; nur lernen, damit zu leben. Wenn ich anfange, ihn dafür zu hassen, werde ich meines Lebens nicht mehr froh und bin mit ihm mehr verbunden als ich es möchte. Ich habe mein Leben, ob es mir gefällt oder nicht, deshalb muss ich meine Probleme lösen und meinen Weg gehen. Was nützt es, jemandem dafür Vorwürfe zu machen, der nicht mehr lebt oder daran nichts mehr ändern kann? Das habe ich gelernt. Glaube nicht, dass ich deine Reaktion nicht verstehe, aber unser Vater war für dich etwas anderes als für mich. Gönne ihm die Freude und genieße, dass er dir die Liebe schenken konnte, die du gebraucht hast, um die Frau und Mutter zu werden, die du heute bist.“
Sie blickte hilflos und sprachlos umher. Er hatte Recht, dennoch hatte sie gehofft, etwas anderes über die Familie zu erfahren als das. Plötzlich wurde sie gepackt und in den Schnee geworfen.
„Also gut, wenn wir keinen Schneemann bauen, dann machen wir eine Schneeballschlacht.“
Er formte Schnee zu einer Kugel und wollte so die aufkommende Schwermut seiner Schwester vertreiben. Sie feuerten einige Schneebälle hin und her.
„Du bist albern, ich bin gerade untröstlich und fühle mich verloren“, lachte sie ihren Bruder irritiert an, während sie sich das weiße Pulver aus dem Gesicht wischte und aus den Haaren schüttelte.
Er stieg wieder auf sein Pferd und meinte:
„Wieso? Ich bin doch da, falls du dich also verloren fühlst … Willkommen in meiner Welt. Du wolltest unbedingt teilhaben. Jetzt bist du drin. Dann sind wir schon zwei und geteiltes Leid ist nur halbes Leid, oder wie war das?“
Er trieb Zigánká an und ritt mit einem Lachen davon. Máriska wusste nicht, ob sie weinen oder ebenfalls lachen sollte. Er verhielt sich sonderbar, wahrscheinlich wollte er sie ablenken und auf seine Art trösten. Ihre Gefühle waren trotzdem aufgewühlt. Sie stieg wieder auf Kengyel und musste sich mächtig anstrengen, ihn einzuholen.
„Na, auch schon da?“, belächelte er ihren Gesichtsausdruck, den er sehr gut deuten konnte. Sie brachte ihre gelebte Realität noch nicht mit dem zusammen, was sie eben gehört hatte.
„Hör auf zu grübeln. Es wird dir nichts bringen. Ich kann dir das aus Erfahrung sagen. Los, auf drei galoppieren wir. Wir wollen heute ja noch ankommen.“
Sie gab nach und folgte ihm.
Am Gutshof angekommen, banden sie ihre Gäule am Gestell des alten Brunnens fest.
„Hier bin ich noch nie gewesen“, murmelte sie und sah sich mit einem Unwohlsein um.
Máté führte sie durch den Vorraum der alten Stallung, direkt in das Verlies, wo noch seine Ketten, Fesseln und die Schlösser lagen. Máriska fand das Gemäuer unheimlich und der Anblick dieser Werkzeuge, die für Gefangenschaft und Freiheitsberaubung standen, verursachte ein eigenartiges Gefühl in ihr. Die mitgebrachte Lampe erhellte den dunklen Raum nicht besonders stark, dennoch konnte sie alles einigermaßen erkennen. Sie beugte sich hinab und betrachtete die verschiebbaren Metallringe für die Gelenke und den Hals, dann fiel ihr Blick auf die eingelassenen Verankerungen in der Wand, an denen die Ketten angebracht waren. Behutsam strich sie über die Halsfessel und blickte verzagt zu ihrem Bruder.
„All das wird benötigt, um dich anzuketten und zu fesseln? Und dann liegst du die ganze Nacht hier im Kalten herum? Stell dir vor, es kommt jemand, der dir Böses will. Du könntest dich nicht einmal wehren.“
Er schmunzelte nachdenklich.
„Diesen Gedanken habe ich bisher noch nicht in Erwägung gezogen. Seltsam eigentlich. Komm, ich führe dich noch durch das Haus, den Gang, der die beiden Gebäude verbindet und dann reiten wir schleunigst zurück. Morgen zeige ich dir genau, wie du mir die Sachen anlegen musst.“
Wie in Trance musterte sie die Ketten und wurde traurig.
„Hallo, meine Prinzessin? Nicht träumen“, hauchte er und tupfte ihr mit seinem Finger auf die Nase.
„Komm, mache es dir und mir nicht schwerer als es ist. Ich kenne diese Situation und du wirst auch lernen, damit umgehen zu können.“
Er nahm ihr die Fesseln aus den Händen und zog sie ungeduldig aus dem Gebäude. Direkt am Eingang fielen ihm aus dem Augenwinkel frische Spuren im Schnee auf. Diese führten hinter die Stallung. Diese Tatsache ließ er sich nicht anmerken und stieg auf sein Ross.
„Los geht’s. Ich kriege langsam Hunger. Orsolya ist bestimmt schon am Kochen, da dürfen wir nicht zu spät kommen“, rief er.
Máriska saß ebenfalls auf. In diesem Moment erinnerte sie sich an die früheren Zeiten und grinste ihn spitzbübisch an.
„So gefällt mir das besser“, erwähnte er mit einem Augenzwinkern.
Weit nach vorne gebeugt, flüsterte sie in das Ohr von Kengyel:
„Mach dich bereit, mein Kleiner. Es gibt etwas zu gewinnen. Wer weiß, ob er sich auf Zigánká überhaupt noch halten kann bei unserem Tempo.“
Der Hengst schien sich umgehend in Position zu stellen und erhöhte seine Körperspannung. Máté spitzte neugierig die Ohren.
„Was plapperst du denn da?“
Ohne Vorwarnung schlug sie die Schenkel in die Seite des Pferdes und schrie:
„Wer zuerst zu Hause ist, bekommt den Nachtisch des anderen.“
Sie riss die Zügel herum und der kleine Wilde stürmte los. Diesen Wettkampf hatten sie früher immer gemacht, wenn sie mit ihren Pferden unterwegs gewesen waren. Er ließ sich freudig darauf ein und folgte mit der Gewissheit, dass er auch zwanzig Jahre später mit seiner Strategie einen zusätzlichen Nachtisch ergattern würde.
Beide kamen pünktlich zum Mittagessen nach Hause. Orsolya hatte Griebenpogatschen mit Gulaschsuppe gemacht und in der Küche den Tisch gedeckt. Ervin blätterte in der Zeitung. Sein Magen knurrte schon vor Hunger. Máriska bevorzugte es, hier zu speisen, wenn die Kinder und Dominik nicht anwesend waren. Erstens war es wärmer als in den anderen Räumen und zweitens, das war für sie eigentlich der Hauptgrund, konnte man kleckern, weil hier keine Tischdecke aufgelegt war. Rundum, es war in der Küche einfach gemütlicher, auch wegen dem Wohlgeruch des Raumes. Getrocknete Paprika, Peperoni und geflochtene Knoblauchringe hingen an der Wand. In den Regalen standen Körbe, die mit Zwiebeln und Kartoffeln befüllt waren und ebenso Gläser mit eingemachtem Obst und Gemüse. Der Ofen gab eine wohlige Wärme ab. Die getrockneten Gewürze hingen von der Decke und verströmten einen angenehmen Duft. In den alten Holzregalen standen Tontöpfe mit Mehl, Gries, Salz und verschiedenen Paprikapulvern. Endlich saßen alle am Tisch. Máriska schöpfte die Suppe in die Teller und kleckerte. Orsolya zog einen Lappen aus ihrer Schürze, tupfte vom Holztisch die kleine Pfütze weg und grinste Máté an:
„Manche Dinge ändern sich nie.“
„Wir wollen morgen Abend zu einem alten Freund von Máté. Er übernachtet dort übrigens auch“, erzählte die Hausherrin freudig und brach dabei die dampfende Griebenpogatsche auseinander.
„Was ist das denn für ein Freund? Wohnt der hier in Szamárhegy? Und was willst du denn dort, wenn es sein Freund ist?“, wunderte sich Orsolya.
„Du darfst alles essen, Orsolya, aber deshalb noch lange nicht alles wissen. Schon deshalb, weil es ein Freund ist, den du schon in meiner Jugendzeit nicht sonderlich gemocht hast. Und außerdem wohnt er nicht mehr in diesem Ort“, log der junge Herr ganz unverblümt und löffelte weiter seine Suppe.
„Habe ich dir schon gesagt, dass du die beste Suppe weit und breit machst, Orsolya? So eine Suppe gibt es noch nicht mal in den besten Häusern von Wien“, lobte er das Essen.
Die Haushälterin beäugte ihn skeptisch und schimpfte:
„Du brauchst gar nicht versuchen, mich um den Finger zu wickeln und von meiner Frage ablenken.
Ich muss dem Grafen ja sagen können, wohin sein Besuch ist und wo seine Frau sich mit ihm zusammen herumtreibt. Warum gehst du überhaupt mit ihm, Máriska? Willst du dann alleine wieder zurückkommen? Im Dunkeln? Was sind denn das plötzlich für Sachen?“
Die Gräfin beruhigte die Haushälterin, die sich sichtlich Sorgen machte.
„Ich bin wieder zurück, bevor es dunkel wird – allerspätestens, bevor es wieder hell wird.“
Die Geschwister lachten beide über den verdutzten und nachdenklichen Gesichtsausdruck der älteren Frau. Sie sah empört zu Ervin.
„Was sagst du dazu? Findest du das in Ordnung?“
„Sie sind alt genug, Orsolya. Sie müssen dir und mir bestimmt nicht erklären, was sie machen und wohin sie gehen“, grummelte er kauend und zeigte auf seinen leeren Teller.
Sie schöpfte ihm nach und reichte noch eine Pogatsche dazu.
„Ich verspreche es. Ich bin spätestens zum Essen zu Hause. Aber es wäre besser, wenn wir morgen erst um halb sieben speisen würden, anstatt um halb sechs. Sicher ist sicher. Selbstverständlich wird das auch mit Dominik abgestimmt“, erklärte die Gräfin vorsichtig.
Die Ersatzmutter atmete tief durch und zuckte mit den Schultern. Ihre Gesichtszüge spannten sich an, aber sie schwieg, jedenfalls für einen kurzen Moment. Sichtlich aufgebracht äußerte sie dann doch:
„Gut, wenn ihr mir nichts sagen wollt, dann lasst es. Aber ich will wenigstens wissen, wohin ihr fahrt, damit ich weiß, wo wir suchen müssen, falls du nicht pünktlich heimkommst. Es ist dann dunkel, es könnte schneien. Was willst du denn da? Warum musst du dort über Nacht bleiben, Máté? Mir wäre lieber, ihr bleibt beide dort. Sag doch auch mal was, Ervin.“
„Es sind erwachsene Leut´. Du schläfst auch nicht immer hier, sondern bist bei deinem Mann zu Hause. Dann gehst du ja manchmal auch im Dunkeln nach der Arbeit heim und kommst morgens im Dunkeln wieder. Macht sich da einer Sorgen, nur weil du durch die Nacht tappst?“, bemerkte er sachlich.
„Schlimm genug. Aber das ist doch etwas ganz anderes. Ich laufe gerade an das Ende des Dorfes. Den Weg kenne ich. Aber mitten in der Nacht über die unbekannten Wege und Felder zu fahren, wenn alles verschneit oder gefroren ist, halte ich nicht für gut. Der Graf bestimmt auch nicht“, mahnte sie erneut, stand auf und holte den vorbereiteten Nachtisch – eingelegte Aprikosen mit Schmandpudding – von der Arbeitsplatte.
„Also gut, ich sorge dafür, dass sie früh genug aufbricht. Einverstanden?“, versprach Máté, um Orsolya die Aufregung zu nehmen.
„Dann bleibt lieber länger und du kommst mit heim“, fuhr sie ihn an.
‚Heimkommen‘, diese Worte versetzten ihm einen Stich ins Herz. Wie lange hatte er das schon nicht mehr gehört. Zu gut konnte er sich an ähnliche Diskussionen in der Küche von ihrem damaligen Haus erinnern. Máriska haute mit ihrem Dessertlöffel auf den Tisch.
„Ich bin keine zwölf Jahre mehr. Was ist denn los? Ich wohne nicht erst seit gestern hier, also Ruhe jetzt.“
„Ich mache mir doch nur Sorgen. Du warst schon ewig nicht mehr allein unterwegs – gerade jetzt, wo das Unglück da passiert ist. Warum muss das jetzt sein?“, schluchzte die Haushälterin los und zückte ihr Tuch, um ihr Gesicht darin zu vergraben.
„Jetzt geht das wieder los“, murmelte Ervin gelangweilt.
Máriska nahm die Haushälterin in den Arm und sagte:
„Ich habe das nicht so gemeint. Ich weiß doch, dass du es nur gut meinst. Aber ich kann auf mich selbst aufpassen.“
„Ich bin mir da nicht so sicher, Kind“, sagte sie weinerlich und spielte an den Zipfeln ihres Tuches herum. Die Gräfin empfand die Fürsorge als peinlich und übertrieben.
„Und manchmal ändern sich Dinge und Menschen. Es ist doch etwas Besonderes, dass Máté wieder da ist. Da möchte ich doch, dass er eine schöne Zeit hier hat und möglichst viel sieht und alte Bekannte besuchen kann.“
Orsolyas Augen blickten zu dem jungen Herrn, der ihr aufmunternd entgegensah, bis sie sich endlich ein „Na gut“, abringen konnte, wohlwissentlich und hoffend, dass der Graf, in Anbetracht des Unglücks in der Gegend, die Sache unterbinden würde.
„Sobald wir mit dem Essen fertig sind, wollen wir noch etwas in den Briefen von unseren Eltern stöbern. Darf ich dich mit dem Abwasch allein lassen?“
„Ach, wollen wir?“, fragte ihr Bruder verwundert nach.
„Ja“, kam ihre Antwort kurz zurück.
„Heckt ihr was aus? Ich hoffe nicht. Ja, macht. Ich schaffe das schon alleine.“
Ervin sagte beim Essen nicht viel, aber er hörte zu und an seinem Gesichtsausdruck konnte man viel ablesen. Auch, dass der Trubel, der gerade am Tisch geherrscht hatte, ihm doch etwas ungewohnt und zu viel war. Orsolya zog ihm seinen leeren Teller zwischen den aufgelegten Armen weg.
„Da musst du dich jetzt dran gewöhnen. Es ist halt zum Mittagessen wieder etwas mehr Leben im Haus, seit der junge Herr zurückgekehrt ist. Ich finde das wunderbar. Hier, nimm noch eine Pogatsche, die heitert dein grimmiges Gemüt auf.“
Gerade als Máriska den Löffel in ihren Nachtisch tauchen wollte, zog ihr Bruder das Schälchen weg und stellte es, überheblich grinsend, neben seines.
Ervin wunderte sich, aber die ältere Dame wusste genau, was dies zu bedeuten hatte. Máriska hatte gegen ihn beim Reiten verloren und so kommentierte sie lächelnd:
„Sag ich doch, manche Dinge ändern sich, Gott sei Dank, nie.“