Читать книгу Der Traum von Heilung - Christian Schürer - Страница 20
Ein Zeitungsartikel bringt den Durchbruch
ОглавлениеSpengler war nicht der erste Arzt, der sich vom Davoser Höhenklima heilsame Effekte versprach. Bereits in den 1840er-Jahren hatte der damalige Landschaftsarzt Luzius Rüedi (1804–1869) in Davos Kinder behandelt, die an Skrofulose litten. Diese damals verbreitete Erkrankung verursachte entstellende Schwellungen der Lymphknoten am Hals und Nacken wie auch Gesichtsekzeme und galt als tuberkulöse Krankheitsform. 1841 ersuchte Rüedi den Sanitätsrat des Kantons Graubünden um die Bewilligung zur Behandlung skrofulöser Kinder. In seinem Gesuch schrieb er, dass die Skrofulose unter Einheimischen höchst selten sei. Sie komme aber vor bei Kindern, die mit ihren Familien aus der Ferne zurückgekehrt seien. Gemäss Rüedi brachte dann «die Veränderung und Verbesserung klimatischer und diätetischer Verhältnisse» Heilung.16 Rüedi formulierte damit seine Beobachtungen wie später auch Brehmer und Spengler auf der Grundlage der Diätetik und ging implizit von einer höhenbedingten «Immunität» für Skrofulose aus. Vor oder zeitgleich mit Rüedi hatten bereits andere Ärzte, beispielsweise Johann Jakob Guggenbühl im Berner Oberland, günstige Wirkungen von Höhenlagen bei skrofulose-ähnlichen Krankheiten postuliert.17 Rüedi betreute die kranken Kinder in seiner Wohnung und nahm 16 bis 20 Bedürftige auf. Eine eigentliche Anstalt führte er also nicht, denn die Errichtung eines zweckmässigen Baus zur Skrofulose-Behandlung überstieg seine finanziellen Möglichkeiten. Der bekannte Zürcher Balneologe und Publizist Conrad Meyer-Ahrens (1813–1872) wurde auf Rüedi aufmerksam und trat mit ihm in Korrespondenz.18 Rüedi bestätigte gegenüber Meyer-Ahrens die heilsame Wirkung des Davoser Klimas bei skrofulösen Kindern. Bei Fällen von weit fortgeschrittener Lungentuberkulose sei dies anders: Diese ende «in dieser reinen Luft bald mit dem Tod», schrieb Rüedi.19 Wie andere Ärzte war Rüedi der Meinung, dass die Lunge durch die dünne Bergluft nicht übermässig belastet werden sollte.20 Conrad Meyer-Ahrens publizierte Rüedis Beobachtungen mehrfach in medizinischen Fachzeitschriften. Rüedi sehe den Grund für den günstigen Gesundheitszustand des Davoser Tals in den klimatischen Verhältnissen, berichtete Meyer-Ahrens 1845, vereint mit einer Ernährung, die fast ausschliesslich auf tierischen Produkten basiert.21 Er wiederholte Rüedis Einschätzung, dass weit fortgeschrittene Phthisis in der reinen Luft bald mit dem Tod ende. Dennoch würden Tatsachen vorliegen, welche bewiesen, dass «Natur und zweckmässige Pflege» in diesem Klima «Grosses» leisten würden. Meyer-Ahrens wies auch auf das Potenzial von Rüedis Behandlungsversuch hin: Dessen Anstalt erreiche in therapeutischer Hinsicht «ganz sichere Resultate». Und auch in ökonomischer Hinsicht würde sich gemäss Meyer-Ahrens ein Engagement lohnen.22 Trotz solch ermutigender Worte blieb das Interesse an Rüedis Beobachtungen zunächst gering. Dieser unternahm auch nicht den Versuch, seine Beobachtungen und sein Therapieangebot durch eigene Publikationen bekannt zu machen.23 Dies habe verhindert, dass Davos schon damals zur Blüte gelangt sei.24 Rüedi musste seine Einrichtung 1849 mangels Nachfrage schliessen. Er verliess Davos und übernahm die Leitung des Kurbetriebs im nahe gelegenen Bad Alvaneu.25
Erst rund 20 Jahre später, in den 1860er-Jahren, war die Zeit reif für die Etablierung eines Kurorts im Landwassertal. Verschiedene Faktoren hatten sich zugunsten von Davos verändert: Nach der Gründung des Schweizer Bundesstaats 1848 entstand ein Eisenbahnnetz, das die Schweiz mit dem Ausland verband und damit auch das Davoser Hochtal besser erreichbar machte. Die Zahl der Touristen in der Schweiz nahm zu.26 Ebenfalls in den 1850er-Jahren beschrieb Hermann Brehmer die Heilbarkeit der Tuberkulose in hoch gelegenen, angeblich tuberkulosefreien Orten. Zudem hatte Davos mit Alexander Spengler nun einen Vertreter, der die Heilkraft des Höhenklimas entschlossen und energisch zu propagieren vermochte. Bemerkenswert ist, dass auch Spengler offenbar anfänglich die vorherrschende Meinung vertrat, dass das Hochgebirge für Lungenkranke ungeeignet sei und nur ein milderes, südliches Klima Linderung verschaffen könne.27 Bei frühen Patienten vertraute er nicht auf das Davoser Klima, sondern praktizierte die Kuhstallkur oder Stabulation: Der Kranke hatte im Stall zu übernachten und sollte dabei von einer Heilwirkung der ammoniakalischen Gase profitieren.28 Doch änderte Spengler wohl aufgrund der Berichte Brehmers und Rüedis seine Meinung. Gut bekannt unter Ärzten waren damals auch die Studie des Genfers Henri-Clermont Lombard über das Bergklima aus medizinischer Sicht von 1856 oder diejenige des Freiburger Medizinprofessors Anton Werber (Die Schweizer-Alpenluft in ihrer Wirkung auf Gesunde und Kranke). Diese empfahlen das Höhenklima bei Lungentuberkulose. Vielleicht hatte Spengler auch von den bekannten Führern des englischen Arztes Edwin Lee gehört, der Europa bereiste und schon in den 1850er-Jahren eine therapeutische Wirkung der Alpenluft beschrieben hatte.29 Spenglers Meinungsumschwung läutete eine folgenreiche Entwicklung ein: Kleine, bislang unbedeutende Orte in den Schweizer Alpen wurden zu weltbekannten Zentren der Tuberkulosetherapie.
Bei Spenglers Initialzündung für die Behandlung der Lungentuberkulose in den Schweizer Alpen spielte der erwähnte Zürcher Arzt und Publizist Conrad Meyer-Ahrens eine tragende Rolle. Dieser machte 1860 in seinem voluminösen Handbuch Die Heilquellen und Kurorte der Schweiz auf das Davoser Klima aufmerksam. Der Zürcher Arzt gab in diesem bekannten Kurführer, der 1867 ein zweites Mal aufgelegt wurde, die Schilderungen von Rüedi aus den 1840er-Jahren wieder. «Das Klima ist ungemein gesund», berichtete er. Zudem verwies er erneut auf das ökonomische Potenzial eines Kurbetriebs in der Landschaft Davos: Er wundere sich darüber, schrieb er, dass Ärzte nicht häufiger «reiche oder auch nur wohlhabende Mütter» mit ihren kränkelnden Kindern an einen solchen Ort senden würden und dass man in den Alpen keine entsprechenden Einrichtungen eröffne.30 Doch sollte sich dies bald ändern: 1859 wurde die Prättigauer Strasse fertiggestellt, auf der sich Davos mit der Postkutsche von Landquart aus in sechs Stunden erreichen liess. Vermehrt fanden nun Gäste den Weg nach Davos. Alexander Spengler entschloss sich 1861 wegen der Zunahme der Fremdenfrequenz, doch in Davos zu bleiben.31 1861/62 entstand ein zweites Gasthaus in Davos, das Hotel oder Kurhaus Strela, erbaut vom Davoser Tierarzt Erhard Michel. Im Juni 1862 veröffentlichte Michel im Bündner Tagblatt ein Inserat, um auf sein Haus aufmerksam zu machen.32 Etwas später im Jahr 1862 kam es zur folgenreichen Begegnung von Alexander Spengler mit Conrad Meyer-Ahrens, der sich auf einer Studienreise in Graubünden befand und das Inserat gesehen hatte. Unter dem Titel «Balneologische Spaziergänge» veröffentlichte Meyer-Ahrens in einer Beilage zur Fachzeitschrift Deutsche Klinik im Rahmen einer Serie einen Bericht über seine Reise nach Davos, der für die weitere Geschichte der Landschaft entscheidende Bedeutung erhielt. Nachdem er schon mehrfach über «die grosse Salubrität [Heilsamkeit]» des Davoser Klima publiziert habe, würde er der Landschaft nun zum ersten Mal selbst einen Besuch abstatten, so Meyer-Ahrens. Im Artikel gab er dann vor allem Beobachtungen von Alexander Spengler wieder. Er hoffe, so schrieb er, dass «einige Notizen, die ich der gefälligen mündlichen Mitteilung des gegenwärtigen Landschaftsarztes, Hrn. Dr. Spengler, eines sehr gebildeten Arztes, verdanke, meine ärztlichen Leser interessieren» mögen.33
Die Notizen von Meyer-Ahrens stiessen bei seinen Lesern sehr wohl auf Interesse, wie sich gleich zeigen wird. Sie nehmen in der Sichtweise meiner Untersuchung eine wichtige Stellung im Diskurs über die Heilbarkeit der Lungentuberkulose durch das Höhenklima ein. Die «Balneologischen Spaziergänge» Meyer-Ahrens’ trugen nämlich dazu bei, dass sich im Rahmen der Diskussion um das kurierende Höhenklima nun Davos als Ort der Heilung etablierte. Meyer-Ahrens spendete dem Davoser Klima in seinem Beitrag in der Deutschen Klinik viel Lob: «Das Klima ist sehr gesund, eigentlich endemische Leiden findet man hier nicht.» Die Skrofulose komme bei Einheimischen selten in einer nicht durch «Diät und Fischthran» therapierbaren Form vor.34 Vor allem aber gab Meyer-Ahrens in diesem Text die spenglersche Einschätzung in Bezug auf die Therapie der Lungenschwindsucht wieder: «[E]benso soll der Erfolg ausgezeichnet sein bei chronischer Tuberculose, wenn sie noch nicht zu weit fortgeschritten ist, und zwar ist der Erfolg im Winter ebenso gut als im Sommer, wogegen Frühjahr und Herbst für Tuberculöse sich nicht zum Curaufenthalt eignen.»35 Dass Meyer-Ahrens bei noch nicht zu weit fortgeschrittener Lungentuberkulose von ausgezeichneten Behandlungserfolgen sprach, und zwar im Winter und im Sommer, blieb in einer Zeit des therapeutischen Notstands nicht ohne Echo. Er äusserte zwar Bedenken im Fall von akuter Lungentuberkulose: Hier sei der Aufenthalt in Davos entschieden schädlich.36 Doch erschienen diese angesichts der in Aussicht gestellten hervorragenden Erfolge bei noch nicht zu weit fortgeschrittener Tuberkulose weniger gewichtig.
Schon in der folgenden Sommersaison strömten mehr Gäste nach Davos. Die «Balneologischen Spaziergänge» mit ihrem Versprechen auf Heilung hatten offensichtlich auf Davos aufmerksam gemacht. Das Hotel Strela in Davos Platz musste Gäste wegen Überfüllung abweisen, obwohl es gerade erst erweitert worden war.37 Im Februar 1865 trafen dann die ersten beiden Wintergäste in Davos ein, deren Ankunft in der Geschichtsschreibung über Davos als bahnbrechendes Ereignis und als Beginn von Davos als Klimakurort gilt.38 Die beiden Wintergäste hatten in der Heilanstalt von Brehmer in Görbersdorf Genesung gesucht. Durch die «Balneologischen Spaziergänge» von Meyer-Ahrens wurden sie auf die Ansichten Spenglers aufmerksam und entschlossen sich zur weiten Reise nach Graubünden.39 Diese Episode zeigt beispielhaft, wie medizinische Texte mit dem Handeln von Personen verwoben sind: Die beiden ersten Lungenkranken, die sich zur Behandlung in den bisweilen eisig kalten Davoser Winter begaben, kamen aufgrund der Lektüre eines medizinisches Textes ins Landwassertal, das bis anhin nur im Sommer einige Kurgäste beherbergt hatte. Sie stiegen im Hotel Strela ab und fingen an, Brehmers Freiluftkur zu praktizieren, zum Erstaunen der Einheimischen, die diese noch nicht kannten. Nachdem sich ihr Zustand verbessert hatte, trugen sie ihrerseits gewichtig zur Verbreitung der Theorie des heilenden alpinen Höhenklimas bei.40 Die beiden versandten Briefe über ihre Kurerfolge, sodass bald weitere Lungenkranke anreisten. Der Arzt Friedrich Unger (1833–1893) war bei Brehmer in Görbersdorf Patient und Assistent gewesen und hatte den Artikel von Meyer-Ahrens gesehen.41 Nachdem er sich in Davos gesundheitlich erholt hatte, war er dort über 20 Jahre als Kurarzt tätig. Er kannte Brehmers Behandlungsmethode aus erster Hand und führte diese auch in Davos ein. Es war also Unger, dem Davos seine Kurmethode zu verdanken hat, und weniger Spengler.42 Der zweite Neuankömmling im Winter 1865 war der Buchhändler Hugo Richter (1841–1921), der aus Königsberg stammte. Er entfaltete in Davos und Basel eine verlegerische Tätigkeit, die für den Aufschwung des Kurorts sehr bedeutsam wurde. Richter gründete die heutige Davoser Zeitung und gab während rund zweier Jahrzehnte die Davoser Blätter heraus. Diese Kurortszeitung artikulierte die Interessen des Kurorts und informierte die Gäste über Davos. Ärzte veröffentlichten in ihr populärwissenschaftliche Artikel über die Tuberkulosebehandlung.43 Die Davoser Blätter erschienen später in verschiedenen Sprachen und trugen wesentlich zur Popularisierung der Davoser Höhenkur auch im Ausland bei. So wurden ab 1908 zu Werbezwecken 1000 Exemplare der russischsprachigen Ausgabe an russische Ärzte versandt.44
Hugo Richter erwarb 1867 die Schweighauserische Verlagsbuchhandlung in Basel und veröffentlichte Broschüren und Bücher über Davos.45 Indem er Literatur über den Kurort und die Landschaft Davos unter die Leute brachte, machte er wirksam Werbung. Da sein Leiden in Basel wieder ausbrach, verkaufte er seinen Verlag und führte seine Tätigkeit in Davos fort. Seine eigenen Geschäftsinteressen korrespondierten damit direkt mit der weiteren Entwicklung des Kurorts. Tatsächlich verfügte Davos dank des geschäftstüchtigen und dem Kurort wohlgesinnten Verlegers Richter fortan über einen wichtigen Standortvorteil. Richter verlegte beispielsweise die zweite Auflage des bereits erwähnten Buches Davos in seiner Eigenschaft als klimatischer Sommer- und Winter-Kurort für Brustkranke von Guido Ramann. Dieser war in den 1860er-Jahren als Kurgast nach Davos gekommen.46 Ramann betonte in der ersten Auflage von 1870, dass die in Davos angewandten Heilprinzipien «unbestreitbar Dr. Brehmers Verdienst» seien und von den Davoser Ärzten kaum verändert worden seien.47 Doch leiste Davos gegen die Lungenschwindsucht bei Weitem mehr, als bisher gehofft werden konnte. Durch viele glückliche Erfolge würden immer mehr Ärzte Vertrauen zu Davos gewinnen, weshalb die Zahl der Patienten stetig zunehme.48 Ramann warnte dabei vor zu kurzen Kuraufenthalten: Auch bei leichten Fällen brauche es bis zur Heilung Monate, bei schweren oft Jahre. Zudem konterte der langjährige Kurgast in seinem Buch Vorwürfe von Hermann Brehmer gegen den Kurort Davos. Dieser hatte, wie im letzten Kapitel gezeigt, etwa vor Gletscherluft gewarnt, die für Lungenkranke schädlich sei. Ramann erwiderte, dass der nächste bei Davos Platz gelegene Gletscher drei bis vier Stunden entfernt sei.49