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14 - Wodka

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Erik schaute auf den nun leeren Stuhl. Das Hologramm war so schnell verschwunden, wie es erschienen war. Zurück blieben ein Professor aus Fleisch und Blut und der Sohn eines mysteriösen ostdeutschen Arztes, der vielleicht ein Zeitreisender war. Beide gleichermaßen sprachlos, ob der Vorführung, deren Zeuge sie gerade geworden waren.

Brugger gewann seine Fassung ein wenig schneller als Erik wieder und beschloss, die beiden letzten Wodka-Fläschchen zu holen, bevor Erik überhaupt in der Lage war sich zu erheben. Diesmal nahm er sich aber noch die Zeit, Gläser vom Regal über der Minibar zu holen.

„Nicht schon wieder Wodka!“, stöhnte Erik

„Fällt dir was Besseres ein? Oder willst du doch lieber auf die Elchmilch umsteigen?“

Es war eine rhetorische Frage, denn Brugger hielt ihm bereits das Glas zum Anstoßen hin. In Ermangelung wirklich vernünftiger Alternativen ergriff Erik sein Glas, stieß mit ihm an und kippte den Wodka diesmal runter ohne groß nachzudenken.

Brugger tat ihm gleich und füllte die Gläser danach wieder. Diesmal verzichtete Erik allerdings und umkreiste nachdenklich den Tisch, die Augen auf das Neuro gerichtet. Er überlegte, sicher war „Neuro“ die schicke Abkürzung für eine kompliziertere Nomenklatur, aus der sämtliche Funktionen des Geräts abzuleiten waren, aber „Neuro“ sollte einstweilen genügen.

Erik wollte nach dem Neuro greifen, zog seine Hand dann aber doch wieder zurück. Das mit dem „Einheitbilden“ könnte noch etwas warten, wenn es nach ihm ginge. Er blickte zu Brugger, der sich wieder gesetzt hatte. Die Beine hatte er über die Tischkante gelegt und er kippte entspannt seinen zweiten Wodka. „Brugger, was ist los? Willst du dich besaufen?“, fragte er ihn leicht schockiert.

„Nein, ich halt schon ein bisschen was aus, aber so wie es aussieht, ist das hier eher deine große Show. Außerdem schuldest du mir noch eine Erklärung zu Papa Hermann!“

Erik schüttelte sich. Dazu war er vorhin nicht mehr gekommen. Das war keine Viertelstunde her, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, und er hatte sogar Mühe, die Gedankengänge zu reproduzieren, die ihm vorhin durch den Kopf geschossen waren, als ihm diese Eingebung gekommen war.

„Ich hab dir doch von meinem ... mutierten Gehirn erzählt“, begann er, und Brugger nickte. „Ich habe Emma nie erzählt, wie sich dieser zusätzliche Teil meines Gehirns bemerkbar macht. Ich habe solche Aussetzer. Für meine Umwelt dauert das gerade mal ein paar Sekunden, aber in meinem Schädel läuft da oft ein ganzer Film ab. Ich erstelle komplette Lösungen für irgendwelche technischen Probleme oder finde die Erklärungen für Systemabstürze oder komplette Fehlerserien. Ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll.“

Erik griff nach dem Glas Wodka, das Brugger ihm hingestellt hatte und setzte an. Aber dann ergab er sich dem Trinkreflex doch nicht und stellte das Glas wieder ab. „Nein! Ich brauche jetzt einen klaren Kopf!“

Erik ging ein wenig auf und ab und versuchte sich die Geschichte mit seinem Vater zurechtzulegen, aber das Neue, das Kommende, beschäftigte ihn mehr und lenkte einfach ab.

„Ich habe bei meiner Suche nach meinem Vater ein winziges Detail übersehen. Ein Zeugnis von einem Arzt aus Dresden, das Hunyar Zsolt eine bestandene Sanitätsausbildung bescheinigt, aber das war eine Fälschung. Verstehst du? Zsolt! Stolz?“

Brugger nickte: „Ein Anagramm! Und noch dazu ein ziemlich billiges, aber wo ist dein Beweis dafür? Das hätte doch alles ein Zufall sein können!“

„Zeitlinien! Ich habe Zeitlinien oder Zeitstränge gesehen. Das war alles plötzlich so einleuchtend, dass ich keine Beweise mehr gebraucht habe. Wissenschaftlich ist das sicher höchst schlampig, aber du kennst in der theoretischen Physik sicher viele Bereiche, in denen es keine Beweise geben kann. String-Theorie? Loop-Theorie? Da gibt es doch Fanatiker unter den Physikern, die mit den Wahrscheinlichkeiten das eine oder andere praktisch bewiesen haben wollen!“

„Na ja, beides nennt sich immer noch Theorie!“, relativierte Brugger. „Aber ich verstehe, worauf du hinaus willst! Du meinst, alles passt so gut und greift ineinander, dass es gar nicht anders sein kann. Dein Vater hieß also Hermann Stolz oder Dr. Stolz und er hat sich als ungarischer Sanitäter ausgegeben. Warum? Vor wem musste er untertauchen?“

„Da habe ich nun wieder nur Theorien. Wenn er vor 1957 von Dresden nach Ungarn floh, dann vielleicht wegen der Stasi? Oder falls er schon im Zweiten Weltkrieg hier war, dann hat er da vielleicht was angestellt!“ Erik hätte noch ein gutes Dutzend an Möglichkeiten von sich geben können, aber diese beiden waren so seine Favoriten.

„O.K., Erik!“, unterbrach ihn Brugger. „Ich höre leicht heraus, dass du annimmst, dein Vater selbst könnte ein Besucher aus der Zukunft gewesen sein. Oder täusche ich mich?“

Erik verzog das Gesicht ein wenig. „Das wäre die vernünftigste Erklärung für meinen zusätzlichen Gehirnlappen. Emma war schon der Ansicht, dass das entweder Mutation oder Evolution sei. Ich halte es durchaus für möglich, dass der Mensch in gut vierhundert Jahren ein weiter entwickeltes Gehirn besitzen wird, als heute. Was würde denn passieren, wenn ein Mann aus der Zukunft mit einer Frau aus unserer Zeit ein Kind zeugt?“

Erik redete sich nun fast etwas in Rage. „Dieses Kind hätte doch wohl sicher nicht das perfekte Zukunftshirn, sondern einen Mix aus beiden Genpools! Ich habe so oft darüber nachgedacht, warum gerade ICH eine Mutation im Kopf haben sollte und das hier, das könnte plötzlich alles erklären, worüber ich mir bisher eben diesen Kopf zerbrochen habe.“

„Siehst du eine Möglichkeit, dass dein Vater noch am Leben sein könnte?“

„Ja, aber nur wenn er in die Zukunft zurückgekehrt wäre.“

„Hältst du das für wahrscheinlich?“

„Nein. Ich denke, dass er nach der Flucht irgendwann meine Mutter kennengelernt hat und mit ihr glücklich wurde. Dann kam ich und wie es weiter ging, ist schwer zu sagen! Meine Mutter wollte einfach nie darüber reden, was mit ihm passiert ist, also liegt ein gewaltsamer Tod nahe oder er starb an den Folgen der Zeitreise. Ich denke nicht, dass so etwas spurlos an einem vorübergeht.“

Erik fröstelte, als er daran dachte, dass auch er solch eine potenziell gesundheitsschädigende Reise antreten müsste, um Magnussens letzten Wunsch zu erfüllen.

„Wirst du es machen?“, wollte Brugger wissen.

Erik blickte ihn eine Weile an und zuckte dann mit den Achseln. „Bleibt mir denn was anderes übrig?“

Brugger war verdutzt. Natürlich bliebe die Alternative, es nicht zu tun! Allerdings ließen die Ansprache von Magnussen und das Schicksal seines Sohnes diese Alternative schon als ziemlich asozial erscheinen. Aber wer konnte einem schon garantieren, dass das Kind dadurch wirklich gerettet wurde? Selbst Magnussen hatte Zweifel angedeutet!

„Ich denke ja, dass es um mehr geht, als nur Magnussens Sohn rückwirkend zu retten!“, brach Erik das Schweigen. „Ich könnte erfahren, wer mein Vater wirklich war und warum diese Zeitreisen überhaupt stattfinden. Warum jemand auf die Schnapsidee gekommen ist, den Lauf der Dinge verändern zu wollen. Es sollte schon um so etwas wie die Rettung der Menschheit gehen, weil für alles andere hätte ich da recht wenig Verständnis.“

Ob nun aus Zerstreutheit oder bewusst, das konnte Brugger nicht sagen, aber Erik ergriff das Glas, kippte seinen zweiten Wodka und verzog wie gewohnt das Gesicht. Das war streng genommen schon der dritte, fiel Brugger auf, und das vorhin war sogar ein doppelter, weil Erik das Fläschchen alleine gekippt hatte.

Zu gern hätte er weiter gemacht, um herauszufinden, wie viel sein junger Mitstreiter vertrug. Aber der Wodka war leer und er wollte nicht ausprobieren, wofür die Tierbildchen auf den anderen Fläschchen wirklich standen. Brugger stand auf und legte Erik leicht väterlich eine Hand auf die Schulter.

„Wir haben morgen eine lange Fahrt vor uns, auf der wir alles gründlich durchkauen können. Etwas Schlaf wäre nicht verkehrt. Nimmst du dein Neuro zum Kuscheln mit ins Bett?“

Erik blickte zuerst schockiert auf sein neues personalisiertes Spielzeug und musste dann lachen. „Brugger, du machst es einem nicht gerade leicht! Aber ich hatte mir echt überlegt, es unters Kopfkissen zu legen. Vielleicht verrät es mir ja im Schlaf einiges?“

Brugger lachte nun auch, aber dann brach er abrupt ab. In Eriks Blick war zu lesen, dass das sein Ernst war. „Jetzt ohne Scheiß?“, war alles was Brugger dazu herausbrachte.

Erik zuckte mit den Achseln. „Weißt du Brugger, der Trend geht schon heute in die Richtung, dass man Geräte erfinden will, die intuitiv auf den Besitzer eingehen. Derzeit ist das natürlich Augenwischerei. Wenn mir so eine App sagt, dass mein Lieblings-Italiener nur zwei Straßen entfernt liegt, dann kann sie das nur, weil ich sie vorher mit dieser Information gefüttert habe. Wenn der etwas naive Benutzer dann tatsächlich auf den Vorschlag eingeht, dann sagt er nachher vielleicht noch: Mein Handy kann Gedanken lesen! Aber stell dir vor, was wäre wenn! Stell dir vor, ein Gerät könnte einfache Gedanken erkennen wie: Ich habe Hunger! oder Mir ist langweilig! Ich sag dir, davon sind wir keine zehn Jahre mehr entfernt! Eher drei bis fünf!“

„Mann, mir gehen die Dinger heute schon auf den Sack! Nein, die Geräte können ja nix dafür! Ich mag die Leute nicht, die ihre Smartphones schon nicht mehr aus der Hand geben können. Wenn die sich in einem Restaurant treffen und aufs Essen warten, zeigen sie sich nur noch gegenseitig ihre Apps, anstatt sich vernünftig zu unterhalten. Wird das noch schlimmer in der Zukunft?“

„Weiß ich nicht! War schließlich noch nicht da!“

„Ho! Ho! Da hat der angehende Herr Zeitreisende aber einen vom Stapel gelassen!“, konstatierte Brugger und klopfte ihm herzhaft auf die Schulter. Die beiden grinsten sich eine Weile schweigend an.

Brugger war von sich selbst erstaunt. Noch vor vierundzwanzig Stunden war er knapp davor, das Abendessen mit Emma und Erik abzublasen, weil er mit diesem Fremden nichts zu tun haben wollte und nun war er fast versucht ihn zu herzen. Nein, das ging beim besten Willen nicht, aber eins waren sie sicher geworden: Ein Team!

„Schlafenszeit!“, verkündete Brugger und entging somit der Gefahr, noch vertrauter zu werden. Erik griff sich sein Neuro und ging, leicht wankend, zurück in sein eigenes Zimmer.

Brugger ging so einiges durch den Kopf, und er vermutete, dass es wohl lange dauern würde, bis er schlafen konnte. Er kümmerte sich zunächst um sein blutgetränktes Shirt, aber da war nicht viel zu machen. Kaltes Wasser und Aspirin-Tabletten würden helfen, aber bis morgen früh trocknete das nie, also rollte er es zusammen und steckte es in seinen Schmutzwäschebeutel. Dann kümmerte er sich um den Blutfleck im Wohnraum. Handtücher gab es zur Genüge, also wurde eines geopfert.

Brugger weichte das Handtuch danach trotzdem in kaltem Wasser ein, weil ihm das Blut aus irgendeinem Grund peinlich war. Und dann hatte auch er plötzlich eine Eingebung.

Ja, das geht auch ohne Extra-Lappen, Herr Zsolt!

In Gedanken korrigierte er den Nachnamen wieder und war schon gespannt, wie oft ihm dieser Fehler noch unterlaufen würde. Allerdings war noch gar nicht geklärt, ob Erik den Namen offiziell ändern würde.

Schwierig, schwierig! Na, das hatte ja noch Zeit!

Viel wichtiger war nun Bruggers Geistesblitz und dessen Umsetzung. Er schnappte sich sein Handy, leicht beschämt, weil er gerade noch über Smartphones gewettert hatte, und suchte in seinen Kontakten nach seinem alten Spezi Bernd, seines Zeichens Oberarzt an der Uniklinik in Dresden.

Nach ein paarmal klingeln, war auch schon Bernds Stimme zu hören, allerdings etwas schläfrig: „Brugger? Weißt du, wie spät es ist?“

Brugger blickte auf den See hinaus, der getränkt in herrliches, dunkles Abendrot vor ihm lag. „Nein, weiß ich nicht, aber ist doch noch hell!“

„Hell? Wo steckst du denn?“, lachte sein Gegenüber.

Brugger realisierte, dass es doch schon etwas später sein konnte, wenn man Anfang Juli in Norwegen das Abendrot genoss. „Sorry, Bernd! Soll ich morgen nochmal?“

„Schon O.K.! Bist wohl mal wieder in deinen Theorien versunken und hast die Zeit vergessen. So kennen wir dich ja! Was gibt's?“

„Kannst du für mich was rausfinden über einen Arzt, der bis etwa 1957 in Dresden gearbeitet hat? Der hat Zeugnisse für Sanitäter ausgestellt. Gut möglich, dass er an der Uniklinik tätig war. So viele Kliniken dürfte es damals nicht gegeben haben, oder?“

„Sag mal Brugger, du weißt schon noch, dass ich erst eine Weile nach der Wende hier angefangen habe?“

„Ja schon klar! Aber du bist für einen Arzt schon immer ein sehr pfiffiges Kerlchen gewesen. Frag doch ein wenig herum! Der Mann hieß Hermann Stolz. Doktor Stolz! Wann er in Dresden angefangen hat, weiß ich nicht. Aber mit ziemlicher Sicherheit hat er bis spätestens 1957 die Stadt und wahrscheinlich auch die DDR verlassen. Vermute recht zügig, wenn du weißt, was ich meine!“

„Machst mich neugierig! Was hat er angestellt?“

„Hab' nicht gesagt, dass er was angestellt hätte! Ich hab' nur den Verdacht, dass er ein eher auffälliger Zeitgenosse war. Möglicherweise ein hervorragender Arzt, eventuell mit etwas unkonventionellen Behandlungsmethoden. Und wenn die Vermutung stimmt, dann erinnert sich da vielleicht noch jemand an ihn.“

Brugger wusste, dass er zwar vage sein musste, um nicht zu viel zu verraten, aber er musste auch Bernds Neugier wecken, damit dieser sich richtig ins Zeug legen würde.

„Na gut, das pfiffige Kerlchen gibt sein Bestes. Aber ich stochere da doch in keinem Wespennest herum und werde von irgendwelchen Stasi-Nachkommen verprügelt, wenn ich den Namen erwähne?“

Brugger musste lachen. Immer noch der alte Bernd! Dabei lagen die Streiche unter Kommilitonen doch nun schon lange zurück. „Nein Bernd, das kann ich mir so nicht vorstellen. Ich kenne jemand, der gerade erfahren hat, dass der gute Dr. Stolz wahrscheinlich sein Vater war. Keine Panik! Das fällt eher unter die Rubrik: Gute Tat!“

„Ich hör' mich um! Mehr kann ich nicht machen. Und bei dir? Alles in Ordnung?“

Die beiden tauschten noch kurz den aktuellen Stand der Dinge aus, aber die vorgerückte Stunde machte sich nun doch bemerkbar und auch Brugger zog es bald ins Bett. Er würde die Suchanfrage fürs Erste für sich behalten, um bei Erik keine Hoffnungen zu schüren, aber falls Bernd fündig würde...

Ah, was für ein schöner Gedanke zum Einschlafen!

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