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b. Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
ОглавлениеWas KantKant, Immanuel für die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutet, das ist Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst für die auf ihn nachfolgende Theologie. Man hat ihn den Kant der Theologie genannt (David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich [1808–1874]). Sein Werk markiert eine grundsätzliche Neuorientierung in der protestantischen TheologieTheologieevangelische, protestantische. Ihm kommt das Verdienst zu, die Theologie auf eine völlig neue Grundlage gestellt zu haben. Fragt man, worin seine epochale Bedeutung für die neuere Theologie des Protestantismus besteht, so wird man sagen müssen, in seiner Bestimmung der Religion als eine eigenständige KultursphäreReligion als eine eigenständige Kultursphäre. In seiner Konzeption schlägt sich die um 1800 einsetzende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Funktionssysteme ebenso nieder wie die ‚Innenverlagerung‘ der Religion in Folge von Kants Kritik an der überlieferten Metaphysik. Das religiöse Bewusstsein wird zur methodischen Basis der Theologie. Letztere beschreibt nicht mehr Gott an sich selbst, ihr Gegenstand ist das GottesbewusstseinGottesbewusstsein des Menschen.
Die Grundlage der Theologie ist das religiöse Bewusstsein. SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst religionstheoretische Grundeinsicht besteht darin, dass die Religion sowohl von dem Denken als auch von dem moralischen Handeln unabhängig ist. Sie stellt ein eigenständiges Phänomen dar. Diesen Gedanken hat er bereits in seinem Erstlingswerk, den Reden Über die Religion von 1799 ausgesprochen, er [68]liegt auch seinem späteren dogmatischen Hauptwerk Der christliche Glaube (1821/22. 2. Aufl. 1830/31) zugrunde. Die Begründung der Eigenständigkeit der Religion nimmt auf der einen Seite das Anliegen der ErkenntniskritikErkenntniskritikKantsKant, Immanuel auf, kritisiert aber auf der anderen dessen Versuch, Religion im Horizont des moralischen Bewusstseins zu begründen. Mit Kant ist er der Meinung, die theoretische Metaphysik komme als Fundament von Religion und Theologie nicht in Frage. Die Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens, wie sie der Königsberger Philosoph in der Kritik der reinen VernunftVernunft ausgeführt hat, wird von ihm geteilt. Das Gottesverhältnis ist kein theoretisches Verhältnis zu einem Gegenstand. Gegen Kant macht Schleiermacher geltend, Religion könne nicht als ein Anhängsel der MoralMoral verstanden werden. Eine solche Verschränkung von Religion und Moral, wie sie Kant in seinen religionsphilosophischen Schriften vorgeführt hatte, hebe die Eigenständigkeit der Religion auf, da sie mit der Moral identisch wird.
das Wesen der ReligionDas Wesen der Religion, so SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst berühmte Formulierung in der zweiten Rede der Reden, ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und GefühlGefühlAnschauung undAnschauung und Gefühl. Durch beide Bestimmungen unterscheidet sich die Religion von den Welteinstellungen des Denkens und des Handelns und bildet eine eigenständige Weise der Welt- und SelbstdeutungSelbstdeutung des Menschen. Zwar hat die Religion den gleichen Bezugspunkt wie Denken und Handeln, nämlich das UniversumUniversum, aber die Weise, wie sie sich auf diese Totalitätsidee bezieht, unterscheidet sich von beiden. Sie verhält sich weder theoretisch noch praktisch zu dem Universum, sondern anschauend und fühlend. Religion, so kann man den Gedanken zusammenfassen, ist eine spezifische Weise der WahrnehmungWahrnehmung des eigenen Lebens und der Welt, die sich in besonderen Formen darstellt.
Mit der Neubestimmung der Religion als Anschauung und GefühlGefühlAnschauung undAnschauung und Gefühl sind weitreichende Konsequenzen verbunden. Die gewichtigste liegt wohl darin, dass in SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel ErnstReligionstheorieReligionstheorie der GottesgedankeGottesgedanke zurücktritt. An seine Stelle tritt der Begriff des UniversumsUniversum. Er meint eine Totalitätsdimension. Damit bricht der Theologe mit dem seit der Antike geläufigen Verfahren, die Religion zu bestimmen. Mit seiner These, Religion könne auch dort vorliegen, wo es nicht zur Ausbildung der GottesvorstellungGottesvorstellung kommt, knüpft er an die Position an, welche Johann Gottlieb FichteFichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 1798/99 in seinen Schriften zum Atheismus[69]streitAtheismusstreit vertreten hatte. Für das religiöse Leben ist die Ausbildung einer Gottesvorstellung nicht konstitutiv. Sie ist eine einzelne Anschauungsart, das heißt eine bestimmte Weise der Symbolisierung des Universums. Aus der Herabstufung der Gottesvorstellung für den Begriff der Religion folgt freilich nicht, dass sie nicht für das Christentum grundlegend ist. Die christliche ReligionReligionchristliche stellt sich als Gottesverhältnis dar.
Religion hat ihren Ort im menschlichen Bewusstsein. Ihr Wesen ist Anschauung und GefühlAnschauung und GefühlGefühlAnschauung undAnschauung und Gefühl. Durch beide Bestimmungen ist sie sowohl von der Metaphysik als auch von der MoralMoral unterschieden. Aus der Unterscheidung des religiösen Bewusstseins vom Wissen folgt, dass es sich nicht auf transzendente Gegenstände bezieht. Solche müssten nämlich dem Wissen zugänglich ein. In der Religion geht es vielmehr um das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen und umgekehrt. Hierauf zielt der Anschauungsbegriff. In der religiösen Anschauung wird etwas Konkretes in einen Unendlichkeitshorizont eingerückt. Das religiöse Bewusstsein verknüpft die Sphären des Endlichen und Unendlichen miteinander. Auch durch das zweite Bestimmungsmerkmal der Religion – den Begriff des GefühlsGefühl – soll der Unterschied zwischen der Religion und den Vermögen des Denkens und des Handelns unterstrichen werden. Religion fällt in das Innere des SubjektsSubjekt und ist aus diesem Grund von allem begrifflichen Wissen unterschieden. Sie ist nicht Lehre, DogmaDogma oder BekenntnisBekenntnis, sondern eine eigene Weise der Selbst- und WeltdeutungWeltdeutung des Menschen.
SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst hat zeitlebens an seiner religionstheoretischen Einsicht in die Eigenständigkeit der Religion festgehalten. In der ersten Auflage der Reden Über die Religion ist der Anschauungsbegriff der grundlegende Begriff seiner ReligionstheorieReligionstheorie. An dieser Gewichtung hat er in den Folgejahren Modifikationen vorgenommen. Bereits in der zweiten Auflage der Reden von 1806 tritt der Anschauungsbegriff zurück, und der Gefühlsbegriff wird mehr und mehr zum zentralen Bestimmungselement der Religion. Die spätere GlaubenslehreGlaubenslehreGlaubenslehre versteht Religion als eine Bestimmtheit des GefühlsGefühl und erläutert es durch den Begriff eines *unmittelbaren SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein. Die Abgrenzung der Religion von Denken und Handeln bleibt somit auch im späteren Werk erhalten. Sie wird jedoch gedanklich vertieft. Religion ist der Eintritt des höheren Selbstbewusstseins in das niedere. Jenes wird als Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit bezeichnet. Gemeint [70]ist damit eine Art SelbsterfassungSelbsterfassung des Menschen. Er wird sich seiner eigenen Endlichkeit inne und stellt dies dar, wobei die religiösen Darstellungsformen geschichtlich bedingt sind.
In seiner DogmatikDogmatik ordnet SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst das Christentum in die Religionsgeschichte einUmformung der Prolegomena der Dogmatik. Es ist eine monotheistische Religion, die sich dadurch von anderen unterscheidet, dass alles in ihr durch die von Jesus von Nazareth vollbrachte ErlösungErlösung, Erlösungswerk bestimmt ist. Das christlich-religiöse Bewusstsein ist auf Jesus Christus bezogen. Die Aufgabe der Dogmatik ist es, die Bestimmtheit des christlichen Bewusstseins in der Rede darzustellen. Sie ist keine spekulative Wissenschaft, sie beschreibt Religion als eine Angelegenheit des Menschen. In der GlaubenslehreGlaubenslehre Schleiermachers ersetzt der ReligionsbegriffReligionsbegriff die Lehre von der Heiligen Schrift. Hatten die altprotestantischen Theologen in den Prolegomena ihrer Dogmatiken das SchriftprinzipSchriftprinzip als Erkenntnisquelle der dogmatischen Aussagen abgehandelt, so tritt nun die Religion an diese Funktionsstelle. Die Glaubenslehre beschreibt das durch Jesus Christus bestimmte religiöse Bewusstsein des Christen in seinem systematischen Zusammenhang. Schon SemlerSemler, Johann Salomo hatte die theologischen Lehrsysteme als geschichtlich bedingt und partikular eingestuft. Dem folgt Schleiermacher, indem er die Dogmatik den historischen Disziplinen der Theologie zuordnet. Die Glaubenslehre beschreibt die zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt in der evangelischen KircheKircheevangelische geltende Lehre, die geschichtlich wandelbar ist.
Im Zentrum der DogmatikDogmatik steht die Lehre von Jesus Christus, die ChristologieChristologieChristologie. Den Nazarener versteht SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst als Urbild des Glaubens. Bereits die Einleitung zur GlaubenslehreGlaubenslehre entwickelt die Grundzüge der Urbild-Christologie. Wenn die Religion in dem Eintritt des höheren SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein in das niedere besteht, so ist der Gedanke eines Höchstmaßes denkbar. Es besteht in der durchgängigen und dauerhaften Herrschaft des höheren über das niedere Selbstbewusstsein. Die materiale Durchführung der Christologie in der Glaubenslehre nimmt diese Strukturbeschreibung der Religion auf und überträgt sie auf Jesus Christus. Er ist das Urbild der FrömmigkeitFrömmigkeit. In dem IndividuumIndividuum Jesus von Nazareth ist es geschichtliche Wirklichkeit geworden. Mit seiner Urbild-Christologie und der Behauptung der Realisierung des Urbildes in Jesus hat Schleiermacher Glaube und GeschichteGlaube und Geschichte wieder zusammengeführt. Das seit der AufklärungAufklärung virulente Problem hat in seiner Christologie eine neue Lösung erfahren. Der Glaube [71]als Bestimmtsein durch Christus ist auf den geschichtlichen ErlöserErlöser bezogen. Er ist der Stifter eines neuen Gesamtlebens, das sich in der Geschichte in Gestalt der Kirche verwirklicht.
Literatur
Hermann Fischer: Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, München 2001.
Kurt Nowak:SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001.
Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1999.
Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830/31). Studienausgabe, 2 Bde., hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008.
Arnulf von Scheliha: Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen KircheKircheevangelische im Zusammenhange dargestellt, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S. 245–254.
Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Wesensbestimmung der christlichen ReligionReligionchristliche, Tübingen 1996.
Aufgaben
1 Informieren Sie sich in dem Beitrag von Arnulf von Scheliha über den Aufbau der GlaubenslehreGlaubenslehre von SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst.
2 Lesen Sie die Einleitung der zweiten Auflage der GlaubenslehreGlaubenslehreSchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, und versuchen Sie, seine Aussagen zur Religion in Thesen zusammenzufassen.
3 Worin unterscheidet sich das Religionsverständnis SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst von dem KantsKant, Immanuel? Benennen Sie wichtige Unterschiede in einem kurzen Essay.