Читать книгу CYTO-X - Christian Schuetz - Страница 36
26 - Oberstleutnant Petrow
ОглавлениеBrugger hatte kapiert, dass er zwar nicht der Auserkorene für diese Zeitreisen war, aber dass er eine sehr wichtige Rolle zu übernehmen hatte. So eine Art „Vater der Kompanie“, auch wenn die Kompanie sehr klein war mit Emma und Erik.
Na ja, vielleicht kam Marit da auch noch zu seinen Verantwortlichkeiten hinzu. Sie hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was wirklich passiert war. Oder sollte er das alles lieber nicht nochmals aufwühlen? Sollte er sie lieber dumm, aber glücklich sterben lassen. Glücklich war dabei auch relativ, wenn man ihre Verluste betrachtete. Brugger schob diese Überlegungen aber erst mal ganz nach hinten.
Er hatte überhaupt erst an Marit Magnussen denken müssen, als die Spedition die Armeekiste anlieferte. Emma war vor gut einer Stunde zum Haus ihrer Mutter gefahren, um das Dialysegerät vorzubereiten. Erik und er hatten weiter diskutiert, allerdings ohne große Ergebnisse. Sie wollten gerade aufbrechen, als es plötzlich klingelte.
Also verschoben sie die Abfahrt noch um ein paar Minuten und schauten zu, wie die beiden Packer die Kiste in Bruggers Appartement abstellten. So gut aus dem Weg wie es gerade ging, aber eine Dauerlösung würde das nicht sein. Gut, dass Emma schon weg war, sonst hätte sie gehört, wie die schwere Metallkiste über das Parkett geschoben wurde. Brugger strafte die Dummheit der Packer mit dem Entzug des Trinkgelds, das er vorher bereit gelegt hatte.
Seid froh, dass Emma nicht hier war. Die hätte euch die Köpfe abgerissen!
Danach konnte er sich wieder auf seine Hauptaufgaben konzentrieren. Er würde sich um Emma kümmern müssen. Das war sicher das Wichtigste momentan. Allein während der Diskussion beim Frühstück hatte er gesehen, wie sehr es sie mitnahm. Ihr persönlich wäre es sicher leichter gefallen, selbst auf die Reise zu gehen, was Brugger aber nie zugelassen hätte.
Erik so ziehenlassen zu müssen und ihm vorher noch schnell giftgrünes Zeug in die Adern zu spülen, das machte sie sichtlich fertig. Brugger hatte ihr das angesehen, aber er kam einfach nicht dazu, sie mal zur Seite zu nehmen und zu drücken oder tröstende Worte zu finden, weil alles so Schlag auf Schlag gegangen war.
Und da war auch noch sein zweiter Job: Für Erik ein ... ja, was sollte er eigentlich sein? Vaterersatz? Mentor? Assistent? Sogar der „Sidekick“ fiel ihm wieder ein. Erik hatte sich vorgenommen, das durchzuziehen. Aber war ihm überhaupt klar, was er da durchziehen wollte? Sein Neuro schien auf fast alles eine Antwort zu liefern, aber Brugger konnte die Gefahren darin deutlich sehen.
Er hatte schon einige übermäßig selbstbewusste Studenten oder auch Doktoranden unter seinen Fittichen gehabt. Zögerliche Langweiler mochte er sicher auch nicht, aber die Selbstüberschätzung war in seinen Augen deutlich gefährlicher, als eine schüchterne Zurückhaltung. Erik war wohl kein überheblicher Typ, aber sobald das Neuro ins Spiel kam, entwickelte er eine Tendenz in diese Richtung.
„Was ist das nun für ein idealer Ort, den du mir versprochen hast?“, fragte Erik, während Brugger ihn in seinem langweiligen Diesel-Kombi zum Haus von Karina fuhr.
„Karinas Vater hat das Haus damals selbst gebaut. Und in die Bauphase fiel dann die Kubakrise. Nun, da er alles da hatte, Beton, Metall und was noch so alles nötig war, um ein Haus zu bauen, hat er in den Garten einen Bunker gebaut.“ Erik schaute ihm zu und erkannte, dass Bruggers Mundwinkel dabei langsam immer höher gingen.
„Zumindest hat der alte Herr es gut gemeint, aber das, was er da gebaut hat, war natürlich alles andere als ein Atomschutzbunker!“
Die Leute wussten damals wirklich nicht viel über die Wirkung einer nuklearen Waffe. Brugger erinnerte sich auch noch gut an die Filme, die man in amerikanischen Schulen gezeigt hatte. Das Ganze lief unter dem Motto „Duck & Cover“, also „Ducken und Deckung suchen“, und war so sinnvoll, als würde man einen Regenschirm aufspannen, um nicht von einem Amokläufer mit Automatikgewehr erschossen zu werden.
Brugger war aber noch nicht bei der Pointe angekommen. „Karinas Vater hat dann, nachdem alles vorbei war, einen kleinen Schuppen direkt über dem Bunker errichtet, weil er nicht wollte, dass seine Tochter sich Sorgen machte. Als dann in den Achtzigern The Day After lief und der Atomkrieg praktisch vor der Tür stand für einige, da wollte er den Bunker von einer Spezialfirma warten lassen.
Wir waren da gerade frisch verheiratet und ich hab' dem alten Herrn geholfen das kleine Häuschen abzubauen. Der hat echt nur ein Loch gegraben, fünfzig Zentimeter dicke Betonwände eingelassen und oben drauf eine Tür, die allerdings aus Metall, dummerweise ohne luftdichte Versiegelung. Ich hab' ihm noch gesagt, dass das kein echter Atomschutzbunker wäre, aber ich war für ihn nur der neunmalkluge junge Herr Physiker.
Dann kam der Experte und fragte meinen Schwiegervater, ob er den Mann verklagt hätte, der ihm einen Kartoffelkeller als Atomschutzbunker untergejubelt hatte. Er hat Karinas Vater angeboten, ihm einen komplett neuen Bunker zu bauen, aber das wollte mein Schwiegervater dann auch nicht mehr.“ Brugger gluckste schon eine Weile während der Erzählung und Erik schmunzelte begleitend.
„Also, langer Rede gar kein Sinn! Den Bunker gibt es natürlich noch. Der Schuppen steht wieder drüber, aber man kann nun direkt aus dem Häuschen in den Bunker steigen. Ich glaube sogar, dass er komplett leergeräumt ist. Wenn das mal kein ideales Plätzchen ist, dann weiß ich auch nicht!“
Brugger hatte aber noch etwas zu erzählen. Erik schaut ihn erwartungsvoll an.
„Der Tag, an dem wir uns über den alten Herrn so lustig gemacht haben, war der 26. September 1983. Sagt dir das was, Erik?“
Er schaute ihn eine Weile an und nickte dann: „Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow!“
Brugger nickte anerkennend. „Respekt! Also die beiden Vornamen hätte ich jetzt nicht mehr gewusst, aber kannst du dir diesen Zufall vorstellen? Dass wir uns über meinen Schwiegervater lustig gemacht haben wegen seinem Bunker, während fünfzig Kilometer südlich von Moskau ein Offizier der Sowjetarmee den Dritten Weltkrieg verhindert hat?“
Oberstleutnant Petrow war an besagtem Tag der diensthabende Offizier im Serpuchow-15-Bunker nahe Moskau, als das Warnsystem eine einzelne anfliegende amerikanische Atomrakete meldete. Petrow hatte gemäß der Strategie der UdSSR die Order, im Falle eines solchen Angriffs einen mit allen Mitteln geführten atomaren Gegenschlag zu befehlen.
Petrow vermutete aber sofort einen Fehlalarm, da der Angriff mit einer einzigen Rakete völlig sinnlos erschien. Dann aber folgte eine zweite Rakete. Dann eine dritte, eine vierte und eine fünfte. Während im Bunker der Druck auf ihn wuchs, entschied Petrow weiterhin, dass es ein Fehlalarm sein musste, weil auch mit fünf Raketen so ein Angriff keinen Sinn machen würde.
Das satellitengestützte Frühwarnsystem der UdSSR hatte damals Sonnenreflexionen auf Wolken in Montana, nahe der Abschussrampen der Interkontinentalraketen, als Raketenstarts gedeutet. Hätte sich Petrow an seine strategischen Befehle gehalten, wäre es wohl zu einem Atomkrieg zwischen der UdSSR und den USA gekommen.
Brugger sah den leeren, leicht verträumten Blick bei Erik und hatte plötzlich einen furchtbaren Verdacht. „Sag' jetzt bloß nicht DAS!“
Erik zuckte zusammen. Er wusste im ersten Moment nicht, was Brugger gemeint hatte, aber dann verstand er es und musste lachen. „Keine Panik! Das war kein Eingriff der Zeitpolizei!“
Aber kaum hatte Erik es ausgesprochen, da kam er selbst ins Grübeln. Die kurze Nachfrage an sein Neuro wurde mit dem bekannten Verweis auf eine fehlende Autorisierung abgelehnt, dabei hatte er gedacht, diese Zeiten wären seit den Enthüllungen durch Staam vorbei.
„Also doch nicht so sicher, was?“, kam es prompt vom Professor. „Wo hast du eigentlich das Neuro versteckt?“ Sonst lag es beim Autofahren immer auf der Mittelkonsole, schön in Reichweite, aber diesmal Fehlanzeige!
Erik zeigte leicht verlegen auf seinen Kopf, aber da war auch nichts zu sehen. Brugger schaute nochmal hin und plötzlich konnte er das nun durchsichtige Stirnband erkennen.
„Wie bitte? Einen neuen Trick gelernt?“
„Na ja, ich dachte mir vorhin, dass du sicher wieder einen Anfall kriegst, wenn ich mit dem Ding auf dem Kopf zu dir ins Auto steige. Und schon war der Wunsch da, dass es schön wäre, wenn es sich unsichtbar machen könnte.“
„Und diesen Wunsch hat es dir natürlich sofort erfüllt!“
Erik fühlte sich ein wenig schuldig und nickte, aber er wollte während der Fahrt noch ein paar Fragen zum Zeitsprung, zum Rat und zum Turm der Wissenschaften klären, aber dann war ihnen Oberstleutnant Petrow dazwischengekommen.
„Richtig unsichtbar ist das nicht. Wenn man es so auf einen Tisch legt, dann sieht man die Ränder deutlich wabern. Ist eher eine hochgradige Durchsichtigkeit.“
Brugger war tatsächlich sauer. Nicht nur, dass er es aufgesetzt hatte, sondern auch noch getarnt! Das war ein weiteres klassisches Suchtverhalten und somit für ihn nicht akzeptabel. Das Problem war nur, dass Brugger jetzt neugierig war, was das Neuro zu Petrow zu berichten hatte. „Also dann! Was war nun mit Petrow? Doch ein Fall für die Zeitpolizei?“
Erik zuckte resigniert mit den Achseln und seufzte dabei leise. „Weißt du, Brugger, das ist langsam frustrierend. Ich dachte nach der Show von Staam bekäme ich Zugriff auf alle Ereignisse, die für die Korrektur der Zeit relevant wären. Aber ich kriege echt nur die Events, die Staam erwähnt hat. Da allerdings jede Menge Details. Könnte dir sämtliche Epidemien und Pandemien auflisten, inklusive Erreger, Heilmittel, Ausbruch und Opferzahlen.
Aber wenn ich nach Petrow frage oder nach anderen Ereignissen, dann kommt nur wieder, dass ich keine Autorisation dafür hätte. Insofern kann ich weder bestätigen noch ausschließen, dass bei Petrow eingegriffen worden wäre. Ich hatte sogar gehofft, dass mein Vater da was damit zu tun gehabt hätte.“
„Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte?“
„Na ja, ich bin 1980 geboren. Kurz danach muss er verschwunden sein. Wäre gut möglich, dass er uns verlassen hat, um im Jahr 1983 in der UdSSR eine Katastrophe zu verhindern. Aber das ist nur ein Bauchgefühl. Oder sogar eher Wunschdenken!“
Er sank sichtbar auf dem Beifahrersitz in sich zusammen. Sein neues Spielzeug ließ ihn immer wieder im Stich, besonders wenn in ihm Hoffnung aufkeimte, Spuren zu seinem Vater zu finden.
Brugger parkte seinen Wagen neben dem von Emma. Neben ihm saß ein geknickter zukünftiger Zeitreisender. Da war sie wieder seine Aufgabe als Vater der Kompanie! Musste diese Rolle ausgerechnet ihm zufallen, wo er doch nun wirklich nicht der Geduldigste und Einfühlsamste war? Irgendwie sollte wohl keinem von ihnen eine Comfort-Zone gegönnt sein in dieser Angelegenheit.
„Erik! Schaff dir nicht noch mehr Probleme, als du eh schon hast! Versuch nicht in jedes Ereignis der Geschichte eine mögliche Verwicklung dieser Leute aus der Zukunft zu interpretieren! Das macht dich sonst früher oder später kaputt, krank oder sogar verrückt. Solange du nichts Gegenteiliges erfährst, bleibt Petrow einfach unser persönlicher Held, okay?“
Erik nickte und schüttelte sich. „Weißt du was, Brugger? Ich glaube, ich könnt' mal wieder einen Wodka vertragen!“
Brugger hob den Zeigefinger und sagte: „Ich weiß genau, wo Karina das Zeug für Notfälle versteckt!“
Etwa zehn Minuten später, Emma hatte gerade den zweiten Wartungsdurchlauf des Dialysegeräts gestartet, schallte ein lauter zweistimmiger Ruf durch Karina Bruggers Haus: „Nastrowje, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow!“