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Mein Freund, der Bildschirm

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Viele Kinder wissen heute mehr über ihren Lieblingsdarsteller in einer soap- Sendung als über ihren Klassenkamaraden. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck [7] warnt: „Kinder sind früher mit Menschen aufgewachsen, heute leben sie überwiegend mit Sachen und Bildschirmen, so dass ihre Bilanz nicht stimmt. Viele von ihnen sind in die innere Emigration gegangen, privatisieren stundenlang hinter einer verschlossenen Tür allein mit dem Bildschirm.“ Dort schauen sie wöchentlich bis zu 40 Stunden lang Fernsehen; dabei sehen sie 800 Gewalttaten und 150 Morde! Laut einer UNESCO-Studie hat ein zwölfjähriges Kind im Laufe seines Lebens 14.000 Morde im Fernsehen erlebt! Und wenn, wie dieses Jahr geschehen, ein 15-jähriger ostdeutscher Jugendlicher seinen Selbstmord über einen chatroom im Internet verkündet, so ist dies nicht nur ein persönlicher Hilferuf, sondern der einer ganzen Generation, die weniger virtuelle Kommunikation als vielmehr menschliche Begegnung braucht.

Ein Vakuum, dass die Industrie gewinnbringend zu nutzen weiß: Vorbei sind die Zeiten der unpersönlichen Handys. Für mehr persönliche Ansprache sorgen Buddys d. h. digitale Wesen, die allerlei sinnvolle Dinge erledigen wie z. B. Zugverbindungen heraussuchen. Die guten Geister verfügen über eine sogenannte emotionale Intelligenz: Sie können lachen, traurig und auch muffelig sein, je nachdem, wie sie behandelt werden. Sie reagieren auf ihre Umgebung mit vielen unterschiedlichen Wesenszuständen – von ausgelassener Freude bis hin zum Wutanfall. Sie lernen ständig hinzu und entwickeln allmählich ihre eigene Persönlichkeit. „Die Wahrscheinlichkeit, dass einer dem anderen gleicht, ist eine Million Mal geringer als die Chance auf eineiige Drillinge“, sagt Andreas Höss, der Vater dieser guten Geister, die er in seiner Firma in Potsdam/ Babelsberg kreierte. Dabei erfüllte er sich den alten Kindheitstraum mit dem Teddy oder der Puppe kommunizieren zu können.

Diesen Traum nach ständigem Gefragt- und Wichtigsein scheinen viele Kinder auch in ihrer SMS-Sucht auszuleben. Für das Jahr 2002 meldete das Wirtschaftsinstitut IW allein in Deutschland 14 Milliarden SMS-Botschaften, wobei die Altersgruppe der 12- bis 25-jährigen überwiegt! In Skandinavien, wo das Handy zur Grundausstattung gehört, ist der SMS-Entzug längst zum Tagesgeschäft vieler Kliniken geworden.

Wie gut sich die Sehnsucht nach Emotionen vermarkten lässt, zeigt die zweite Generation der Tamagotchis aus Tokyo. Jetzt brauchen diese Plastikwesen nicht nur die Aufmerksamkeit ihrer Besitzer, sondern auch die Liebe von Artgenossen, also eines zweiten Tamagotchis. Diese beiden können dann heiraten und virtuellen Nachwuchs in die Welt setzen.

Es gibt Kinder, die in ihrer Kindheit so wenig Zärtlichkeit und Liebe erhalten, dass sie sich von Menschen verraten fühlen. Sie errichten innere Schutzmauern, um nicht mehr enttäuscht, gekränkt und verletzt zu werden. Mit diesem Gefühlspanzer suchen sie die verlockende und scheinbar unkomplizierte Bindung zu ihren Bildschirm-Freunden (Fernseher, Gameboy, Playstation, Computer usw.). Sie verdrängen Isolation und Langeweile, kompensieren Stress und Einsamkeit, verschaffen Erfolg und Kick. Die Psychologin Jirina Prekop [8] erläutert, wie schnell Kinder dabei in einen Teufelskreis geraten: „Je mehr sich der Mensch der Realität der Mitmenschlichkeit entzieht, umso mehr sucht er das Scheinbare. Und je mehr er im Scheinbaren seine Scheinidentität sucht, desto mehr entfernt er sich von der Realität der Mitmenschlichkeit.“ Dazu bemerkte Woody Allen treffend: „Das Schlimmste am Fernsehen ist, dass es von der Einsamkeit ablenkt.“

Ob die virtuelle Welt die kindliche Entwicklung gefährdet, ist wie so oft in der Erziehung eine Frage des richtigen Maßes und der Gegengewichte. Der Göttinger Pädagoge Karl Gebauer [9] meint: „Ich denke, dass Jugendliche mit einem guten Selbstbewusstsein keine Gefahr laufen, die Realtität mit der virtuellen Welt zu verwechseln. Nicht das Spiel an sich stellt die Gefahr dar. Sondern erst die doppelte Dosis: Wenn Jugendliche ohne Selbstbewusstsein, ohne emotionale Kompetenz und sichere Bindungen Gewaltspiele spielen, dann wird’s gefährlich.“

So – glauben zumindest die Experten – könnte der explosive Cocktail aus virtuellem Gewaltvorbild und realem Minderwertigkeitsgefühl beschaffen sein. Es erstaunt allerdings, dass nach dem Amoklauf an einem Erfurter Gynasium ganz Deutschland ratlos vor dem angeblich Unverständlichen stand, aber bis heute keine Studie in Auftrag gegeben wurde, die danach fragt Was passiert mit Jugendlichen, die sich vorwiegend in virtuellen Welten aufhalten?

Das Schatzbuch der Herzensbildung - eBook

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