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Der Berg heilt

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Im 19. Jahrhundert wurde die Alpenregion nicht nur zum begehrten Ziel von Touristen oder Bergsteigern, sondern auch zum Zufluchtsort für Kranke. Dass Kranke damals anfingen, in den Bergen Heilung zu suchen, stand im Einklang mit Vorstellungen der antiken Diätetik, gemäss der zwischen Klima und Gesundheitszustand ein Zusammenhang besteht. Schon Hippokrates von Kos, der als Begründer der Medizin als Wissenschaft gilt, hat im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit auf die therapeutische Bedeutung des Aufenthalts- und Klimawechsels hingewiesen.30 Und der griechische Arzt Galen empfahl im zweiten Jahrhundert unserer Zeit frische Luft, erhöhte Gegenden oder Seereisen und Milch für die Behandlung der Tuberkulose. Auch in der Neuzeit suchten Ärzte und Kranke nach dem gesunden Klima. Allerdings existierten unterschiedliche Meinungen darüber, welches nun das vorteilhafteste sei.31 Warme Klimata wurden empfohlen, weshalb Orte an den Mittelmeerküsten von Tuberkulosekranken aufgesucht wurden.32 Auch Schiffsreisen auf dem Meer galten als probates Mittel.33 Und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam das Gebirge dazu. Schon lange bevor Alexander Spengler der Doktrin des heilenden Höhenklimas zum Durchbruch verhalf und den Mythos Davos schuf, wurden das Gebirgsklima und die Alpenluft als heilsam erachtet. Bereits um 1570 hatte der Bündner Pfarrer Ulrich Campell (ca. 1510–1582) festgestellt, dass die Davoser Luft äusserst gesund – «aëris saluberrimi» –, aber auch kalt und rau sei.34 Konrad Gessner hatte 1555 die reine Bergluft empfohlen, und Johann Jacob Scheuchzer bestätigte 1716, dass die Schweizer Luft gesund sei, was etwa dadurch belegt werde, dass die Pest und andere gefährliche Krankheiten selten seien.35 Jean-Jacques Rousseau schliesslich schrieb 1761 in seinem Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse, es sei ein allgemeiner Eindruck, «dass man auf hohen Bergen, wo die Luft reiner und dünner ist, leichter atmet, sich leichter bewegt und sich heiteren Geistes fühlt». Er wunderte sich deshalb, «dass die heilsamen und wohltätigen Luftbäder der Gebirge nicht zu den vorzüglichen Heilmitteln der Medizin und der Moral gerechnet werden».36 Friedrich Nietzsche bestätigte 1887 die geistige Wirkung der Höhenluft: In seinem Wohnort Sils-Maria im Oberengadin räsonierte er über das, was dem Philosophen unentbehrlich sei: «eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt».37


Kleingrafik aus einem Prospekt des Sanatoriums Valbella Davos, um 1915.

Hundert Jahre nach Rousseaus erstem Roman begannen die «heilsamen und wohltätigen Luftbäder der Gebirge» als vorzügliches Heilmittel gegen Tuberkulose zu gelten, worüber diese Arbeit berichtet. Denn auch Mediziner interessierten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Mass für die Berge. Das hygienische Wissen vom Einfluss des Klimas auf die Gesundheit verband sich dabei mit der neuen medizinischen Wissenschaft der Physiologie.38 Physiologen untersuchten auch den Einfluss von Höhenlagen auf die Blutbildung oder die Atmung, wie diese Arbeit zeigen wird. Ab den 1860er-Jahren bot in den Schweizer Alpen eine steigende Zahl selbst ernannter Höhenkurorte ihre medizinischen Dienste an. Dass es gerade Orte in der Schweiz waren, die aufgrund eines als heilsam erachteten Klimas eine führende Stellung in der Tuberkulosetherapie einnehmen konnten, ist auch eine Folge der Entdeckungsgeschichte der Alpen: Die Schweizer Alpen wurden früher beschrieben und erforscht als andere Berglandschaften und galten etwa in Österreich als Vorbild.39 In Graubünden wiederum gab es verschiedene hoch gelegene Orte wie Davos (1560 m ü. M.), Arosa (1800 m ü. M.), St. Moritz (1855 m ü. M.) oder Pontresina (1800 m ü. M), weshalb der Kanton zum Ausgangspunkt der Theorie des heilsamen Höhenklimas werden konnte.40

Bereits vor der Etablierung von Luftkurorten gab es in der Schweiz Ortschaften, die Heilung versprachen: so die schon im Mittelalter bekannten Badeorte wie Leukerbad und St.Moritz, deren Thermalwasser zum Baden oder zum Trinken verwendet wurden. Badekurorte erlebten um 1800 infolge der verbesserten Verkehrswege einen neuen Aufschwung.41 Andere therapeutische Einrichtungen setzten auf Tropfbäder, Regenduschen oder Abwaschungen.42 Ebenfalls schon vor den Höhenkuren wurden Milch- und Molkekuren zur Behandlung von Lungenleiden angeboten.43 Durch die Kur mit Alpenziegenmolke erlangte die Ortschaft Gais in Appenzell Ausserrhoden im 18. Jahrhundert als Molkekurort Bekanntheit. Teilweise wurde die Molkekur mit der Kuhstallluft-Kur kombiniert. Bei dieser nutzte man die Ammoniakdämpfe des Kuhmistes therapeutisch.44 Auf die Wirkung der Bergluft setzte dann der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863): Er gründete 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken im Berner Oberland eine Heilanstalt für Kinder, die an Kretinismus litten, einer damals auch unter Bergbewohnern verbreiteten Krankheit.45 Kretinismus galt als teilweise identisch mit anderen Krankheiten wie Rachitis und Skrofulose. Bei letztgenannter entstellten chronische Entzündungen die Gesichter von Kindern. Sie wurde als tuberkulöse Krankheitsform betrachtet.46 In den 1850er-Jahren beschrieben dann der Freiburger Medizinprofessor Anton Werber in seiner Broschüre «Die Schweizer-Alpenluft in ihrer Wirkung auf Gesunde und Kranke» oder der englische Arzt und Klimatologe Edwin Lee die therapeutische Wirkung der Alpenluft auf Brusterkrankungen und Lungenleiden.47 In dieser Konstellation gelang es dem Davoser Landschaftsarzt Alexander Spengler dank der Unterstützung von anderen Ärzten und von Financiers und Unternehmern, das Davoser Klima als heilsam für Lungentuberkulose zu positionieren. Die Vorstellung, dass der Berg heile, setzte sich durch, und die Höhentherapie der Lungentuberkulose trug ihrerseits zum Bild der «gesunden Berge» und der «gesunden Schweiz» bei.48 Dieses Bild bestand und besteht aus verschiedenen Elementen wie Luft, Höhe, Licht und Wasser. Doch diese gesundheitsfördernden Faktoren wurden nicht einfach in der Natur entdeckt, sie wurden vielmehr durch Zuschreibungen «erfunden» und vermarktet.49 In den Augen des französischen Philosophen und Mediziners François Dagognet korrespondierte das Angebot der Höhenkurorte überdies mit Vorstellungen des Unbewussten der Psychoanalyse: In seinem Aufsatz über die cure d’air von 1959 schrieb Dagognet, dass bereits C.G.Jung auf die Wichtigkeit der Erhebung, des Anstiegs hingewiesen habe. Ebenso erwähnte Dagognet das Streben der Helden der griechischen Mythologie in die Höhe und gegen die Sonne. Es waren laut Dagognet solche Motive des Unbewussten, die Menschen in der frischen Luft, in der Höhe Gesundheit suchen liessen.50

Der Traum von Heilung

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