Читать книгу Der Traum von Heilung - Christian Schürer - Страница 13
Der Aufstieg der Ärzte Ärzte werden tonangebend
ОглавлениеAls Charles Bovary sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Rouen anschickt, Medizin zu studieren, ist er beunruhigt: «Vor dem Verzeichnis der Vorlesungen auf dem Anschlagbrett überfiel ihn ein Schwindelgefühl: Vorlesungen über Anatomie, Vorlesungen über Pathologie, Vorlesungen über Physiologie, Vorlesungen über Pharmazeutik, Vorlesungen über Chemie und über Botanik, und über praktische Medizin, und über Heilkunde, ganz abgesehen von Hygiene und Heilmittelkunde, alles Namen, deren Etymologie er nicht kannte und die ihm vorkamen wie Pforten zu Heiligtümern von erhabener Finsternis.»1 Charles Bovary, der spätere Landarzt und Ehemann von Emma, der Madame Bovary, zeigt sich in Gustave Flauberts Roman anfänglich überfordert von all den Ansprüchen, welche die Medizin an die Studenten stellte. Diese Ansprüche zeugen von der Wissenschaftlichkeit, der sich die Medizin im 19. Jahrhundert zu verschreiben begann. «Modern times dawned with nineteenth century», schrieb der renommierte Medizinhistoriker Roy Porter. Und die Medizin gewann an Bedeutung, indem sie wissenschaftlich wurde.2 In Deutschland stieg die Physiologie ab etwa 1830 zur Leitwissenschaft auf. Sie ermöglichte die Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin.3 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich unter der Ägide von Louis Pasteur (1822–1896) und Robert Koch (1843–1910) die Bakteriologie zur zweiten Leitwissenschaft. Durch die Bakteriologie wurde es erstmals möglich, eine einzige und eindeutige Ursache von Krankheiten zu bestimmen: das Bakterium.4 Der naturwissenschaftliche Anspruch der Medizin im 19. Jahrhundert ging mit einem neuen Selbstverständnis der Ärzte einher: Sie sahen sich als Vertreter der «wahren Wissenschaft» und nahmen die Medizin nicht mehr wie früher als Kunst wahr.5 Methoden der Naturwissenschaften ersetzten die spekulative Naturbetrachtung. Führende Mediziner verpflichteten sich kausalem Denken und leitenden Theorien.6 Auch die Herausgeber des Correspondenz-Blatts für Schweizer Aerzte forderten die Ärzte 1885 dazu auf, als Diener der Aufklärung vermehrt in die Öffentlichkeit zu treten und die «wissenschaftliche Medicin» gegenüber abergläubischen «Volksmitteln» zu stärken. Dies sollte auch mit Artikeln in der Tagespresse gemacht werden.7
Der grosse gesellschaftliche Wandel des 19. Jahrhunderts verhalf der Medizin zu einer neuen Rolle. Der Nationalstaat etablierte sich, die Industrialisierung veränderte die Gesellschaft, es vollzog sich eine «Verwissenschaftlichung des Alltags».8 Säkulare Denkmuster gewannen gegenüber dem theologischen Weltbild seit der Aufklärung an Bedeutung – auch in der Frage der Gesundheit, für welche wohlhabend gewordene Bürger es sich nun leisten konnten, Geld auszugeben. Für sie wurde Gesundheit ein wichtiger Teil der richtigen und vernünftigen Lebensführung.9 Medizin und Ärzte stiessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine zunehmende Nachfrage.10 Denn das naturwissenschaftliche Verständnis der Medizin, welches Leben und Körper des Menschen einer rationalen Kalkulation zugänglich machte und die Leistungsfähigkeit zu optimieren versprach, entsprach dem bürgerlichen Denken der Zeit. Diese sich verändernde Rolle der Medizin bildet den Rahmen, in dem die Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts agierten. Ärzte wurden, was Gesundheitsfragen betraf, in dieser Zeit in Staat und Gesellschaft tonangebend. Aufgrund dieser Voraussetzung vermochten sie auch die Tuberkulosetherapie zunehmend zu prägen. Und dies obwohl die neue, naturwissenschaftliche Medizin den Patientinnen und Patienten vorderhand einiges schuldig blieb: Als in ihrem Selbstanspruch auf das Heilen gerichtete Disziplin vermochte sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenige therapeutische Erfolge vorzuweisen. Gerade in der Bakteriologie waren diese, verglichen mit den Resultaten der medizinischen Grundlagenforschung, bescheiden.11
Im Zuge dieser sogenannten Medikalisierung konnten sich die akademischen Ärzte Anfang 19. Jahrhundert noch gegen hoch angesehene Heilkundige wie Bader, Barbiere und Handwerkschirurgen durchsetzen.12 Um den eigenen Berufsstand zu schützen und zu stärken, setzten Ärzte auf die Professionalisierung, insbesondere auf die Regulierung der Ausbildung. In der Schweiz des 19. Jahrhunderts erfolgte dieser Prozess lange Zeit auf der Ebene der Kantone.13 Der 1848 gegründete Bundesstaat wurde erst 1877 mit einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Medizinalpersonen direkt gesetzgeberisch tätig. Standesorganisationen förderten in Zusammenarbeit mit den Kantonen das Fortkommen der ärztlichen Profession. 1870 gründeten verschiedene Deutschschweizer Ärztegesellschaften den «Ärztlichen Centralverein», während französisch sprechende Ärzte schon 1867 eine eigene Vereinigung gegründet hatten. Eine nationale medizinische Standesorganisation, die heutige Verbindung Schweizerischer Ärzte (FMH), entstand erst 1901.14 Ärztinnen hatten damals im Berufsleben einen schweren Stand, obwohl Schweizer Universitäten vergleichsweise früh Frauen zum Studium zuliessen (Zürich 1867, Genf und Bern 1872).15 Das zeigt etwa ein im Correspondenz-Blatt abgedrucktes Protokoll einer Sitzung der Zürcher Ärztegesellschaft im Dezember 1883: Die Aufnahme einer Ärztin in die Gesellschaft scheiterte in der Abstimmung deutlich.16 1890 gab es in der Schweiz insgesamt 1530 Ärzte. Darunter waren nur 10 Frauen.17 Bei damals insgesamt knapp drei Millionen Einwohnern in der Schweiz kamen auf 10 000 Menschen 5,2 Ärzte. Im Vergleich zu heute waren die Menschen damit weit weniger mit ärztlichem Wirken konfrontiert. Die heutige Ärztedichte ist wesentlich höher: 2014 betrug sie 21,6 Ärzte pro 10 000 Einwohner.18