Читать книгу CYTO-X - Christian Schuetz - Страница 26
16 - Fragen über Fragen
ОглавлениеErik erinnerte sich an eine Frage, die ihn bewegt hatte, als Magnussens zu ihnen gesprochen hatte: „Wofür steht eigentlich Neuro?“ Der Ursprung des Namens lag wohl in „Neuro-Analytic Mass-Storage Interface“. Die Fähigkeiten der Produktreihe hatten sich erweitert, so dass man auch den Namen hätte erweitern müssen, aber er hatte sich da wohl schon eingebürgert.
Nun folgten die wirklich wichtigen Fragen. Erik fragte nach, warum man sich an die Zeitreisen gewagt hatte. Welche Probleme waren so gravierend, dass man auf dieses gefährliche Mittel zurückgegriffen hatte?
Es folgte eine für das Gerät untypische Pause. Danach wurde ihm mitgeteilt, dass eine komplette Antwort ohne weitergehende Autorisierung nicht möglich sei, aber der Hauptgrund war wohl eine Reihe von natürlichen oder von Menschen verursachten Katastrophen, die die Erde unbewohnbar gemacht hatten.
Nach 2469 sei das Leben für Menschen nur noch in hochtechnisierten Biosphären möglich, was Erik nicht gerade mit Freude erfüllte. Gut, er hatte von der Menschheit nichts anderes erwartet, als dass sie ihr eigenes Zuhause zerstörte, aber musste seine Zeitreise ausgerechnet dorthin gehen, wo man dies alles mitansehen musste?
Auf Fragen nach den genauen Zeitreisen erhielt er ebenso wenig Antwort, wie auf die Fragen nach den einzelnen Katastrophen. Erik wurde aber darauf hingewiesen, dass durch die stetig mögliche Veränderung der Zeitlinie hierzu korrekte Aussagen nur in Verbindung mit einem Zeitatlas möglich seien.
Daraufhin wurde ihm ein Bild in den Kopf projiziert, von einer Karte, die wie eine moderne Sternenkarte aussah, die aber mithilfe eines Neuros keine Sterne anzeigte, sondern Ereignisse in der Zeit. So wie sich die Karte bewegte und veränderte, war sie sicher randvoll mit Cyto-X.
Auf die Frage nach dem Ursprung der Zeitreise-Technologie wurde das Neuro wieder etwas geschwätziger. Erik war verblüfft zu hören, dass die ersten Ideen dazu tatsächlich aus dem aktuellen Jahrhundert stammten. Die NASA hatte im Rahmen der Projekte um den Flug zum Mars immer wieder Probleme mit den immensen Flugzeiten. Im Hinblick auf weitere Flüge zu noch entfernteren Zielen, beschloss ein kluger Kopf, wenn man nicht in der Lage sein sollte, mit den modernsten Antrieben Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, dann müsse man dafür sorgen, dass das Raumschiff einen Zeitsprung machte.
Das klang auf Anhieb wie eine Schnapsidee, aber die Wissenschaft hatte die Krümmung der Zeit irgendwann als Fakt hingenommen oder definiert und die Möglichkeit von Krümmungswellen erkannt. Allein an der Erzeugung einer solchen Welle war man gescheitert.
Erik wunderte sich darüber nicht. Schließlich hatte er gerade gelernt, dass nur organische Körper, die mit Cyto-X vollgepumpt waren, einen Zeitsprung machen konnten. Ein Raumschiff mit seinen Tonnen aus Metall würde somit von vorneherein ausscheiden. Allerdings wurde Erik jetzt auch richtig bewusst, dass dieses „mit-Cyto-X-vollgepumpt-sein“ auch ihm blühen würde, wenn er reisen wollte.
Die Pläne für interstellare Raumfahrt wurden Ende des 21. Jahrhunderts auf Eis gelegt. Erik musste sich damit begnügen, dass eine sozialpolitische Veränderung in Nordamerika dafür der Auslöser sein würde. Er fragte nach, formulierte die Anfrage immer wieder um, aber das Neuro blieb stur.
Es frustrierte Erik maßlos, dass das Neuro immer wieder abblockte, aber als er sich geistig wieder sammelte, wusste er, dass es gut war, dass das Neuro bestimmte Dinge nicht preisgab. Er selbst hatte vor zwei Tagen noch jeden Gedanken an Zeitreisen verurteilt. Er sollte wirklich nicht zu viel darüber wissen, über das, was die Zukunft bringen würde.
Aber er begann langsam zu verstehen, warum Novalik Staam und sein Team auf die verzweifelte Idee mit den Zeitreisen zurückgegriffen hatten. Er überlegte kurz. Wer sagte ihm, dass es ein Team war? Das Neuro verweigerte ihm dazu schließlich die Aussage. Aber sicher würde das nicht ein Einzelner schaffen, und irgendwie war sich Erik auch sicher, dass sein Vater, zumindest für eine gewisse Zeit, Teil dieses Teams gewesen war.
Er fragte dennoch, zunächst nach Staam, erhielt aber wieder den Verweis auf seine mangelnde Autorisierung. Keine Vita, kein Bild, nichts. Dann versuchte er es mit Hermann Stolz. Gleiches Ergebnis.
„Kann ich daraus schließen, dass mein Vater mit Novalik Staam zusammengearbeitet hat?“ Und zum dritten Mal eine Niete gezogen. Irgendetwas sagte ihm, dass er dieses Rätsel wohl nur durch die Reise klären könnte und damit hakte er es fürs Erste ab.
Zumindest fühlte Erik sich bereits so richtig ausgeschlafen. Anscheinend simulierte das Neuro auch die REM-Schlafphase während seiner Tätigkeit. Er beschloss gleich noch eine Runde im See zu schwimmen, aber zuerst wollte er noch wissen, was ihm da eigentlich recht unmittelbar bevorstand. Er wollte eine Beschreibung seiner Zeitreise, welche Geräte er dafür bräuchte und wie es sich anfühlen würde.
Erik hatte mit einer Ablehnung der Anfrage gerechnet, aber das Neuro antwortete. Zunächst stellte es nochmals klar, dass nur organische Körper auf Cyto-X-Basis eine solche Reise antreten könnten. Und Eriks gedachter Einspruch, dass dies für ihn doch gar nicht zutraf, wurde erweitert um den Hinweis, dass für einen Körper von etwa siebzig Kilogramm gerade einmal zwei Liter Cyto-X notwendig waren, um eine Zellwäsche erfolgreich durchzuführen.
Beim Fehlen einer „Meyerschen Zellwaschvorrichtung“ reiche auch eine Blutwäsche, da sich das Cyto-X innerhalb des Körpers selbstständig reproduzieren würde, unter Zuhilfenahme der Substanz der existierenden alten Zellen.
War der Prozess denn schmerzhaft? Unwohlsein und Gleichgewichtsstörungen wären wahrscheinlich, aber nach abgeschlossener Prozedur, gäbe es keine weiteren Symptome. Eine Zellwäsche wäre nach zwanzig bis achtzig Minuten abgeschlossen, je nach Entwicklungsstand des Apparates, bei einer altertümlichen Blutwäsche (wie charmant!) müsse man mit etwa sechs Stunden rechnen. Die Nachwirkungen würden jeweils nochmal solange andauern. Danach wäre der Körper bereit.
Für die eigentliche Zeitverschiebung müsste der Körper dann durch Feldmodulatoren in den korrekten phasischen Zustand versetzt werden und energetisch mit der ankommenden Krümmungswelle synchronisiert werden. Der Körper verließe die Welle dann zu der festgelegten Zeit, an genau demselben Ort, an dem die Verschiebung gestartet wurde. Als Sicherheitshinweis folgte noch die Warnung, Ort und Zeit mögen so gewählt sein, dass sich dort keine soliden Gegenstände befinden sollten.
Diese Warnung erzeugte schon ein wenig mehr Gänsehaut bei Erik. Woher sollte er wissen, dass er nicht in einer soliden Wand aus Stein landen würde? Und wenn diese Reisen öfter durchgeführt wurden, woher wussten die Reisenden dann wann und wo es sicher war zu landen?
„Der Ziel-Zeitort wird anhand aller vorhandenen Aufzeichnungen und Daten sondiert“, erklärte das Neuro. Dazu wurden Fotografien und auch Satellitenbilder zu Hilfe genommen, ebenso wie Konstruktionszeichnungen von Gebäuden, die vielleicht nicht mehr existierten. „Ein Restrisiko besteht immer. Besonders bei mangelhaften Daten.“
Reisen in die 1950er waren also riskanter und damit unwahrscheinlicher, als ins 25. Jahrhundert. Das schwächte Eriks Theorie vom zeitreisenden Vater etwas, widerlegte sie aber nicht. Das Neuro legte aber nach, dass Reisen in Zeiten vor der Erfindung von Satelliten oder gar der Fotografie durch die deutlich geringere Bevölkerungsdichte einfacher waren. Es blieb dabei, die Reise von Dr. Hermann Stolz hatte keinen allzu günstigen Ziel-Zeitort, um sich gleich mal der neu gelernten Begriffe zu bedienen.
„Was passiert denn, wenn der Zeitreisende in irgendetwas landet?“
Jede Form von soliden anorganischen Objekten wäre offensichtlich fatal. Vielen Dank für diese Bestätigung! Das beruhigt die Nerven.
Kleinere Gegenstände anorganischer Natur könnten aufgrund der hohen energetischen Bilanz einer Zeitverschiebung weggeschleudert werden. Es wäre aber sehr schwierig die genaue Masse zu bestimmen, bis zu welcher ein Objekt beeinflusst würde. Bei organischen Gegenständen wäre es etwas anders. Erik wollte gerade Beispiele bringen und so erfragen, welcher Gegenstand wie reagieren würde, aber er wartete erst mal die Ausführungen für organische Stoffe ab.
„Organisches Material wird neutralisiert!“
Das war alles? Erik reichte diese Formulierung nicht. Sie klang so politisch korrekt für eine in Wahrheit eher schlimme Sache. Und damit lag er absolut richtig. Er bohrte nach und wollte genauere Beschreibungen und Erklärungen und er hätte dabei schwören können, dass das Neuro versuchte, ihm auszuweichen.
Es schien fast so, als habe das Neuro ein wenig die Wertevorstellungen seines Schöpfers oder seiner Vorbesitzer mitgenommen und schämte sich dafür, erklären zu müssen, was passierte, wenn man dorthin reiste, wo bereits ein anderes Lebewesen stand, saß oder herumlag.
Im Prinzip war es einfach und schrecklich zugleich. Man konnte sich leicht vorstellen, welche extremen Energien nötig waren, um einen Körper durch die Zeit zu schicken. Und wenn ein dermaßen geladener Körper sich nun einfach aus dem Nichts manifestierte, an einem Ort, wo sich schon etwas anderes Lebendes befand, dann gab es Verluste. Kollateralschaden sozusagen!
In Eriks Gehirn war dazu eine Art Grafik zu sehen. Ein Mensch innerhalb eines ovalen Kraftfeldes, das seinen Körper umschloss und wie eine Blase aussah. Eriks Verstand hatte um Beispiele gebeten, und das Neuro ging auf diesen Wunsch nun ein.
Die Darstellung bewegte sich auf fortgeschrittenem Zeichentrickniveau. Ein weiteres Indiz dafür, dass gleich recht unschöne Dinge zu sehen sein würden. Zunächst beantwortete das Neuro die unangenehme Frage mit Pflanzen. Der Körper materialisierte sich im ersten Beispiel in einem Gebüsch, welches danach, innerhalb des ovalen Kraftfeldes, schlichtweg nicht mehr existent war. Es gab keine Asche oder andere Rückstände. Erik vermutete, dass die organischen Überreste die phasische Ladung abbekamen und sich somit für den Beobachter in Nichts auflösten.
Das Neuro bestätigte Eriks Auffassung, verschwieg aber nicht, dass es dort noch ungeklärte Aspekte gab. Er schnaufte kurz durch und sprach das Neuro nun direkt an: „Na, los! Dann schick doch jetzt mal Klopfer in das Feld! Deshalb hast du doch auf Zeichentrickmodus geschaltet, oder?“
Schon entstand das Bild eines Zeichentrick-Kaninchens und Erik bereute seinen Wunsch sofort. Zum Glück war es nicht DER „Klopfer“, sondern einfach nur ein Kaninchen in Zeichentrick-Format. Die Rechte von „Walt Disney“ waren wohl zu teuer gewesen!
Noch während er witzelte, löste sich der Hoppelmann in Nichts auf. Unschön, aber wie erwartet. Erik brauchte aber noch ein Beispiel mit einem Tier, das größer war, als die ovale Blase. Dass das Neuro einen Elch wählte, lag wohl am Vorbesitzer Magnussen, aber er erfüllte den Zweck mehr als deutlich. Die Hinterläufe und ein Teil des Bauches verschwanden und er fand den nachgestellten Todeskampf des Tieres auch als Trickfilm nicht erbauend. Seiner Bitte nach Löschung kam das Neuro umgehend nach.
Erik konnte sich nun denken, was geschehen würde, wenn sich am Ziel-Zeitort bereits eine andere Person befand. Ja, man musste sehr gründlich abklären, wo man landen wollte. Schnell war in seinen Gedanken das Bild eine Baums entstanden.
Es war ein sehr unbewusstes letztes Beispiel, aber es zeigte, dass auch die Natur eine Chance auf Rache haben könnte. Der untere Teil des Baumstamms löste sich auf, wo die Blase auftauchte. Der obere Teil des Stammes raste senkrecht nach unten und zerquetsche das Zeichentrick-Männchen.
Dies schien fast schon ausgleichende Gerechtigkeit zu sein. Erik spielte noch eine Weile mit Beispielen und sah das Männchen in Betonwänden oder Autos sterben, sah wie sich Möbelstücke teilweise auflösten und die metallischen Reste davon geschleudert wurden. Es war zwar beruhigend, in dem ovalen Kraftfeld grundsätzlich die bessere Ausgangslage zu haben, aber schön war das alles nicht.
Erik wollte das Neuro bereits ablegen und schwimmen gehen, als ihm noch ein letztes Detail einfiel: „Diese ganzen Dinge passieren doch nur, weil das Cyto-X seine gesamte energetische Aufladung mit der es durch die Zeit gereist war, auf einen Schlag abgibt, oder?“, fragte er flüsternd. Irgendwie hielt er es für nötig, seine Gedanken zumindest leise auszusprechen und nicht einfach nur stumm zu denken.
„Negativ!“ Eine fast schon liebenswert altertümliche Ausdrucksweise, musste Erik konstatieren. „Die Energie wird nicht abgegeben, nur die phasische Ladung. Der Körper braucht die Energie noch zur Rückreise.“
Er legte die Stirn in Falten und spürte dadurch seinen neuen Kopfschmuck zum ersten Mal etwas unangenehm. Ein Zeichen, dass es wohl wirklich Zeit war, eine Pause einzulegen. Aber er sah nun bildlich vor sich eine längliche Schleife, so wie sie auch massenhaft in Bruggers Programm zu sehen waren. Erstaunlich, wie nahe der alte Fuchs mit seiner Analyse der futuristischen Wahrheit gekommen war.
Der leuchtende Punkt, der sich nun auf der Schleife in Bewegung setzte, sollte den reisenden Körper darstellen. Der Punkt verließ an einer Stelle die Bahn der Schleife und bewegte sich sozusagen „Lot-senkrecht“ auf die gegenüberliegende Seite der Schleife zu.
Es sah aus, als wäre dem Punkt der Weg über die gesamte Bahn zu lang und er kürzte einfach ab, aber Erik verstand schnell, dass diese „Abkürzung“ eine symbolische Darstellung des Aufenthalts des Körpers in der Ziel-Zeit war. Danach reiste der Körper wieder auf der Schleife, die folglich eine Krümmungswelle grafisch interpretierte, zurück zum Ausgangsort.
War diese Zeitspanne, also die Länge des Aufenthalts in der Ziel-Zeit mathematisch und physikalisch vorbestimmt?
Nein, dies war nur die maximale Aufenthaltszeit; man könne die Rückreise jederzeit vorher initiieren.
Und wenn man sie nicht initiierte und die Zeit einfach ablief?
Dann würde die Rückreise automatisch stattfinden, egal, wo man sich gerade aufhielt.
Erik war schockiert über die Sicherheitslücken, die dieses Verfahren aufwies. Wie verzweifelt mussten diese Leute sein, um auf so ein riskantes Mittel zurückzugreifen? Diese Frage hatte er sich früher schon gestellt, aber eine unbewohnbare Erde beantwortete sie eigentlich schon größtenteils.
Mehr oder weniger beunruhigt legte Erik das Neuro ab und ging schwimmen.