Читать книгу Der Schatten des Werwolfs - Cecilia Ventes - Страница 7
Der Besucher
ОглавлениеDer graue Februartag 1858 war immer noch von Nebelschwaden durchzogen, als die abendliche Dunkelheit sich von den Wäldern Szamárhegys heranschlich.
Máriska Utazási stand am Fenster des Wohnzimmers und schaute sehnsuchtsvoll auf den verschneiten Hof des Landguts. Der Winter zog sich dieses Jahr lange hin, denn das Eis und die tiefen Temperaturen wollten so gar nicht weichen. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrem Bruder in jungen Jahren im Schnee herumtollte. Zwanzig Jahre war es nun her, dass er und ihre Mutter einfach das Haus verlassen hatten und nach Wien gegangen waren. Damals war er siebzehn und sie neunzehn Jahre alt gewesen. Und heute, am 26. Februar 1858, kam er endlich zurück nach Ungarn. Wie würde er wohl aussehen? Wie würde es sich anfühlen, vor ihm zu stehen und ihn in die Arme schließen zu dürfen? Mit dem langsamen Verabschieden der Helligkeit vom Tag kroch die Kälte in das Zimmer. Sie zog sich ihre Stola fester um die Schultern und schüttelte ihr langes, tailliertes Kleid mit den Stickereien am Rocksaum etwas auf. Das Pendel der alten Standuhr schlug 16 Uhr. Sie wurde ungeduldig. Ihr Blick schweifte in den liebevoll angelegten Garten, durch die alte Baumallee, die den direkten Weg zum kunstvoll geschmiedeten Eisentor am Grundstückseingang wies.
„Und? Sieht man schon jemanden kommen?“, fragte Orsolya Gombos, die Haushälterin und Köchin der Familie Utazási neugierig, während sie sich durch den Türspalt schob und aus ihren faltigen Augenlidern lächelnd zu Máriska sah.
Orsolya kannte Máriska und Máté schon von Kindesbeinen an. Die siebzigjährige, rundliche Frau, die aus Leidenschaft kochte und aß, war bereits im Dienst von Máriskas Eltern gewesen. Die ältere Dame steckte sich ihren geflochtenen Haarkranz zurecht. Die Frau mit den langen, schwarzgrau melierten Haaren war eine Art Ersatzmutter für die Hausherrin geworden.
Ein Seufzer entwich ihr, als sie ebenfalls aus dem Fenster in die verschneite Landschaft blickte. Aber bevor sich Wehmut über die Vergangenheit in ihr breitmachen konnte, zog sie hektisch das dunkelrote Kleid von Ihrer Ziehtochter zurecht, drehte diese einmal um die eigene Achse, fuhr mit den Fingern durch deren langes, welliges, schwarzes Haar und strich die dunkle Strickstola gekonnt faltenfrei.
„So ist es richtig. Du sollst ordentlich aussehen, wenn dein Bruder kommt und nicht wie ein zerknäulter Stofflappen“, erklärte sie ihr Herumgezupfe und wischte sich dabei eine kleine Träne von der Wange. Die Freude, dass er nun wieder zurückkam, wühlte sie auf.
Máriska legte liebevoll ihren Arm um die kleinere Frau, und so verharrten nun beide in Sehnsucht nach dem Besucher am Fenster.
Barsch und laut ertönte die Stimme von Dominik, als er in das Schreibzimmer eintrat.
„Nur weil ihr aus dem Fenster starrt, kommt die Kutsche nicht früher. Wir essen, wie jeden Abend, um halb sechs. Daran wird sich auch heute nichts ändern. Außer, dass die Speisen aufgrund unseres hohen Besuchs hoffentlich etwas opulenter und notgedrungen auch raffinierter ausfallen werden als üblich.“
Der zynische Unterton des Gutsbesitzers war nicht zu überhören.
Orsolya blickte zu Máriska, die beruhigend über deren Arm streichelte und sagte:
„Ich rufe dich, sobald ich das Klirren des Pferdegeschirrs höre. Ignoriere einfach, was er sagt.“
Die Haushälterin verließ das Zimmer, aber nicht ohne ihre Empörung über die Bemerkung des Hausherrn durch ein lautes „Tse“ kundzutun.
Dominik stellte sich neben seine Frau und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus den seitlich zurückgesteckten Haaren gelöst hatte. Er liebte ihre braunen, kindlich aufschauenden Augen und ihre feinen gleichmäßigen Gesichtszüge. Der groß gewachsene, schlanke Mann hatte seine edle Kleidung, die er üblicherweise für offizielle Anlässe im königlichen Freistaat trug, angezogen. Er wollte damit demonstrieren, dass dieser Besuch etwas Besonderes war, aber eben auch den Stand dieser Familie widerspiegeln. Der sogenannte Klein- oder Bauernadel hatte es in diesen Zeiten immer noch schwer, denn die politischen Rahmenbedingungen waren nach dem ungarischen Freiheitskrieg, der am 13. August 1849 mit der Kapitulation der Revolutionsarmee in Világos bei Arad geendet hatte, im Umbruch und hatten sich für ihn nicht zum Guten geändert. Trotzdem blieb Dominik Utazási den Gepflogenheiten seines Standes treu und legte weiterhin Wert auf seinen Adelstitel, auch wenn dieser nicht mehr die Anerkennung fand, wie vor dem Krieg. Das politische Geschick des Grafen, seine Bildung und das stolze Auftreten hatten ihn bereits frühzeitig in eine wichtige Position der Stadtvertretung gebracht. Das hatte ihm geholfen, Hab und Gut in diesen unruhigen Zeiten zu retten. Jetzt schon reichte sein Einfluss bis in die unterschiedlichen Kammern des Landes, die über Verordnungen entschieden, das Zuteilen von Geldmitteln sowie andere Angelegenheiten regelten. Für Dominiks Familie war das Einkommen gesichert und folglich das Gutshaus, wie auch der dazugehörende Grund und Boden. Allerdings beunruhigten ihn die stetig geführten politischen Diskussionen und Verhandlungen zwischen Ungarn und Österreich. Der Krieg war schon länger vorbei, aber die Versprechungen seitens Kaiser Franz Josephs I. aus dem Haus Habsburg-Lothringen, mussten noch erfüllt werden. Die politischen Lager waren bemüht, dennoch war das Verhältnis brenzlig und eine unüberlegte Geste oder Handlung würde genügen, um die Magyaren gegen Österreich wiederholt aufzubringen. Da war er sich sicher.
Máriska interessierte sich für diese politischen und diplomatischen Machenschaften wenig. Zu wenig – wie ihr Gemahl befand. Er sah es zwar gar nicht gerne, wenn sie sich in politische Angelegenheiten einmischte oder sich dazu in der Öffentlichkeit äußerte, aber er empfand den Austausch mit ihr über ihre Meinungen höchst interessant – zumindest in den eigenen vier Wänden. Es eröffnete ihm ganz neue Denkansätze. Er hätte sich eine Frau gewünscht, die bei offiziellen Anlässen schwieg oder ihm zustimmte, und zwar an den richtigen Stellen eines Gesprächs. Dies schien allerdings nicht machbar, und so mied er es, wenn möglich, sie bei öffentlichen oder politischen Treffen an seiner Seite zu haben. Die Äußerungen seiner Frau entsprangen selten dem strategischen Ansinnen seiner diplomatischen Arbeit oder dem Wissen über die aktuellen Geschehen, somit waren sie für ihn wenig hilfreich, zumindest in Bezug auf seine Karriere. Trotzdem liebte er sie, vielleicht gerade deshalb. Sie dachte und entschied mit ihrem Herzen und nicht mit dem Kopf. Für sie war deshalb alles viel einfacher, als es durch die Politik dargestellt und mit durchschaubarer Doppelmoral diskutiert wurde. In Dominiks Augen war ihre Welt klein, übersichtlich und auf liebevoller Naivität gegründet. Máriska schwieg oft über ihre Gedanken und ließ ihn in seinem Glauben über ihre Person. Dennoch liebte auch sie ihren Mann. Er war fürsorglich und kümmerte sich um das Wohl und Ansehen der Familie. Das beeindruckte sie, ebenso seine Entschlossenheit, wenn er etwas in Angriff nahm. Seine liebevolle und verletzliche Seite zeigte er selten, aber sie erkannte, wenn Verstand und Herz gegeneinander kämpften und letztendlich das Kalkül siegte. Die Familie ging auch ihr über alles, besonders ihre beiden Kinder stellten ein besonderes Glück für sie dar. Sie hielt ihrem Mann den Rücken frei und regelte alles im Haus und um den Hof.
Ein Poltern auf den Treppenstufen im Hausgang unterbrach die innige Zweisamkeit des Ehepaares.
„Erster!“, rief die sechzehnjährige Bianká laut, als sie die Tür aufriss und in das Zimmer sprang. Ihr siebzehnjähriger Bruder Bálint folgte gleich darauf, packte sie, rang sie nieder, setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und legte sie über seine Knie.
„Du hast geschummelt, dafür kriegst du jetzt eine Tracht Prügel!“, stellte er bestimmend, aber mit einem Lachen fest.
Bianká, die über dem Schoß ihres Bruders hing, verschränkte ihre Arme und fragte:
„Darf er das überhaupt, Mama?“
Der Graf fand diese albernen Spielchen in diesem Alter völlig fehl am Platz.
„Wir bekommen Besuch, also benehmt euch gefälligst entsprechend den Erwartungen und du, Bálint, besonders“, fauchte er und strich sich seinen feinen Schnurbart zurecht.
Bálint und Bianká stellten sich sofort aufrecht hin und schwiegen für ein paar Sekunden, dann platzte es aus Bianká heraus.
„Wann kommt denn nun unser Onkel? Ich bin ja so gespannt.“
„Wenn er da ist, traust du dich vor Ehrfurcht sowieso nichts zu sagen, sondern wirst rot, wenn er dich anspricht“, hänselte ihr Bruder.
„Das ist deine Erziehung“, kommentierte der Hausherr das unaufgeforderte Reden seiner Kinder und schaute dabei herablassend zu seiner Frau.
Máriska ignorierte dies und nahm ihre beiden Kinder in den Arm. Bálint hatte sich schon zu einem stattlichen jungen Mann entwickelt, der bereits einen Kopf größer war als seine Mutter. Der sportliche Sohn trat ganz in die Fußstapfen des Vaters, was den Ehrgeiz anging. Bianká beschäftigte sich lieber mit anderen Dingen als mit der Schule. Ihre Noten waren gut, aber sie bevorzugte es, im Hintergrund zu bleiben, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte und es ihrem Vater auch gefiel. Er wollte eine gebildete Tochter, die sich allerdings nicht zu so einer aufmüpfigen Frau entwickeln sollte wie ihre Mutter, denn so ein Wesenszug minimierte das Interesse der heiratswilligen Männer aus gutem Hause.
Máriska gab ihren Kindern einen Kuss auf die Wange.
„Ich hoffe, dass er bald kommt. Nicht nur damit euer Vater pünktlich sein Essen bekommt, sondern ich endlich von meiner Aufregung erlöst werde.“
Sie musterte ihren Sohn und erkundigte sich besorgt:
„Geht es dir heute wieder besser, Bálint?“
Er nickte.
„Hoffentlich, diese Fieberschübe und Krämpfe beunruhigen mich doch sehr, auch wenn sie wohl in deiner Familie üblich sind“, sagte Dominik.
„Es scheint nur noch Pfuscher als Ärzte zu geben. Wissen nix, aber wollen das Unwissen auch noch bezahlt haben. Es freut mich jedenfalls, dass es dir heute wieder besser geht, mein Sohn. Hoffen wir, dass es so bleibt.“
Er lächelte seinen Nachkommen zuversichtlich an.
„Lasst mich bitte mit eurer Mutter allein. Wir haben noch etwas zu bereden“, befahl er dann. Die Kinder folgten und polterten in gleicher Weise die Treppe hinauf, wie sie vorher heruntergepoltert waren. Der väterliche Blick verriet erneut, dass ihm das nicht gefiel.
„Sei doch nicht so. Sie sind genauso gespannt und aufgeregt. Außerdem sind sie zu Hause und noch …“
Sie zögerte, es auszusprechen.
„ … Kinder. Wie schnell ist diese schöne Zeit vorbei.“
„Kinder? Wenn es wieder Krieg geben sollte, geht Bálint zum Militär …“, konterte er schroff und wurde gleich aufgeregt unterbrochen.
„Hör auf! Ich will das nicht hören! Mich interessieren diese verdammte Politik und das Feilschen um Macht und Länder nicht. Bevor ich mein Kind in einen Krieg ziehen lasse, sperre ich es lieber im Keller ein. Wir hatten das alles schon einmal und ich bin nicht erpicht darauf, dass es erneut geschieht. Nur, weil sich die sogenannten Staatsmänner nicht vernünftig unterhalten können, wird mein Kind nicht zum Mörder gemacht.“
Sie versuchte, sich wieder zu fangen, und drehte die Öllampe auf dem Tisch auf. Die Dämmerung hatte den Raum dunkel werden lassen. Sie wechselte das Thema. „Ich weiß, dass du von seinem Besuch nicht begeistert bist.“
Ein abfälliges, kurzes Lächeln zeigte sich auf Dominiks Gesicht.
„Er hat sich zwanzig Jahre nicht blicken lassen, hat immer irgendwelche Ausflüchte gefunden, nicht kommen oder uns empfangen zu können. Wieso ausgerechnet jetzt? Er lebt als gebürtiger Magyar in Wien. In einer Zeit, wo immer noch alle Ungarn gegen Österreich aufstehen sollten und alles im Umbruch ist, reist er aus sentimentalen Gründen, einfach mal so, ungehindert von Österreich nach Ungarn zu seiner Schwester. Die explosive Atmosphäre zwischen den Ländern scheint ihn nicht abhalten zu können. Findest du das nicht seltsam, Liebes? Gut, er hat dir auf deine Briefe immer geantwortet, aber dennoch nie von sich aus an dich geschrieben. Nicht mal zu deinem Geburtstag. Und den Tod deiner Mutter … da war er wohl zu angeschlagen, um diesen zeitnah zu erwähnen.“
Die Gräfin schaute ihren Mann trotzig an.
„Warum kannst du dich nicht einfach mal mit mir freuen? Wieso musst du immer alles hinterfragen? Vor allen Dingen politisch? Ich habe mich solange danach gesehnt, ihn wiederzusehen. Es gibt so viele Fragen, die er mir jetzt vielleicht beantworten kann. Warum ist Mama damals mit ihm weggegangen und nie zurückgekehrt? Wieso haben sich unsere Mutter und unser Vater trotzdem ab und zu getroffen und sich Briefe geschrieben? Warum sind Papa und ich nicht auch einfach nach Österreich ausgewandert?“
„Das hätte noch gefehlt!“
Sie pausierte und nahm die Hände ihres Mannes in ihre.
„Bitte Dominik, alles hat seine Zeit, und vielleicht ist jetzt die Zeit für seinen Besuch gekommen. Versuche, die Politik heute Abend aus dem Spiel zu lassen. Lerne ihn doch erst einmal kennen. Das muss ich doch auch, vielleicht ist er ja wie ein fremder Mensch für mich.“
„Davon gehe ich aus. Was weißt du denn schon über ihn?“
„Ich möchte trotzdem, dass er sich hier wohl fühlt, und zwar nicht als Gast, sondern als mein Bruder und als Familienmitglied. Kannst du das nicht verstehen?“
Dominik atmete tief durch. Er hatte kein gutes Gefühl, was diesen Besuch betraf. Die Umstände seiner Rückkehr, die lange Zeit seiner Abwesenheit, sein seltsamer Ruf in Wien, die lückenhafte und von Gerüchten umwobene Familiengeschichte der Márusis, die ihn schon bei seiner Frau gestört hatte, als er sie ehelichte, machten ihn skeptisch. Schweren Herzens nickte er, küsste sie auf die Stirn und entgegnete beim Verlassen des Zimmers:
„Ich versuche es, Liebes.“