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«Feinde ringsum»: Streit um die Höhenkur

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Nebst Fürsprechern hatte der Luftkurort Davos von Anfang auch Kritiker. «Feinde ringsum» titelten die Davoser Blätter, das Sprachrohr des Kurorts, 1875 mit Bezug auf verschiedene Publikationen, in denen Kritik am Kurort geäussert worden war.90 Nicht selten handelte sich bei den Kritikern um Ärzte, die ebenfalls Tuberkulosepatienten therapierten und in direkter Konkurrenz zum aufstrebenden Kurort standen. Verschiedene Äusserungen machen deutlich, dass die in Artikeln und Referaten vorgebrachte Kritik auch dazu diente, den Geschäftsgang des eigenen Kurorts oder Etablissements zu stärken und die Konkurrenz zu schwächen. Einer der gewichtigsten Kritiker von Davos war, wie bereits im vorangehenden Kapitel dargestellt, Hermann Brehmer, der eigentliche Vordenker der Höhenbehandlung und Gebieter über einen grossen Kurbetrieb im schlesischen Görbersdorf. Unter anderem kritisierte Brehmer, dass lungenkranke Patienten in der Schweiz oft nicht in ärztlich geleiteten Anstalten, sondern in Gasthöfen untergebracht seien – für Brehmer ein «Unwesen». Er schrieb, dass nur ein Arzt als Leiter einer Heilanstalt die Interessen seiner Patienten berücksichtige. Pensions- und Hotelwirte hingegen würden die Exzesse der Patienten begünstigen, um mehr Einnahmen zu erzielen.91

Doch auch Vertreter von Kurorten am Mittelmeer, die lange Zeit als erste Adresse für Schwindsüchtige galten, äusserten Zweifel an der Höhentherapie, während deren Exponenten gegenüber den Kurorten am Mittelmeer zum Teil schwerwiegende Bedenken vorbrachten. Alexander Spengler etwa bezog in seiner Broschüre von 1869 gegen mögliche Konkurrenten Stellung: «Cairo, das windige Nizza und Cannes, das staubige Mentone, Palermo, Madeira, die Schwefelbäder der Pyrenäen, die Ufer des Genfer Sees» – sie alle seien zur Behandlung der Lungenschwindsucht ungeeignet. Denn für die Behandlung gelte es einen Ort zu wählen, von dem man wisse, dass diese Krankheit unter den Einwohnern nicht vorkomme. Davon könne bei den genannten Orten keine Rede sein, denn in diesen «als heilkräftig gepriesenen Gegenden» fordere die Tuberkulose zahlreiche Opfer.92 Auch andere Interessenvertreter des Höhenklimas bezogen Stellung gegen Kurorte am Mittelmeer, so der Arzt Johann Melchior Ludwig aus Pontresina im Oberengadin, ein Förderer des dortigen Kurorts.93 «Davos oder Riviera», fragte Ludwig in einem Artikel im Correspondenz-Blatt. Er erwähnte zwar die angenehm warme Luft an der Riviera, kam aber rasch auf deren Schattenseiten zu sprechen: Die Reise sei weit, der Aufenthalt sehr teuer. Zudem werde die Nachtruhe durch die Meeresbrandung bereits bei ruhigem Wetter beeinträchtigt, in hohem Grade bei starkem Wind, der «keine Seltenheit» sei. Wenig bekömmlich waren an der Riviera gemäss Ludwig auch die hygienischen Verhältnisse: «Die öffentliche Hygiene der Riviera steht buchstäblich in schlechtem Geruch.» Auch das Trinkwasser sei fast durchwegs schlecht. Doch das ist noch nicht alles: Der grösste Übelstand der Riviera sei der Staub. Denn zu dem Wenigen, was man über die Entstehung der Phthise wisse, gehöre der statistische Nachweis, dass sie «durch Inhalationen verschiedenartigen Staubes veranlasst werden kann».94 Gemäss Ludwig ist die Riviera Tuberkulösen also keineswegs zuträglich. Davos erschien da in besserem Licht: «Davos liegt für die Schweiz und Deutschland viel näher, die Reise und der Aufenthalt sind bedeutend billiger, die Heizeinrichtungen und das Trinkwasser vorzüglich. Körper und Geist geniessen vollkommene Ruhe. Der wesentlichste Vorteil ist aber die Reinheit der Luft. Staub kann keiner entstehen, da Strassen, Wiesen, Gärten mit solidem Schnee zugedeckt sind. Und was an der Riviera fault und stinkt, gefriert auf Davos.» Die Nachteile von Davos erscheinen weniger dramatisch; die Langeweile ist eine von ihnen: «Wer sich in Davos gut amüsiert, lebt in der Regel kurwidrig.»95

Auch an internationalen medizinischen Kongressen wurde darüber diskutiert, ob das Höhen- oder das Mittelmeerklima das bessere Heilmittel sei. «Der internationale Congress der medicinischen Wissenschaften» im September 1877 in Genf zeigte dabei exemplarisch auf, wie parteigebunden die Stellungnahme für dieses oder jenes Klima zur Behandlung der Tuberkulose war. In seinem Vortrag «Über die Behandlung der Tuberculose durch Höhencurorte und die Küste des Mittelmeeres» erklärte ein Dr. Thaon aus Nizza gemäss Protokoll im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, dass die Wirksamkeit der Kur an den Ufern des «Mittelländischen Meeres» auf jahrhundertelange Erfahrungen gründe, während der Erfolg der Höhenkurorte erst «von kurzer Zeit» datiere und «noch nicht hinreichend statistisch festgestellt» sei. Auch eigne sich das Mittelmeerklima in allen Fällen, während die Indikationen für das Höhenklima viel beschränkter seien. Immerhin hält er es grundsätzlich für die vernünftigste Methode, «die Kranken im Sommer die belebende Gebirgsluft atmen zu lassen, nachdem sie den Winter in der kräftigenden Seeluft zugebracht haben».96 Ein Arzt aus dem heutigen Menton an der französischen Mittelmeerküste schoss sich auf den Behandlungsort Algier ein, dessen Winde, Temperatur- und Luftdruckschwankungen ungünstige Auswirkungen hätten. Ein Arzt aus Algier hielt dem entgegen, dass sich «eine grosse Zahl von Phthisikern in Algier sehr gut befinden» würden.97

Nicht nur die Kurorte am Mittelmeer stellten für die neuen Höhenkurorte Konkurrenz dar, sondern auch die Badekurorte. Dies kommt beispielsweise in dem 1873 in Berlin erschienenen, von Balneologen verfassten Handbuch der allgemeinen und speciellen Balneotherapie zum Ausdruck. In diesem ist auch die Klimawirkung ein Thema, allerdings wird diese lediglich «als herkömmliches und ziemlich natürliches Supplement der Balneologie» eingestuft.98 Die Badeärzte Wihelm Valentiner und Friedrich Camerer zweifelten zudem an der Wirkung der verdünnten Höhenluft, insbesondere an der «geschraubte[n] Erklärung ihrer Wirkung durch Brehmer». Die dünne Atmosphäre der Höhenkurorte Görbersdorf und Davos werde wohl nicht mehr lange als wesentlich angesehen werden, prognostizierten sie.99 Ein anderer Badearzt, Heinrich Schnyder (1828–1900), Kurarzt in Bad Weissenburg im Simmental, hinterfragte die Bedeutung der Höhenkurorte: Der Zug nach den sogenannten Luftkurorten sei «so sehr Mode und Schablone geworden, dass viele Kranke ihre Sommercur an einem beliebigen Luftcurorte beginnen und erst gegen den Herbst hin zu merken anfangen, wie verkehrt es war, sich nicht zuerst in Weissenburg einen kräftigen Anstoss zur Besserung zu holen».100

1881 veröffentlichte der Weissenburger Kurarzt im Correspondenz-Blatt «Reiseplaudereien». Schnyder berichtete von seinem Besuch in Davos, dem er nun endlich eine Visite abgestattet habe: «Bekanntlich führen alle Wege nach Rom und so fuhr ich denn in erster Linie nach Davos, dem Mekka so vieler Brustkranken, das ich auch noch nie gesehen hatte, was vom Standpunkte des Specialisten aus eine noch viel grössere Unterlassungssünde war, als der Nichtbesuch der ‹Eterna›.» Davos habe sich in erstaunlich kurzer Zeit vom bescheidenen Bergdorf zu einer schmucken Villa- und Hotelstadt entwickelt, berichtete er weiter.101 Doch liess Schnyder in seinem Bericht nicht unerwähnt, dass «ein Phthisiker auch in dem immunen Hochgebirgsthale sterben kann». Der neue Kirchhof von Davos sei schon «mit einer gewissen Anzahl zierlicher Leichensteine besetzt». Diese seien aber zweifelsohne «weniger den speziellen Einwirkungen des Höhenklimas aufs Kerbholz zu bringen» als dem Unverstand, Schwerkranke noch ins Hochtal zu schicken.102

Schnyder stellte fest, dass bis anhin verlässliche Resultate über die Behandlungserfolge in Davos fehlen würden. Auch andere Ärzte hatten kritisiert, dass es die Davoser Ärzte unterlassen hatten, in einer Statistik über die behaupteten Kurerfolge Rechenschaft abzulegen.103 Die Davoser Ärzte kamen der Forderung nur zögerlich nach. Spengler und Unger teilten dem in London tätigen Arzt Hermann Weber einige Daten für die Jahre 1865 bis 1867 mit, die Weber im British Medical Journal veröffentlichte. Gemäss dieser Statistik starben von 35 Patienten fünf, während sieben Davos als geheilt verliessen.104 Konkurrent Hermann Brehmer hielt diese Werte für wenig überzeugend im Vergleich zu Resultaten seiner Anstalt in Görbersdorf.105 Erst in späteren Jahren wurden weitere Statistiken über die Behandlung im Höhenklima vorgelegt, die sich allerdings oft durch schwammige Klassierungen wie «Zustand gebessert» oder «fast geheilt entlassen» auszeichneten.106

Indessen sass der Glaube an die Heilerfolge des Höhenklimas selbst bei einem gegenüber Davos nicht unkritischen und mit Davos in einem Konkurrenzverhältnis stehenden Mediziner wie Heinrich Schnyder tief. Dies zeigt dessen Äusserung, an Davos müsse etwas «dran sei», es könne sich doch nicht einfach um «blosse Theorie» handeln: «Es ist doch kaum denkbar, dass alljährlich Hunderte von Patienten einer blossen Theorie zu lieb sich in Schnee und Eis gegen die ganze Welt abkapseln würden, wären nicht positive Erfolge da, welche dazu aufmuntern könnten.» Das Heilklima von Davos als Konstruktion – dies vermag Schnyder nicht zu denken angesichts der Tatsachen «der von Jahr zu Jahr steigenden Frequenz des Kurortes».107 Dass das Versprechen der Heilung im Höhenklima nichts Zwangsläufiges, sondern eine Konstruktion war, zeigt ein Artikel von 1872 im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte: Der Kurarzt von Rigi-Scheidegg erachtet darin seinen Kurort im Gegensatz zu Davos als ungeeignet für die Behandlung der Tuberkulose, obwohl er auf ähnlicher Höhe liege. Leider komme es oft vor, dass Patienten mit Tuberkulose zu ihm geschickt würden, berichtet der Kurarzt. Weiter schreibt er: «Der Tuberkulose Verdächtigte bekommen hier bald unangenehme Rückfälle; sie begreifen nicht, dass sie die Luft nicht vertragen können und wollen’s daher noch eine Zeit lang probieren, anstatt sofort wieder abzureisen, was ich schon Manchem geraten. So muss Mancher durch Schaden klug werden und mit einem neuen Schub der Phthise, auch nach etwaigen Haemorrhagien [Lungenblutungen], uns verlassen.»108 Die Wahrnehmung der Wirkung des Höhenklimas hätte sich also durchaus auch in eine andere Richtung entwickeln können. So blieb auch Conrad Meyer-Ahrens, der das Davoser Klima hoch gelobt hatte, zeitlebens skeptisch, was den Aufenthalt von Lungenschwindsüchtigen im kalten Davoser Winter betrifft.109 Auch in Davos gab es Verschlechterungen des Krankheitszustands und Tote. Doch bewerteten die dortigen Ärzte die Resultate anders und stellten die erfolgreichen Fälle in den Vordergrund.

Der Traum von Heilung

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