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Vom Schwinden der Vorbilder

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Aber was nutzt das Wehklagen über die Erfurter Tat, reden wir über die Gesellschaft, die wir Erwachsene gestalten und in der unsere Kinder aufwachsen. Denn schließlich geht jedem Amoklauf die emotionale Kälte und der soziale Tod voraus. Schon lange warnen Experten vor dem Laisser- faire-Stil und der „anything goes“-Haltung, die Kindern zu wenig Orientierung und verlässliche Werte bieten. Ein gesellschafticher Konsens herrscht allerdings in den Forderungen an die neue Generation: Leistung, Karriere und Geld! Nicht erst nach der PISA-Studie droht ein neuer Leistungswahn, eine fieberhafte Jagd nach Privilegien, ein selbstverständlicher Narzissmus und eine hysterische Abstiegsangst, die alle Erfolgsprediger um den Schlaf bringt. Auch wenn’s unangenehm ist, so müssen wir uns bei der Charakterisierung der neuen Kindheit einige Fragen gefallen lassen:

Was leben wir unseren Kindern in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vor? Sind sie nicht auch Opfer unserer Ellbogengesellschaft, die Skrupellosigkeit, Egoismus und Gefühlskälte nach dem Motto „Das ist dein Problem“ erst salonfähig gemacht hat? Der Maßstab der globalisierten Wirtschaft ist Profit; all ihr Trachten zielt auf Erfolg und Macht. Aber wenn in der freien Wirtschaft der Ellbogen siegt und privat die ausgestreckte Hand erwünscht ist, dann stecken wir im Zwiespalt: Morgens verlassen wir die Wohnung in Raubritterkleidung und abends streifen wir den Bademantel der sanften Eltern über. Mal ehrlich, wie authentisch sind wir da noch in unserer Erzieherrolle? Solange die Wirtschaftskriminalität in Deutschland eine Zuwachsrate von 80 % hat, solange Unternehmen vor lauter Hörigkeit zum globalen Markt ihre kommunale Verantwortung vergessen, solange Politiker Korruptionsgelder als peanuts bezeichnen und dennoch von uns wiedergewählt werden, solange ist es nicht weit her mit unserem moralischen Vorbild.

Kein Wunder, dass unser Kraftfutter gegen soziale Verantwortungslosigkeit und emotionale Kälte eher mager ausfällt. Die meisten verhaltensauffälligen Kinder, alkohol- und drogensüchtigen Jugendlichen haben eines gemeinsam: Ihnen fehlt etwas, was jeder Mensch braucht, um sein Leben ausgeglichen zu meistern: Strategien der Problemlösung. Stattdessen ersticken die kids ihre Probleme in Bonbons, Spielsachen und Geldscheinen. Dass sie dabei immer einsamer werden und nach menschlicher Wärme lechzen, dies weiß die Industrie mit ihrem ausgetüftelten Konsumangebot geschickt zu nutzen.

Das Gefühlsangebot der vielen Ein-Eltern-Familien, der doppelbelasteten Alleinerziehenden wirkt dagegen kümmerlich und karg. Aber auch in Zwei-Eltern-Familien regiert oft das Motto „Jeder tut das, worauf er gerade Lust hat“ . So sitzen zum Beispiel nach einer Studie der GfK-Fernsehforschung mehr als die Hälfte aller Verheirateten getrennt vor der Röhre. Wenn sich ein Paar schon nicht auf ein Fernsehprogramm einigen kann, wie will es dann seinen Kindern Vorbild für friedliche Konsensfindung sein?

Doch es kommt noch ärger: Die Studie Kinderwelten 2002 [10] offenbarte „Kinder haben keine Eltern mehr!“ Im Auftrag des Kindersenders Super RTL wurden ca. 1.000 Kinder zwischen 6 bis 13 Jahren und jeweils ein Elternteil zu ihrem Verhältnis befragt. Erschreckendes kam zutage: Fast einem Fünftel der Eltern sind ihre Kinder völlig egal! 12 % erwiesen sich als wenig familiär und 34 % stuften ihre Rolle immerhin als Aufpasser oder Behüter ein.

Aber auch die Schule lässt zu wünschen übrig. So stellte das LBS-Kinderbarometer , das alle fünf Jahre die Wünsche und Ängste von Kindern in NRW untersucht, fest, dass 42,5 % der befragten Kinder auf den Schulstress mit Kopf- und Bauchschmerzen reagieren. Eine Studie in über 43 Schulen in Schleswig-Holstein ermittelte, dass jeder zehnte Schüler unter Mobbing leidet. Aber nur jeder dritte Lehrer sei bereit, – obwohl er weiß, dass seine Schüler leiden – mit ihnen darüber zu sprechen! Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck [11] mahnt: „Das ist ein Spiegelbild der aktuellen Schulmisere: Zeit ist nur für Unterricht vorgesehen, aber nicht für die individuelle Not einzelner Schüler und ihrer Familien.“

Wir Erwachsene sollten nicht vergessen, dass wir alle Veranstalter und Regisseure der Neuen Kindheit sind: Wer produziert Gewaltvideos, wer erfindet sprechende Kuscheltiere, wer lässt Kinder stundenlang allein fernsehen, wer lässt Mobbing in Schulklassen zu …?

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