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Eine Landschaft wird zum Sanatorium Der Mann, der Davos erfand
Оглавление1853 trat Alexander Spengler seine Stelle als Landschaftsarzt von Davos an. Spengler (1827–1901) ist «[d]er Mann, der Davos erfand».1 Der deutsche Arzt aus Mannheim erkannte, welches Potenzial die damals zirkulierenden Berichte über einen heilsamen Effekt des Höhenklimas hatten, und nutzte dieses Wissen für die Behandlung von Lungenkranken im Landwassertal. Mit Spengler begann der Aufstieg von Davos zum weltbekannten Lungenkurort, der 1901, in Spenglers Todesjahr, über 15 000 Gäste beherbergte.2 Spengler schrieb rückblickend, er habe mit der Behandlung der Lungentuberkulose begonnen, weil er während Jahren unter den Einwohnern der Landschaft keinen einzigen Fall von Lungenschwindsucht beobachtet hatte.3 Es ist jedoch fraglich, ob er sein Therapieangebot wirklich aufgrund eigener Erfahrungen lancierte. Denn Spenglers Beschreibungen stimmen auffällig häufig mit früheren Beobachtungen anderer Ärzte überein. So übernahm Spengler von Hermann Brehmer, dem Pionier der Klimabehandlung der Lungenschwindsucht, die Hypothese der hoch gelegenen, tuberkulosefreien Orte. Zu einem solchen erklärte Spengler nun auch Davos.4 Zudem stellte Spenglers Vorgänger als Landschaftsarzt von Davos, Luzius Rüedi, sehr ähnliche Beobachtungen über die Absenz tuberkulöser Erkrankungen unter der Davoser Bevölkerung an. Guido Ramann, einer der ersten Kurgäste in Davos, schrieb 1870 in einem aufschlussreichen Buch denn auch, dass die in Davos übliche Heil- und Behandlungsmethode keine neue, sondern deutschen Ursprungs sei, «geistiges Eigentum des Dr. Brehmer in Görbersdorf».5 Im Folgenden werde ich zeigen, wie der Aufstieg von Davos von der ärmlichen Berglandschaft zum weltberühmten Kurort gelang und wie Alexander Spengler diesen Aufstieg möglich machte, indem er das zirkulierende Wissen über die Höhenbehandlung geschickt für seine Zwecke nutzte. Er war also in meiner Deutung – anders als häufig beschrieben – nicht der Entdecker eines «Heilklimas», sondern übernahm verbreitete Ideen über die gesunde Höhenluft und vermarktete diese geschickt. Davos entwickelte sich dann auch deshalb zum viel besuchten Kurort, weil es neben Spengler weitere tatkräftige Persönlichkeiten ins Landwassertal verschlug, die den Höhenkurort voranbrachten: so einen holländischen Financier und Unternehmer, der wegen seiner lungenkranken Frau nach Davos kam und trotz ihres raschen Tods blieb, weil er das kommerzielle Potenzial der Höhenkur erkannte, oder einen preussischen Verleger, der zahlreiche Schriften veröffentlichte, in denen die Vorteile des jungen Kurorts beschrieben wurden, und so beste Werbung für den Kurort betrieb. Es ist somit das Zusammenspiel von Wissen und Geld, das Davos zum Weltkurort machte. Zudem war für die weitere Entwicklung von Belang, dass es im ärmlichen Davos – anders als in anderen hoch gelegenen Orten – keine florierende Tourismus- oder Badekurwirtschaft gab, welche durch die Tuberkulosekranken hätte konkurriert werden können.
Alexander Spengler, um 1853.
Alexander Spengler kam als politischer Asylant in die Schweiz. Er hatte in Heidelberg Jura studiert, als 1848 die revolutionären Aufstände gegen die restaurative Ordnung ausbrachen und auch das Grossherzogtum Baden erfassten. Die Revolution gab Spenglers Leben eine neue Richtung: Im Februar 1849 erhielt er ein Aufgebot der badischen Revolutionstruppen. Doch wurden diese von den preussischen und reichsdeutschen Interventionstruppen geschlagen. Tausende Revolutionäre flüchteten in Richtung Schweizer Grenze.6 Spengler, wie Brehmer also ein «1848er», rettete sich in die Schweiz und liess sich in Zürich nieder.7 Dank der Unterstützung von Bündner Studienfreunden aus seiner Zeit in Heidelberg erhielt er in Graubünden Asyl und konnte in Zürich studieren, obwohl die badische Regierung beim Bundesrat die Ausweisung des «Wühlers» verlangte.8 Es war offenbar niemand Geringerer als der deutsche Physiologe Carl Ludwig (1816–1895), seit 1849 ordentlicher Professor für Anatomie und Physiologie in Zürich, der ihm empfahl, Medizin zu studieren. Ludwig gilt als einer der bedeutendsten Physiologen des 19. Jahrhunderts und als Begründer der experimentellen Physiologie.9 Spengler lernte ebenfalls beim Pathologen Carl Ewald Hasse (1810–1902), der eine anatomische Beschreibung der Lungenkrankheiten und der Lungentuberkulose herausgegeben hatte.10 Als Spengler sein Studium 1853 beendete, war er erst «Candidat der Medicin». Über die ärztliche Zulassung entschied eine kantonale Prüfung. Er absolvierte diese vor dem Bündner Sanitätsrat und erhielt 1853 das Bündner Patent. Für ihn als wenig bemittelten Emigranten kam die Abfassung einer Dissertation nicht infrage.11 Nichtsdestotrotz wurde er aufgrund der schweizerdeutschen Umgangssprache «Doktor» gerufen und nannte sich später auch selbst «Dr. Spengler».12
Als Spengler 1853 seine Tätigkeit als Landschaftsarzt aufnahm, war Davos eine abgelegene Landschaft in den Bergen: arm, rural und unbekannt. Wirtschaftlich hatte die Landschaft einen Tiefpunkt erreicht, nachdem die Erzgruben im Silberberg bei Davos 1848 geschlossen worden waren. Gemäss seinem Vertrag mit der Davoser Obrigkeit betrug Spenglers Wartegeld (Jahresgehalt) 600 Franken. Für jeden Krankenbesuch konnte er zusätzlich 85 Rappen (am Tag) beziehungsweise 1 Franken 70 (in der Nacht) verlangen. Vor Spengler hatte Davos fünf Jahre lang keinen Landschaftsarzt gefunden, und auch Spengler erwog im zurückgebliebenen Hochtal immer wieder die Kündigung.13 «Der Anfang ist hart gewesen. Bei Wind und Wetter stundenlang zu Fuss oder zu Pferd durch das Hochtal; die Einheimischen verstehen seinen badisch-kurpfälzischen Dialekt nicht; auch fehlt ihm die anregende Atmosphäre von Mannheim, Heidelberg oder Zürich», beschreibt der Kulturhistoriker Alfred Georg Frei Spenglers Anfang in Davos.14 Doch langsam wendete sich das Blatt für Spengler. Er lernte seine spätere Frau, die aus einer wohlhabenden Davoser Familie stammende Elisabeth Ambühl (1837–1907), kennen.15 Und auch beruflich eröffneten sich neue Perspektiven: Er erkannte die Möglichkeit, Tuberkulosekranke zu behandeln, was seiner Tätigkeit als Arzt eine andere, ungleich attraktivere Richtung zu geben versprach.