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Die Tuberkulose und die Diätetik
ОглавлениеDie Tuberkulose war um 1900 die häufigste Todesursache. Das Correspondenz-Blatt veröffentlichte 1883 eine Mortalitätsstatistik, gemäss der im Jahr 1882 von 10 000 Einwohnern 33,7 an Lungenschwindsucht starben.19 Damit stellte die Lungentuberkulose von den aufgeführten Todesursachen die mit Abstand bedeutendste dar. Neben «Lungenschwindsucht» waren lange Zeit weitere Bezeichnungen für Lungentuberkulose gebräuchlich: Das griechische «Phthisis», welches insbesondere Ärzte verwendeten, ausserdem «Auszehrung», «weisse Pest» oder – im englischen Sprachraum – «Captain of All These Men of Death».20 Gleichzeitig war unter Ärzten lange Zeit umstritten, welche Krankheitsbilder zur Tuberkulose zählten. So unterschied Rudolf Virchow (1821–1902), der Gründer der Zellularpathologie, zwischen der eigentlichen Tuberkulose, bei der die charakteristischen Tuberkel, also knötchenförmige Gewebeveränderungen, auftraten, und der Phthise, einer «verkäsenden», gewebezerstörenden Pneumonie.21 Mit der Entdeckung des Tuberkulosebakteriums durch Robert Koch im Jahr 1882 konnten Krankheitsbilder, welche vorher verschiedenen Krankheiten zugeordnet worden waren, nun auf eine einzige Ursache, den Tuberkelbazillus, zurückgeführt werden.22 Es zeigte sich, dass die Tuberkulose verschiedene Organe befallen kann, am häufigsten jedoch die Lunge. Sie wird durch Tröpfcheninfektion, das heisst durch die Hustentröpfchen eines Kranken, übertragen. Ohne Behandlung ist die Lungentuberkulose häufig tödlich. Sie verläuft sehr langwierig: Es kann Jahre dauern, bis der Tod eintritt. Blässe, Abmagerung, Müdigkeit und erhöhte Temperatur treten auf, dazu ein blutiger Husten, wenn die Blutgefässe angegriffen sind. Doch führt nicht jede Infektion mit dem Bazillus zum Ausbruch der Krankheit. Zumeist erfolgt die Erkrankung nur dann, wenn ein Mensch in seiner körperlichen Verfassung und in seinem Immunsystem geschwächt ist.23 Die Tuberkulose kann heute in den meisten Fällen durch Antibiotika geheilt werden. Es treten jedoch zunehmend Probleme mit multiresistenten Bakterien auf, gegen die Medikamente nicht mehr wirken. Die Tuberkulose konnte entgegen früherer Hoffnungen denn auch nicht ausgerottet werden, sondern ist vor allem in ärmeren Ländern weitverbreitet.24 Ab 1985 führte die HIV-Epidemie zu einer deutlichen Zunahme der Tuberkuloseerkrankungen.25 Ungefähr ein Drittel aller Menschen ist gemäss WHO mit dem Tuberkuloseerreger infiziert. 2014 starben 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose.26 Diese Todesfälle sind meist darauf zurückzuführen, dass Menschen in ärmeren Ländern kaum Zugang zu Medikamenten und passender Therapie haben.27 In der Schweiz erkranken heute jährlich rund 550 Personen an Tuberkulose, zumeist sind es Migrantinnen und Migranten.28
Um 1850, als die Tuberkulose auch in Europa und den USA epidemisch war und vielerorts als unheilbar galt, begann ein schlesischer Arzt, deren Heilbarkeit zu propagieren: Hermann Brehmer stellte 1853 in seiner Dissertation die These auf, dass die Tuberkulose in ihren frühen Stadien immer heilbar sei.29 Brehmer nahm ein althergebrachtes medizinisches Konzept zu Hilfe: die antike Diätetik. Diese bildet neben Operation und Medikament den dritten Ansatz medizinischer Therapie und geht davon aus, dass Umweltfaktoren Ursache von Krankheit und Gesundheit sind.30 Ausschlaggebend sind die sogenannten «sex res non naturales», die sechs nichtnatürlichen Dinge: Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen, Gemütsbewegungen.31 Da die «sex res» über Krankheit und Gesundheit entscheiden, gilt es, diese günstig zu beeinflussen. So empfahlen die antiken Ärzte Hippokrates und Galen als therapeutische Massnahme einen Wechsel in gesundheitsförderndes Klima.32 Das antike Schema der «sex res» wurde gegen 1800 aufgrund der neuen bürgerlichen Wertschätzung der Gesundheit wieder breit rezipiert und setzte sich im 19. Jahrhundert als konzeptionelle Basis der Hygiene durch. Mit Hygiene ist hier nicht wie heute die von der Bakteriologie geprägte Idee der keimfreien Sauberkeit gemeint, sondern das umfassende Gesundheitskonzept der Diätetik mit den «sex res».33
In der Tuberkulosetherapie des 19. Jahrhunderts setzten Ärzte auf diätetische Massnahmen.34 Verschiedene Mediziner beschrieben die günstige Wirkung, die ein Wechsel in ein als gesund angesehenes Klima auf Kranke mit Lungentuberkulose hatte. Anfänglich empfahlen Klimatherapeuten vor allem milde Klimate am Mittelmeer oder Orte am Seeufer. Die Berge waren hingegen noch kein Thema.35 An den Erholungsorten des Mittelmeers entstanden detaillierte Verhaltensvorschriften für die Kranken zur «Förderung des Wohlbefindens», wie der französische Historiker Alain Corbin schrieb.36 Der englische Arzt Harry Bennet berichtete 1814, wie seine Tuberkulose durch Aufenthalt in Mentone an der Côte d’Azur (im Winter) und in Schottland (im Sommer) heilte.37 Vielfach aufgelegt wurde die Studie des englischen Arztes James Clark, The Sanative Influence of Climate. Er empfahl Tuberkulosekranken den Wechsel in ein mildes Klima («a very powerful remedy»), nebst reichlicher Ernährung und Aufenthalt in frischer Luft.38 Auf diese Elemente setzte auch Hermann Brehmer. Er verband seine Verkündung von Heilung allerdings nicht mit Orten am Mittelmeer. Vielmehr glaubte er, dass die Tuberkulose nur geheilt werden könnte, wenn die Kur an einem hoch gelegenen, «immunen Ort» stattfand. Das waren Orte, an denen die Tuberkulose angeblich nicht vorkam.39 Diese Idee übernahmen die Promotoren der Höhenkur in den Schweizer Alpen.
Die diätetische Behandlung der Tuberkulose blieb auch im Zeitalter der Bakteriologie lange Zeit wichtig. Reichliche Ernährung, frische Luft und ein ausgewogenes Mass an Ruhe und Bewegung sollten die Abwehrkräfte stärken. Bei Weitem nicht bei jedem, der sich mit dem Tuberkulosebakterium angesteckt hatte, brach die Krankheit aus. 1888 formulierte dies ein Arzt im Correspondenz-Blatt folgendermassen: «Der Bazillus für sich allein macht ja bekanntlich noch keine Lungenschwindsucht, sonst wäre bei dessen Ubiquität nicht zu begreifen, weshalb wir nicht alle, samt und sonders, phthisisch werden sollten.»40 In der Tat war die sogenannte Durchseuchung damals äussert hoch. Dies zeigte eine Untersuchung Otto Naegelis (1871–1938) aus dem Jahr 1900. Anhand von 500 Sektionen am Pathologischen Institut Zürich kam er zum Schluss: «Jeder Erwachsene ist tuberkulös.» Dieses Resultat barg in Naegelis Augen jedoch Trost. Da erfahrungsgemäss nicht mehr als ein Siebtel bis ein Achtel der Menschen der Tuberkulose zum Opfer fallen würden, ergebe sich daraus, dass weitaus die Mehrzahl imstande sei, «den Kampf mit der Tuberkulose siegreich durchzuführen, und die Sturmflut der Bazillen durch die natürlichen Schutzwehren des Organismus einzudämmen und zur Ruhe zu bringen». Naegeli hatte bei 97 Prozent der von ihm sezierten Leichen tuberkulöse Veränderungen entdeckt. Daraus leitete Naegeli ab, dass der «Disposition» eine ungleich grössere Bedeutung als der Infektion zukam.41 Er definierte den Begriff Disposition als anatomisch-physiologische Konstitution, die erst dem Tuberkelbazillus den Boden gebe, auf dem er mit «höchst malignem Charakter um sich greift».42