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Ärztemacht und die Verbreitung von Ärztewissen

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Mit dem Aufstieg der Medizin im 19. Jahrhundert erlangten die Ärzte zunehmend Definitionsmacht über Gesundheit und Krankheit. Gleichzeitig veränderte sich das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten.43 Der Arzt verkörperte um 1900 die Wissenschaft und vermochte nun anstelle von Ratschlägen Anordnungen zu erteilen.44 Elementar für diese Entwicklung war die Geburt der Krankenhaus-Medizin, welche die ärztliche Autorität institutionell durchsetzte. Um 1800 hatte sich dies noch anders verhalten: Den Ärzten mangelte es an Expertenautorität, die Klientel, also die Patienten, übten Kontrolle über das ärztliche Handeln aus. Zudem standen die Ärzte sozial unterhalb ihrer vornehmlich wohlhabenden Kunden und waren von diesen ökonomisch abhängig.45 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts konnten sich immer mehr Menschen eine ärztliche Behandlung leisten. Der Markt für medizinische Dienstleistungen vergrösserte sich, obwohl für wirtschaftlich schlechtgestellte Bevölkerungsschichten der Arzt vielfach zu teuer blieb.46 Ein soziales Krankenversicherungssystem wie heute bestand nicht.

Die neue Rolle der Medizin im 19. Jahrhundert, wie ich sie geschildert habe, wäre ohne die Vermittlung des medizinischen Wissens durch Zeitungen, Zeitschriften und populäre Schriften nicht möglich geworden.47 Die Popularisierung von Wissenschaft und Technik erlebte im 19. Jahrhundert eine Blütezeit, wobei in Gesundheitsfragen Ärzte als Popularisatoren in Erscheinung traten.48 Medizinische Theorien gelangten so zu einem breiten Publikum. In Bezug auf die Leitfrage dieses Buches, warum sich die Höhenbehandlung der Lungentuberkulose durchsetzen und behaupten konnte, untersuche ich primär, wie sich medizinisches Wissen innerhalb des Kreises der Fachleute ausbreitete. Hatten sich die Ärzte nämlich einmal für eine bestimmte Behandlung entschieden, empfahlen sie diese den Patientinnen und Patienten. Das Handeln der Patienten reduzierte sich zusehends auf den Vollzug ärztlicher Anordnungen.49 Die Machtposition der Ärzte gegenüber ihren Patienten ist auch in der heutigen Medizin von strategischer Bedeutung: So ist es für die Pharmaindustrie entscheidend, die Ärzte mittels Rabatten, Honoraren für «Scheinstudien» oder Kongressteilnahmen für eine neue Therapie zu gewinnen.50 Auch für Promotoren der Theorie des heilenden Höhenklimas war es entscheidend, andere Ärzte von ihrer Theorie zu überzeugen. Die Ärzte entschieden vielfach, an welchen Kurort sich Kranke begeben sollten. Dies kommt in einem Artikel in der Kurortszeitung Davoser Blätter von 1876 zum Ausdruck. In diesem wird kritisiert, dass noch zu wenige Ärzte Kranke nach Davos schicken würden. Gemäss dem Artikel war es deshalb entscheidend, mehr Ärzte auf den Kurort aufmerksam zu machen.51

Als Plattform für die Meinungsbildung boten sich Publikationen wie das Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte an, eine Fachzeitschrift, welche sich an Ärzte und Medizinwissenschaftler richtete. Ins Leben gerufen wurde sie 1871, kurz nach der Gründung des ärztlichen Centralvereins, vom Berner Professor Ernst Klebs (1834–1913). Dieser schrieb in der ersten Ausgabe, dass es Aufgabe der Zeitschrift sei, die «Beziehung zwischen den Vertretern ärztlichen Wissens und Handelns zu pflegen».52 Die Herausgeber wollten also zwischen universitärer Forschung und ärztlicher Praxis vermitteln. Eine Episode aus Flauberts Madame Bovary handelt davon, dass die Ärzte in die Praxis umzusetzen versuchten, was sie in Fachpublikationen gelesen haben: Homais, der Apotheker des Städtchens Yonville, hat «über eine vielgelobte Methode zur Heilung von Klumpfüssen gelesen».53 Er überzeugt nun Charles Bovary, mittlerweile Landarzt geworden, den klumpfüssigen Hippolyte zu operieren. Bovary führt die Operation mithilfe der Fachliteratur durch. Der Aufklärer Homais schreibt daraufhin im Fanal de Rouen: «Trotz der Vorurteile, die noch einen Teil Europas wie ein Netz überziehen, beginnt das Licht doch auch auf unsere ländlichen Gegenden zu fallen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz eines chirurgischen Eingriffs, der gleichzeitig auch ein Beispiel schönster Menschenliebe darstellt.»54 Doch die Lobeshymne des Apothekers ist verfrüht. Die Operation stellt keinen Erfolg dar, das operierte Bein muss schliesslich amputiert werden.

Der Traum von Heilung

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