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Abschied vom immunen Klima
ОглавлениеUm 1880 war es nicht mehr nur Davos, das sich in der Schweiz als Höhenkurort präsentierte. Dies zeigt ein Blick in den vielfach aufgelegten und auch in Deutschland verbreiteten Kurführer Die Bäder und Klimatischen Kurorte der Schweiz von Theoder Gsell-Fels, der erstmals 1880 erschien.110 Gsell-Fels war Arzt, Kunsthistoriker und vor allem Reiseschriftsteller, der populäre Reiseführer veröffentlichte. In seinem Kurführer präsentierte er die verschiedensten Bade- und Klimakurorte der Schweiz und nannte allein in Graubünden über 20 «klimatische Stationen», nebst Davos beispielsweise auch Churwalden, Bergün oder Pontresina.111 Im über 1800 Meter über Meer gelegenen Pontresina, das gemäss Gsell-Fels alle klimatischen Vorzüge des Oberengadins vereinigt, hatte der Kurarzt Ludwig bis ins Jahr 1880 15 Fälle von Lungenschwindsucht behandelt. Von diesen wurden sieben «völlig geheilt», während ein Fall sich nicht verbesserte und drei Patienten starben. Aus dieser eher durchzogenen Bilanz zog der Kurarzt gemäss Gsell-Fels das Fazit, dass die «radikalsten Erfolge» bei Patienten im Anfangsstadium erzielt werden konnten, während Patienten im fortgeschrittenen Stadium geringere Chancen hätten.112 Auch in anderen Kantonen stellte Gsell-Fels Luftkurorte vor. Im Berner Oberland erwähnte er speziell Grindelwald als Winterstation für Brustkranke. In der Innerschweiz war laut Gsell-Fels beispielsweise Rigi-Klösterli für Lungenkranke geeignet.113 Daneben zählte er zu den Luftkurorten auch den Uetliberg, den Zürcher Hausberg, mit einer Höhe von 870 Meter über Meer. Dieser eigne sich als diätetische Kurstation für Magenkranke oder Lungenleidende.114
Gsell-Fels vermerkte die «guten Erfolge» der Schweizer Kurorte. Bis jetzt als unheilbar erachtete Krankheiten würden nun als heilbar gelten, und besonders die Heilbarkeit der Lungenschwindsucht sei «in zahlreichen Fällen ausser Zweifel gestellt».115 Bei der Beschreibung der einzelnen Kurorte schenkte Gsell-Fels dem Pionierort Davos, der sich im Unterschied zu anderen Kurorten auf die Behandlung der Tuberkulose spezialisiert hatte, besonders viel Beachtung. Er könne aus eigener ärztlicher Erfahrung bestätigen, dass in Davos bei Behandlung der Lungenschwindsucht oft ausgezeichnete Resultate erreicht würden, schrieb er.116 Dass gerade Davos in Kurführern wie denjenigen von Theodor Gsell-Fels oder Conrad Meyer-Ahrens spezielle und lobende Erwähnung fand, zeigt, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend als Ort der Gesundheit galt.117
Trotz allen Lobs auf die Behandlung im Höhenklima: Gsell-Fels unterliess es nicht, in seinem Kurführer auch auf Untersuchungen über die Verbreitung der Lungenschwindsucht in der Schweiz hinzuweisen. Diese hatten ergeben, dass die Lungenschwindsucht auch in den höchsten bewohnten Ortschaften der Schweiz vorkam.118 Die Hypothese des immunen Höhenklimas war damit widerlegt worden. Die von Gsell-Fels erwähnte Untersuchung war 1863 in Auftrag gegeben worden: Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft setzte bei einer Sitzung in Samedan im Engadin eine Kommission ein, welche die Verbreitung der Lungenschwindsucht in der Schweiz untersuchen sollte. Der Kommission gehörten unter anderem die in dieser Arbeit mehrfach erwähnten Henri-Clermont Lombard und Conrad Meyer-Ahrens an. Die Kommission hatte insbesondere die Aufgabe abzuklären, wie sich die unterschiedlichen Höhenlagen auf die Verbreitung der Lungentuberkulose auswirkten. Daneben sollten auch die Folgen weiterer Faktoren wie soziale Verhältnisse, Alter und Geschlecht untersucht werden. Die Untersuchung war aufwendig: Da solides statistisches Material fehlte, erhob die Kommission in der ganzen Schweiz bei Ärzten mittels Fragebogen entsprechende Daten für die Jahre 1865 bis 1869. Die Hauptarbeit übernahm der Aktuar der Kommission, der Winterthurer Bezirksarzt Emil Müller. Dessen Gesamtbericht erschien 1876.119 Dieser Bericht konnte den gewünschten Beweis der Heilwirkung hoch gelegener Ortschaften nicht erbringen.120 Emil Müller kam zwar zum Schluss, dass in der Schweiz mit zunehmender Höhe eine Abnahme der Lungenschwindsucht «sicher wahrnehmbar» sei. So zeigten die von Müller berechneten Durchschnittswerte für die Höhenlage von 200 bis 499 Metern eine jährliche Sterblichkeit an Lungenschwindsucht von 2,15 Promille, während sie für die Höhe von 1500 bis 1800 Metern 1,1 Promille der Bevölkerung betrug. Doch kam die Lungenschwindsucht auch in den höchsten bewohnten Ortschaften vor. Dies galt gemäss Müller auch, wenn man die auswärts erworbenen Fälle aus der Betrachtung ausschied.121 Aus Davos selbst erhielt Müller lediglich unvollständige Berichte. Gemeldet wurden acht Tote in der Kuranstalt im Zeitraum von zwei Jahren.122 Insgesamt entlarvte der Bericht die für die Vermarktung der Höhenkurorte wie Davos bedeutsame und von Spengler postulierte immunisierende Wirkung von Höhenlagen als Trugschluss. Bemerkenswert ist denn auch die Feststellung Müllers, dass die Tuberkulosesterblichkeit in industriellen Kreisen mehr als doppelt so hoch war wie in bäuerlichen Kreisen, wie Tabelle 1 zeigt. Vor allem in Städten war gemäss Bericht die Lungenschwindsucht stark verbreitet.123 Die Wohn- und Arbeitsverhältnisse hatten somit einen wichtigen Einfluss auf die Verbreitung der Tuberkulose.124 Der zunehmen den Höhe hingegen kam in landwirtschaftlich geprägten Gegenden schon ab 700 Metern kein Einfluss auf die Tuberkulosesterblichkeit mehr zu.
Jährliche Lungentuberkulose-Sterblichkeit in der Schweiz in Promille der Gesamtbevölkerung | ||
Höhe über Meer | Industrielle Bevölkerung | Bäuerliche Bevölkerung |
200 – 500 Meter | 2,7 | 1,4 |
500 – 700 Meter | 3,0 | 1,2 |
700 – 900 Meter | 1,35 | 0,7 |
900 – 1100 Meter | 1,5 | 0,7 |
1100 – 1300 Meter | 2,3 | 0,7 |
1300 – 1500 Meter | – | 0,6 |
1500 und mehr Meter | – | 0,7 |
Tabelle 1 (Quelle: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, 1876, S. 117)
Fortan stellte sich also die Frage, wie Kranke durch ein Klima von der Tuberkulose geheilt werden sollten, wenn auch Einheimische an dieser starben.125 Müllers Erhebungen ergaben ferner, dass 7,96 Prozent der Todesfälle in der Schweiz auf Lungenschwindsucht zurückzuführen waren. Die Sterblichkeit infolge Lungenschwindsucht war laut Bericht bei den Frauen insgesamt höher als bei Männern, wobei Müller über die Gründe dafür nur spekulieren konnte.126
In einer Rezension von Müllers Bericht im Correspondenz-Blatt kommt eine gewisse Ernüchterung zum Ausdruck. Der Rezensent schrieb, dass die Abnahme der Lungenphthise mit zunehmender Höhe keine bedeutende oder konstante sei, gerade wenn man sie mit dem vergleiche, was man in dieser Hinsicht über die Kordilleren oder die Hochebenen Mexikos lese.127 Von «einem Erlöschen der Lungenphthise mit einer gewissen Erhebung über das Meer (z.B. 1200–1500 Meter), wie dies mehrfach behauptet wurde», könne keine Rede sein.128 In einer zweiten Rezension des Berichts nutzte A.Hemmann, seines Zeichens Badearzt in Schinznach, die Gelegenheit, die Höhenkurorte anzugreifen. Die «Lehre der Immunität gewisser hochgelegener Ortschaften gegen Lungenschwindsucht» sei gefallen, konstatierte Hemmann. Maliziös schrieb er weiter, er fürchte, dass nun freilich der Verfasser des Berichts «bei dem Schwindel der Gasthofindustrie der Luft- und Höhenkurorte wenig Dank für seine Mühe» ernten werde. Der Schinznacher Badearzt Hemmann sprach also unverblümt von «Schwindel», für den er ökonomische Motive, sprich die «Gasthofindustrie», anführte. «Nun der Schwindel vergeht», gab er sich überzeugt.129 Doch sollte er sich täuschen: Die Theorie des heilsamen Höhenklimas erwies sich auch ohne das Element der Immunität als attraktiv für Ärzte und Patienten, wovon die nächsten Kapitel berichten werden.