Читать книгу CYTO-X - Christian Schuetz - Страница 32
22 - Novalik Staam
ОглавлениеNachdem sie sich darauf geeinigt hatten, vor irgendwelchen Entscheidungen erst mal das letzte Teil des Puzzles zu betrachten, hatten sie alle um den Tisch herum Platz genommen. Einen der Stühle am Kopfende hatten sie freigelassen, weil sie erwarteten, dass wieder ein Hologramm erscheinen würde, um dort Platz zu nehmen.
Erik hatte sein Neuro in Blockform zentral auf den Tisch gelegt und legte dann das „Mini“ einfach drauf. Alle drei tauschten nervöse, angespannte Blicke aus, bis dann plötzlich das kleine Gerät einfach im Großen versank. Spurlos! Kurz danach leuchtete aus dem Inneren des Neuro wieder dieser kleine grüne Punkt, breitete sich aus und begann mit der Abtastung. Es war interessant, wie schnell so etwas zur Routine wurde.
Brugger machte sich auch keine Gedanken mehr darüber, wer oder was dieses grüne Gebilde steuerte. Erik war einfach nur neugierig, ob dies die letzten Anweisungen für den Zeitsprung werden würden. Und Emma überlegte gar, ob man diese Abtastung für medizinische Zwecke verwenden könnte. So eine Art Röntgen, CT, MRT und großes Blutbild alles in einem!
Alle drei blickten gebannt auf den Stuhl, aber nichts geschah. Die grüne Laserkugel war längst wieder in sich zusammengefallen, aber der Stuhl blieb unbesetzt. „Erik, ich freue mich darauf, dich bald zu sehen!“
Brugger spuckte den Weinbrand, den er gerade genippt hatte, wieder ins Glas, Emma schrie spitz auf, und Erik wollte sich so schnell zu der Stimme hinter ihm umdrehen, dass er sich das Knie schmerzhaft am Tischbein stieß.
Als er die Drehung dann doch geschafft hatte, stand nur eine Armlänge von ihm entfernt ein Fremder. Genauer gesagt, das Hologramm eines Fremden, aber dieses war noch etwas besser als das von Magnussen.
Bessere Kamera? Bessere Ausleuchtung? Wie auch immer, dieser Mann sah beeindruckend aus. Grüne, durchdringende Augen, volles rotes Haar, dazu ein freundliches Lächeln mit echten Grübchen und ein spitzes Kinn. Wenn die Technik ihn nicht künstlich größer machte, maß er fast zwei Meter.
„Ich freue mich, dass meine Geräte dich erreicht haben! Meine Berechnungen waren gründlich, aber ein Restzweifel bleibt bei so komplexen Eingriffen immer übrig. Du bist sicher schon neugierig und hast viele Fragen.“
Brugger und Emma sahen sich kurz an. Das Hologramm gab ihnen das Gefühl, auf einer Party zu sein, zu der sie nicht eingeladen waren, aber keiner von beiden machte Anstalten zu gehen.
„Ich wähle diese Darstellungsform, weil du sicher noch nicht das Cyto-X in dir hast. Sobald du die Blutwäsche hinter dir hast, was sicher etwas unangenehm sein wird, aufgrund der antiquierten medizinischen Technik, wird sich dir das Neuro auf ganz neue Arten und Weisen erschließen. Solche Showeinlagen brauchen wir dann nicht mehr.“
Emma fühlte sich durch den Verweis auf den medizinischen Stand der Technik persönlich beleidigt und beschwerte sich, was nur für ihren Vater zu hören war: „Hättest ja ein modernes Gerät mitschicken können, wenn dir unsere Blutegel nicht passen!“
Novalik Staam stand vor ihnen in dem gleichen kompakten Latexanzug, den Erik vorher kurz angehabt hatte. Er hielt die Hände vor dem Körper auf Höhe seines Bauches, so dass sich die Fingerspitzen der beiden Hände berührten. Er sah vielleicht aus wie Mitte dreißig, wirkte aber vor allem von den Augen her viel älter und erfahrener.
„Erik, ich weiß, dass ich dir etwas mehr Informationen geben muss, bevor ich ernsthaft erwarten kann, dass du dieses Wagnis eingehst. So sieht es natürlich nur aus deiner Sicht aus. Für uns ist das eher Routine. Es gab mit der Technik noch nie Probleme. Falls du dein Neuro noch nicht zum Ablauf eines Zeitsprungs befragt hast, wäre nun der richtige Zeitpunkt. Stell mich einfach auf Pause!“, sagte Holo-Staam mit einem recht einnehmenden Lächeln.
„Erik, dieser eine Zeitsprung wird nicht an dem Ort enden, an dem du abreist. Ich befinde mich im Turm der Wissenschaften und es wird dich sicher nicht wundern, dass der genau am Nordpol steht. Es wäre schier unmöglich, die richtigen Koordinaten für diese Reise zu finden. Alles, was du brauchst, ist ein sicherer Ort, an dem du abreisen und wieder zurückkehren kannst, ohne dass etwas den Rückreiseort blockieren kann.“
Brugger legte die Stirn in tiefe Falten. Er hatte die Logik akzeptiert, dass man ein Gerät erfunden hatte, welches ein Feld erzeugte, um die Zeit zu krümmen. Wenn man dieses Feld mit dem Erdmagnetfeld synchronisierte, konnte er sogar akzeptieren, dass man bei so einem Ritt auf der Krümmungswelle nicht irgendwo im Weltraum landete, sondern an exakt den gleichen Koordinaten auf der Erde. Dass Erik nun gleichzeitig mit der Reise auch noch an einen anderen Ort „gebeamt“ werden sollte, gefiel ihm gar nicht.
„Die technischen Details erfährst du alle über dein Neuro, sobald dein Körper mit Cyto-X gesättigt ist. Darauf will ich jetzt nicht weiter eingehen.“ Staam machte eine kurze Pause. Die Fingerspitzen lagen nun nicht mehr sauber aufeinander. Vielmehr hatten die Finger fast gebetsartig ineinander gegriffen. Emma hielt die Luft an, weil sie merkte, dass es nun etwas emotionaler werden würde.
„Erik, du bist unsere letzte Chance! Wir haben große Verluste hinnehmen müssen. Als dein Vater von unseren Sensoren verschwunden war, dachten wir, er wäre tot, aber anscheinend hat er noch etwas ganz Großes geschaffen. Dich!“ Brugger war auf seinem Stuhl immer weiter vorgerutscht. Das war eine seiner wichtigsten Fragen: Wer war Hermann Stolz wirklich? Er wollte schon laut rufen, er solle weiter reden, da merkte er, dass Erik wohl auf „Pause“ gestellt hatte.
Erik erbat sich einen Moment und verschwand auf die Toilette. Emma war schon aufgestanden, so als wolle sie sich um ihn kümmern, aber ihr Vater sagte nur kurz: „Emma, lass!“
Sie hielt inne, und es sah ein wenig so aus, als habe Brugger damit bei ihr den „Pause-Knopf“ gedrückt. Aber sie bewegte sich dann doch wieder und ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken. Brugger goss ihnen nochmal nach. Diese Offenbarungen waren ganz ohne Alkohol einfach nicht zu ertragen.
„Was hältst du von ihm?“, fragte Brugger seine Tochter. Emma blickte ihn verdutzt an, sah dann aber, dass er auf das Hologramm deutete. „Emma, du hast doch eine viel bessere Menschenkenntnis als ich. Sag einfach, was dir einfällt!“
Emma überlegte kurz. Ja, ein paar Dinge zu diesem Mann waren ihr schon durch den Kopf gegangen, aber sie war natürlich auch zu neugierig, um sich auf eine charakterliche Einschätzung zu konzentrieren.
„Ich weiß nicht! Vielleicht etwas zu glatt? Eher wie jemand, der dir Versicherungen verkaufen will. Ich mag die Augen nicht. Kann es nicht begründen, aber ich traue ihm nicht.“ Ihr Vater nickte. Das reichte Emma, um zu erkennen, dass sie gleicher Meinung waren.
Brugger mochte dieses Standbild. Es erlaubte ihm, das Gesicht und die Körpersprache in Ruhe zu studieren. „Schau mal! Er schaut nach links! Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass jemand lügt?“, fragte er dann plötzlich.
Emma zögerte kurz, musste dann aber lachen. „Du Paps, das hängt mit den verschiedenen Gehirnhälften zusammen. Kreative Seite und so. Aber wenn ich an Eriks Gehirn denke und seinen Extra-Lappen, der beide Seiten miteinander verbindet, dann glaube ich nicht, dass man das in der Zukunft noch anwenden kann.“
Plötzlich war Emma aber neugierig auf das Gehirn. Sie sprang auf und ging um das Hologramm herum, betrachtete den Kopf sehr genau. Dann machte sie mit ihrem Handy noch ein paar Schnappschüsse. Vielleicht konnte sie anhand von Vergleichsbildern berechnen, ob der Kopf minimal größer war. Aber auf den ersten Blick gab es zumindest keine auffälligen Vergrößerungen im Schädelbereich.
Als sie in ihrem Eifer das Hologramm mit den Fingern berührte, zuckte sie sofort zurück. Sie schaute ihren Vater erschrocken an. „Das ist warm und irgendwie feucht.“
Sie schüttelte sich leicht geekelt. Brugger musste schmunzeln. Er hatte schon beim ersten Mal, als er den alten Magnussen vor sich hatte, damit geliebäugelt, in der Holo-Substanz herumzufuchteln.
„Also auf den ersten Blick ist der Schädel nicht anders geformt, als bei einem heutigen Menschen.“ Emma setzte sich und rieb sich immer noch die Hände an ihrer Jeans ab. Sie würde so schnell kein Hologramm mehr anfassen.
„Meinst du etwa, Eriks Kopfschmerzen rühren daher, dass in seinem Schädel nicht genug Platz ist?“, fragte Brugger neugierig.
„Das ist eine der Möglichkeiten, aber jetzt, wo wir gerade erfahren haben, dass sein Dad wirklich aus der Zukunft kam, glaube ich einfach, dass es das Ergebnis der Fortpflanzung eines Zukunftsmenschen mit einer Vertreterin unseres aktuellen Evolutionsstandes ist. Die DNA hat sich vermischt, die Anlage für den Lappen war da, und als er begann, sich zu entwickeln, wusste er nicht genau, wohin er sich entwickeln sollte.“
Brugger liebte es, wenn Emma wie eine Forscherin klang. Er hatte ihr schon immer bahnbrechende Innovationen auf dem Gebiet der Gehirnforschung zugetraut. Dieses Ereignis könnte sie anspornen, sich wieder etwas mehr in diese Richtung zu bewegen. Die meisten Gehirnoperationen, die sie durchführte, konnten auch normale Chirurgen machen.
Er sah ihr Potenzial einfach nicht ausgereizt, aber er liebte auch ihre Leidenschaft für ihre Patienten. Brugger hatte es bisher immer ihr überlassen, wo sie ihre Schwerpunkte setzte und würde das auch weiter so halten. Aber vielleicht konnte er ihr nach dieser Angelegenheit doch noch einen kleinen Schubs Richtung Forschung geben?
Erik kam zurück und setzte sich ohne große Umschweife einfach wieder an seinen Platz. Emma beugte sich vor, legte eine Hand auf seine Schulter und fragte, wie es ihm ginge. „Geht schon! Ich musste nur was überlegen!“
Dann stand er auf und wandte sich beiden zu. „Ich habe nur überlegen müssen, weil das doch eine direkt an mich gerichtete Nachricht ist und mir der gleich erzählen wird, wer mein Vater war.“
Emma stand auf und hatte auch ihren Vater schon an der Hand gepackt, um ihn mitzuziehen. „Du willst das alleine anhören! Sorry, ich war so vertieft! Natürlich lassen wir dich alleine.“
Aber Erik schüttelte bereits den Kopf. „Nein, ich sagte nur, dass ich deswegen überlegt habe.“
Dann blickte er zu Emmas Vater. „Brugger, du hast mir heute so schön erklärt, wie leicht ich es habe. Keine Familie, keine Bindungen. Dass ich jederzeit einfach abhauen kann, wenn es mir zu heiß wird.“
Emma blickte ihren Vater sofort vorwurfsvoll an, aber Erik konnte sie stoppen, bevor sie ihre verbale Schelte starten konnte. „Nein, Emma! Er hatte völlig Recht. Und er hat mich dadurch auch ein wenig wachgerüttelt.“
Erik zögerte ein wenig. Brugger dachte wieder an den Begriff der „Comfort-Zone“. Das war wohl auch gerade keine für Erik. „Meine Mutter starb, kurz bevor ich achtzehn wurde. Das ist jetzt vierzehn Jahre her und seitdem hatte ich nichts, was auch nur annähernd einem Freundeskreis oder einer Familie ähnelte.“
Emma beugte sich vor und legte ihre beiden Hände über Eriks linke Hand, mit der er sich auf dem Tisch abstützte. Die beiden blickten sich tief gegenseitig in die Augen. Erik konnte die Rührung in ihren Augen sehen und das machte es ihm schwer, weiter zu reden.
„Wollt ihr zwei euch jetzt hier verloben oder was wird das?“, unterbrach Brugger den heimeligen Moment. Emma drehte sich sofort zu ihm und ließ dabei Eriks Hände los.
„Dad! Du bist so ein Kotzbrocken!“ Sie rollte mit den Augen so stark, dass sie ihn einfach nicht mehr anschauen musste. Brugger nutzte den Moment und blinzelte Erik kurz zu. Der nickte kurz zurück, denn er war nicht undankbar für die Auflösung dieses etwas schmalzigen Moments.
Dann räusperte Erik sich und sagte: „Was ich sagen wollte, war einfach, dass ich glaube, wir sind mehr als nur ein gutes Team.“
Emma hatte sich wieder gefangen und sah den kurzen Blick zwischen ihren beiden Männern. Sie erkannte, dass da etwas hinter ihrem Rücken gelaufen war und schwor, es den beiden doppelt und dreifach heimzuzahlen, sobald sie die Chance hatte. Brugger goss nun auch Erik nochmal nach und die drei stießen ohne viele Worte kurz miteinander an.
Erik war seit langer Zeit mal wieder richtig glücklich. Brugger hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Seine Jobs sorgten für Befriedigung und jede Menge Kohle, aber teilen konnte er die Erfolge mit niemand. Insofern eilte er von einem Job zum nächsten, um diesen Level an Befriedigung aufrechtzuerhalten. Eigentlich nichts anderes, als das, was ein Drogensüchtiger machte.
Hier war es plötzlich anders! Ob Erfolg oder Misserfolg, das war ihm tatsächlich mehr oder weniger egal. Wichtig war ihm nur, dass die beiden dabei nicht zu Schaden kämen. Und so wollte er auch die Offenbarungen über seinen Vater mit ihnen teilen.
„Also, wer will wissen, wer mein Vater wirklich war?“