Читать книгу CYTO-X - Christian Schuetz - Страница 37
27 - Streicheleinheiten
ОглавлениеBrugger schlich in den Keller des Hauses. Dort stand das Dialysegerät. Emma blickte ihn mit strengen Augen an. Natürlich hatte sie den übertrieben lauten Trinkspruch gehört, natürlich wusste sie, dass dazu Wodka getrunken worden war und natürlich roch sie den auch an ihm, als er vorsichtig zu ihr kam.
Da musste er jetzt durch. Der Wodka war nötig, um Erik wieder auf Kurs zu bringen, so dass Brugger sich wiederum mit vollem Einsatz seiner Tochter widmen konnte. Der Einstieg dazu würde etwas schwierig werden, was ihre ersten Worte auch gleich bestätigten.
„Wodka? Wirklich, Dad? Um kurz nach zwölf? Ist das für euch beide eigentlich alles ein großes Spiel, oder was?“ Die Stimme ging zum Ende hin so weit nach oben, dass es ihm in den Ohren weh tat und nicht nur in der Seele.
Brugger ließ sie noch etwas schnauben, weil er wusste, wenn er ihr direkt etwas entgegen halten würde, dann wäre das Eskalationspotenzial nur noch größer. „Emma, das war ein symbolischer Trinkspruch. Erik dreht voll am Rad wegen der ganzen Sache und ich hab' ihn so wenigstens wieder zum Lachen gebracht. Ich weiß, dass es dir wegen all dem hier nicht gut geht, aber ich brauche dich, wenn wir Erik nicht verlieren wollen!“
Damit war der Zorn auf ihn wie ausgeknipst. Die Worte waren vielleicht ein wenig manipulativ gewählt, aber nicht völlig unwahr. „Verlieren? Papa, was ist jetzt schon wieder los?“
Brugger sagte erst mal nichts, sondern nahm sie einfach in den Arm. Sie musste selbst erst mal alles loswerden, was sie belastete und er hörte ihr einfach zu. Natürlich war das alles zu viel für sie. Sie hatten ihr alles im Schnelldurchlauf um die Ohren gehauen und ihr keine wirkliche Wahl gelassen, ob oder in welchem Umfang sie helfen würde. Nicht, dass Brugger sie dabei haben wollte!
Auch das war ein notwendiges Übel, von dem ihn Erik überzeugt hatte. Emma war nun indirekt mitverantwortlich für die Abwehr der Katastrophen, die die Menschheit zu vernichten drohten. Und sie sollte diese Blutwäsche durchführen, damit Erik zu ausgerechnet dem Mann durch die Zeit reisen konnte, der ihn, wie er selbst so schön formuliert hatte, nach Strich und Faden verarschte. Das alles unter der Prämisse, dass es keine Alternative gab.
Also wollte Brugger seiner Tochter eine sinnvolle Aufgabe geben, um sie von all diesen Problemen abzulenken und damit gleichzeitig ihr Potenzial nutzen. Deshalb erzählte er ihr, dass er sich Sorgen um Erik und sein suchtähnliches Verhalten in Bezug auf das Neuro machte. Er schilderte ihr die Anzeichen, die er bemerkt hatte und als Ärztin war er bei ihr da selbstverständlich an der richtigen Adresse.
„Emma, ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn du dich so abweisend gibst, wie heute Morgen oder wenn du ihm zeigst, dass du resignierst und vielleicht nichts mehr von ihm wissen willst, dann treibst du ihn diesem Staam geradezu in die Arme. Verstehst du, was ich meine?“
Emma war baff und schüttelte den Kopf. Sie wollte sich schon rechtfertigen, aber Brugger war schneller. „Dieser Junge ist kein schlechter Junge. Egal, was ich vor ein paar Tagen noch von ihm gehalten haben mag. Ich verstehe nicht alles, was er so mit seinem Leben angefangen hat, aber ich glaube, das, was ihm am meisten gefehlt hat in seinem Leben, sind wirkliche Bezugspersonen. Wir müssen uns wirklich ein wenig als seine Familie betrachten und ihn unterstützen.“
Emmas Augen wurden langsam feucht. Brugger hatte die richtigen Knöpfe gedrückt, um sie in die Pflicht zu nehmen. Ihre Unterlippe bibberte schon leicht, als sie ihm antwortete. „Dad, du weißt, dass ich ihn mag. Aber das kann sein, dass er gleich“, sie schluchzte laut auf. „Dass er gleich für immer weg ist, wenn da irgendwas schiefgeht.“
Brugger nahm sie in den Arm, damit sie sich wie früher an seiner Schulter ausweinen konnte. Er überlegte, wie lange das letzte Mal her war. Definitiv, bevor sie mit dem Studium begonnen hatte. Nein, da waren auch Tränen während der Scheidung geflossen! Und damit wurden auch bei ihm die Augen feucht.
Nach ein paar Minuten hatten sich beide wieder beruhigt und Emma wollte wissen, was ihr Vater genau von ihr wollte. „Emma, sei mir nicht böse, aber du hast diesen Stur-Modus. Du hast ihm das gestern mit dem Geld nicht vorgeworfen, weil du ernsthaft an seine Mitschuld glaubst. Du warst auf das sauer, was du da gesehen hast. Weil sonst niemand da war, den du zur Rechenschaft hättest ziehen können, musste Erik dran glauben.“
Emma hatte die Arme verschränkt und die Lippen aufeinander gepresst. Sie blickte zu Boden, wackelte leicht mit dem Kopf und zuckte ein wenig mit den Achseln. Bei Brugger wären fast wieder die Tränen gekommen, als er erkannte, dass er auch diese Geste des verschämten Schuldeingeständnisses lange nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich würde er auch in zwanzig Jahren noch das kleine Mädchen in ihr immer wieder entdecken.
„Emma, ICH kann mit deinen Eigenarten umgehen, weil ich dich so viel länger kenne als er. Aber Erik weiß doch noch nicht, wie du tickst! Wenn das jetzt eine Alltagssituation wäre, würde ich sagen, dann muss er es eben lernen, aber dem Kerl geht extrem viel durch den Kopf und Vieles davon kommt aus diesem Drecks-Neuro. Ich will nicht, dass du dir alles gefallen lässt. Versteh mich da bloß nicht falsch! Aber ich glaube fest, dass DU sein Anker in dieser Realität oder Gegenwart bist.“
Brugger sah, wie sie ihre Augen weit aufriss und überdachte, was er ihr da gerade um die Ohren gehauen hatte. „Realitätsanker!“ Das war ihm vorhin eingefallen, als er mit Erik in der Wohnung noch diskutiert hatte. Brugger war bewusst geworden, dass Emmas Reaktionen Erik schon ein wenig zugesetzt hatten. Erst schien Emma besorgt gewesen zu sein und hatte sich gesträubt, die Blutwäsche durchzuführen und dann war sie etwas gleichgültig kopfschüttelnd abgezogen.
Für einen kurzen Moment hatte Brugger in Erik einen kleinen, allein gelassenen Jungen gesehen, der gerade dabei war, seine Freundin zu verlieren. Das war der Moment, in dem Brugger wusste, dass er handeln musste und dazu Emmas Unterstützung brauchen würde. Und diese forderte er nun ein.
„Paps, was meinst du mit Anker? Meinst du, wenn ich mich mit ihm überwerfe, dann kommt er nicht zurück?“
„Na ja, zurückkommen muss er ja automatisch, wenn diese Informationen alle stimmen. Die Frage ist nur, wie er seine Aufgaben danach angehen wird. Ich glaube, du kannst dafür sorgen, dass er nicht abdriftet und dass seine Motive anständig bleiben. Ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll. Wenn er mit seinem Neuro rummacht und es ihm all die Dinge erzählt, die sonst noch kein Mensch auf der Erde wissen kann, dann ist er danach so euphorisch.
Gut! Derzeit frustriert es ihn auch noch oft. Aber wenn es diese Antwortsperren mal nicht mehr hat und ihm wirklich JEDE Frage beantwortet, dann kann er schnell überheblich oder gar größenwahnsinnig werden, wenn er nicht jemanden hat, der ihn auf dem Teppich hält. Meinst du nicht auch?“
Emma nickte und schien seinen Überlegungen folgen und zustimmen zu können. „Und jetzt stell‘ dir bloß mal vor, wenn er zurückkommt und noch ein paar Spielsachen mehr dabei hat! Ich weiß es nicht sicher, aber ich denke, selbst eine Waffe ist da nicht ausgeschlossen. Vielleicht sogar wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass er da schon ein bisschen was zu erledigen haben wird. Kurz gesagt: Kommt er als Superheld oder als Superschurke zurück?“
Emmas Augen funkelten. Diesmal aber nicht, weil die Tränen im Anflug waren, sondern weil er sie wohl überzeugt hatte. Ja, sie war ein großer Fan von diesen Comic-Verfilmungen und er hatte sein Abschlussargument bewusst aus diesem Jargon gewählt. Mit der Aufgabe, die er ihr in Aussicht stellte, blühte sein Mädchen wieder auf.
Sie gab ihm schnell einen Kuss auf die Wange und sagte ihm im Gehen, dass die Maschine noch ungefähr eine Stunde brauchen würde. Er solle sich oben auf der Couch ausruhen, einen Film schauen und die Finger vom Wodka lassen. Und schon war sie weg.
Das ging ja schnell, dachte Brugger.
So konnte Brugger sich nun in aller Ruhe seiner anderen Aufgabe widmen. Er ging wieder hoch in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Dort hinter dem Wodka hatte er etwas versteckt, von dessen Existenz Emma vorerst nichts wissen sollte. Ein Teil einer Art „Plan B“, den er sich ausgedacht hatte. Es leuchtete Neongrün aus dem Kühlschrank und Brugger entnahm den Container, weil der Kühlschrank nur als kurzfristiges Versteck hatte dienen sollen.
Vorhin beim rituellen „Nastrowje“ für Petrow, hatte er Erik gefragt, ob er denn Kontrolle über den Behälter mit dem Cyto-X habe. Der wusste nicht genau, worauf er hinaus wollte und Brugger erklärte ihm, dass das Neuro nachher das Dialysegerät programmieren würde und dass man den Behälter einfach dort hinein legen müsste, wo das Blut gewaschen wurde. Die Öffnung der Membran um die Flüssigkeit herum würde das Neuro auch regeln.
Brugger mochte solche Abläufe gar nicht, wo man alle Funktionen und Aufgaben aus der Hand gab. Aber zumindest hatte die Antwort einen versteckten Hinweis auf das gegeben, worauf er es eigentlich abgesehen hatte. „Könntest du deinem Neuro sagen: Bitte trenne den Behälter so, dass ich die zwei Liter habe, die ich brauche und dann einen kleineren zweiten Behälter mit dem Rest?“
Erik hatte gegrinst und den Behälter auf den Tisch gelegt. Das Neuro hatte er noch als Stirnband getragen. Brugger hatte ihn eine Weile beobachtet, wie er versuchte, die Anfrage mit geschlossenen Augen richtig zu formulieren. Dann hatte Erik das Stirnband abgenommen, es in die Ausgangsform zurückverwandeln lassen, und es einfach auf den Container gelegt.
Kurz danach waren beide Zeuge geworden, wie sich der Behälter durch das Erzeugen von einer neuen Membran ungefähr im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel teilte. Erik hatte den kleineren Container oben abgehoben und ihn mit einem Schmunzeln an Brugger weitergereicht.
„Sagst du mir, was du damit vorhast?“ Brugger hatte dies verneint und dann den Wodka verteilt. Erik hatte zwar die Stirn in Falten gelegt, aber es dann dabei bewenden lassen.
Das Übergangsversteck „Kühlschrank“ hatte Brugger bewusst gewählt. Erik würde dadurch nicht wissen, wo er es wirklich lagern würde. Ob diese Geheimhaltung tatsächlich nötig war, stand noch in den Sternen, aber Brugger dachte eher daran, das Versteck vor Staam geheim zu halten, als vor Erik. Man konnte nie wissen!
Nun trug er den kleinen Behälter nach oben in Karinas kleine Giftküche. Sie war spezialisiert auf tropische Krankheiten und hatte zahlreiche Präparate und Heilmittel in ihrem Kühlschrank dort oben gelagert. Der Schrank war natürlich abschließbar, wie es sich gehörte, selbst wenn man in einem Haus lebte, in dem ansonsten nur noch eine weitere Medizinerin lebte, die mit solchen Sachen ebenso umzugehen wusste.
Brugger vertraute darauf, dass Karina den Schlüssel noch immer in seinem alten Versteck aufbewahrte. Er ging zu dem kleinen antiken Apothekerschränkchen neben ihrem Schreibtisch. Es war sicher ein Vermögen wert, darauf ließ eine kleine geschnitzte Signatur, hergestellt 1875, schließen.
Der Schrank war aus massiver Eiche gefertigt, mit silbernen Beschlägen, die aber mittlerweile schwarz waren. Es hatte fünf Reihen zu je sieben Schüben. Brugger hatte immer gewitzelt, dass es 1875 wohl genau fünfunddreißig verschiedene Medikamente gegeben haben musste.
Dritte Reihe, vierter Schub, also genau mittig, öffnete er die kleine Schublade. Da lag ein Päckchen Aspirin. Er grinste, weil er genau wusste, wie sehr Karina gerade dieses Präparat verachtete. Eine frisch gepresste Zitrone hatte mehr Heilkraft! Aber in dem Schächtelchen waren auch keine Tabletten. Brugger nahm es heraus und schüttelte es. Schön, dass sich Gewohnheiten bei Menschen so selten änderten!
Er nahm den Schlüssel aus der Schachtel und öffnete damit Karinas Kühlschrank. Er deponierte das Cyto-X ganz weit hinten, hinter Blutkonserven der ganzen Familie, die sie immer vorrätig hatte. Brugger prüfte die Ablaufdaten und war erfreut, dass Karina diese sowieso bald würde ersetzen müssen. Jetzt stand der Herstellung von etwas mehr Cyto-X nichts mehr im Wege.