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17 - Maske

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Bruggers Martyrium begann kurz nach sechs Uhr am Freitagmorgen. Als einer der führenden theoretischen Physiker Europas hatte er schon des Öfteren Angebote gehabt, im Fernsehen als Experte aufzutreten. Ein Hauptgrund, dass er stets abgelehnt hatte, war die Aussicht auf eine Sitzung in der Maske. Dort wäre er dann dreißig bis vierzig Minuten gepudert, geschminkt und frisiert worden, um für die Glotze akzeptabel auszusehen.

Äußerlichkeiten hatten für ihn schon immer die geringste Priorität. Heute drohten ihm aber keine dreißig bis vierzig Minuten sondern drei bis vier Stunden. Als er das gehört hatte, wäre er am liebsten wieder aufgestanden, hätte sich bedankt und vorgeschlagen, jemand anders möge doch die Zukunft oder die Vergangenheit oder welche Zeit auch immer retten.

Während eine Assistentin ihm ein paar zusätzliche graue und weiße Strähnchen in die Haare färbte, begann „Mike der Maskenbildner“ damit, immer wieder leichte Latex-Schichten auf sein Gesicht aufzutragen, nur um diese wieder abzuziehen. Dann wurden Abdrücke und Gegenabdrücke gefertigt, um so langsam die Unterschiede von Brugger zu Magnussen zu modellieren.

Schlafen durfte er nicht dabei, weil er ab und zu Spannung auf sein Gesicht bringen sollte. Aber Brugger hatte jede Menge Zeit, um über den gestrigen Tag nachzudenken. Ein Tag, der eigentlich gut begonnen hatte. Er war früh aufgestanden und hatte einen kurzen Blick in Eriks Zimmer geworfen. Der lag auf dem Bett und schlief.

Der Professor vermutete, dass Erik seinen Rausch ausschlief und ging frühstücken. Es war ganz angenehm, mal wieder etwas Zeit alleine zu verbringen. Als er zurück aufs Zimmer kam, hörte er bereits Geräusche aus Eriks Zimmer. Er wollte gerade zu ihm reinschauen, als sein Handy klingelte.

Marit wollte ihm Bescheid geben, dass die Spedition bereits die Kiste abgeholt hatte und sie wohl bis Samstag, allerspätestens aber bis Montag, bei ihm in Frankfurt anliefern würde. Der folgende Small-Talk zeigte ihm, dass da wirklich eine gewisse Verbindung zu ihr bestand. Er empfand sogar leichte Schuldgefühle gegenüber Karina. War sie etwa doch nicht die einzig mögliche Frau für ihn?

Da er derzeit aber ganz andere Probleme hatte, wurde diese Frage hinten angestellt. Marit wünschte ihnen eine gute Reise und Brugger versprach ihr, sich zu melden, sobald sie etwas gefunden hätten.

Und schon wieder gelogen! Das wird langsam zur Gewohnheit!

Es folgten die Fahrt nach Deutschland und ein wahrer Redeschwall von Erik. Brugger hatte sich als Fahrer angeboten, weil er dachte, dass sein junger Freund vielleicht noch nicht ganz fit war. Er war etwas erstaunt zu hören, dass dieser aber schon um vier Uhr morgens eine Stunde durch den See geschwommen war und zuvor nur deshalb noch im Bett gelegen hatte, weil er sich völlig verausgabt hatte. Dennoch war es gut, dass Brugger am Steuer saß, weil Erik so aufgeregt berichtete, dass er alle Energie und Aufmerksamkeit dafür aufbrauchte.

Zunächst war der Professor schockiert zu hören, dass Erik das Neuro wirklich unter sein Kopfkissen gelegt und auch tatsächlich schlafend damit kommuniziert hatte. Obwohl Erik ihm versicherte, dass er vorsichtig mit seinem neuen Spielzeug sein würde, war Brugger keineswegs zufrieden. Er monierte vor allem, dass Erik jedes Wort für bare Münze genommen hatte.

Woher nahm er diese Sicherheit? Und die Aussage, dass er einfach spürte, dass es richtig war und dass er es auch spüren würde, falls er mit dem Neuro kommunizieren könnte, beunruhigte Brugger eher noch mehr. Bei solchen Aussagen wurde Brugger immer hellhörig.

Das war so die Ecke der menschlichen Psyche, wo es in den Glauben überging. Man konnte mit ihm jede fachlich fundierte Diskussion führen. Aber wie hätte er jemanden auf dieser Basis widerlegen sollen? Ihm blieb fürs Erste nichts anderes übrig, als ihn zu höchster Vorsicht zu mahnen und zu versuchen, trotz aller Überzeugung die Aussagen des Neuro auch mal zu hinterfragen.

Nicht zum ersten Mal verfluchte Brugger die Entscheidung, sich in der „kreativen Woche“ ausgerechnet dieses Projekt von Magnussen vorgenommen zu haben. Vielleicht war er ein wenig eingebildet, aber er vermutete, dass jeder seiner Assistenten das schnell ad acta gelegt hätte und damit wäre es wohl für immer verschwunden gewesen.

Aber anscheinend war es „vorherbestimmt“, dass er es wählen würde. Er war zwar nicht namentlich erwähnt worden vom Hologramm, aber wie hätte es sonst Erik nach Norwegen führen sollen, wenn nicht durch die Verbindung, die zwischen ihnen und Emma bestand?

Wie er es drehte oder wendete, es war einfach krank. Genau das war der Grund, warum er solche hypothetischen Zeitspielchen nie mitmachen wollte. Entweder war es gar nicht seine eigene Entscheidung, sondern Bestimmung, oder diese Entscheidungen waren so vorhersehbar, dass man sie fast fünfhundert Jahre entfernt noch erkennen konnte.

Und Entscheidungen hatte er genug zu treffen! Als er das Ergebnis vor sich hatte und besorgt war, dass es in den falschen Händen landen könnte, war er durchaus versucht, alles zu löschen und es notfalls mit ins Grab zu nehmen. Er hatte sich dafür entschieden, es mit Emma zu besprechen und erst dadurch kam das Neuro letztendlich zu seinem vorbestimmten Besitzer. Erik war so enthusiastisch, dass es gar nicht zur Diskussion stand, vielleicht doch noch alles irgendwo zu vergraben oder im Meer zu versenken.

Die Sache mit dem Kind war natürlich auch für Brugger nicht hinzunehmen. Und seit gestern wusste er von Erik auch noch, dass die Erde im späten 25. Jahrhundert unbewohnbar werden würde und der Sinn dieser Zeitreisen wohl darin bestand, diese Zukunft rückwirkend zu verhindern. Da war sie wieder diese kranke Zeitreiselogik, die sich in wirrer Grammatik materialisierte.

Dennoch waren sie sich bei ihrem ersten Brainstorming vor drei Tagen einig, dass sie nicht versuchen wollen würden, die Welt zu verbessern oder die Menschheit zu retten. Die Gefahr, dabei mehr kaputt zu machen als zu reparieren, war einfach zu groß. Als sie aber mit dem Schicksal eines dreijährigen Jungen konfrontiert wurden, da hatte das Problem etwas Persönliches bekommen. Ein Gesicht sozusagen!

Und so funktioniert die Psyche des Menschen nun mal. Eine anonyme Masse an Menschen kann man wohl eher opfern oder abschreiben, als eine einzelne Person, deren Schicksal man kennt. Marit hatten sie persönlich getroffen, Professor Magnussens Forschung hatte sie ausgiebig beschäftigt, und sein Hologramm war so realistisch, als hätte er sich persönlich an sie gewandt.

Und dann noch diese Geschichte von dem abtrünnigen Zeitreisenden oder wie man den Täter auch immer bezeichnen wollte, der ein Kind aus der Zeitlinie entfernt, weil es angeblich sechzehn Jahre später einen Terrorakt verüben würde?

Sicher bliebe Mord immer noch Mord, aber ob man nun einen Dreijährigen oder einen Neunzehnjährigen tötete, war schon ein gewaltiger Unterschied, zumal dieser Spät-Teenager dann kurz vor seinem Terrorakt gestanden hätte. Oder stehen würde? Mal kurz überlegen!

Brugger rechnete und kam zu dem Ergebnis, dass die vereitelte Zerstörung von Oslo wohl in etwa zwei Jahren „hätte stattgefunden werden haben müssen“. Oder so ähnlich!

2015 also, falls er richtig gerechnet hatte. Falls sie den Jungen retten würden, wäre es dann um Oslo geschehen? Oder müssten sie ihn gar erst retten und dann vom Attentat abhalten? Erst einem Kind das Leben retten und es dann sechzehn Jahre später selber töten? Oh Gott! Viel zu viele Fragen, auf die es einstweilen keine Antworten geben konnte.

Eines war für Brugger aber klar und das in jeder Zeitform: Nachdem Erik der Verlockung der Zukunft und seinem neuen Spielzeug wohl verfallen war, gab es nur noch eine mögliche Stimme der Vernunft, und die war seine eigene!

Vor drei Tagen hätte er allerdings noch gesagt, dass er dem jüngeren Partner intellektuell jederzeit gewachsen war. Nun hatte Erik allerdings dieses Gerät, das ihn zwar nicht unbedingt intelligenter machte, ihm dafür aber Sachverhalte verraten konnte, über die sich die heutige Wissenschaft sicher noch nicht mal Gedanken gemacht hatte.

Es wäre wohl aber nun klüger, bei strittigen Punkten nicht unbedingt auf Konfrontationskurs zu gehen. Angst hatte er keine, aber Brugger hatte das Gefühl, dass Erik sich von seinem Neuro beeinflussen lassen könnte. Das würde zwar eine gewisse Art von eigenem Willen bei dem Gerät voraussetzen, aber warum sollte ihn so etwas noch verwundern?

Diesem Neuro vertraute Brugger auf keinen Fall. Ebenso wenig vertraute er diesem Novalik Staam, von dem das Neuro geschickt worden war.

„Einmal ganz kräftig lächeln, bitte! Schön extrem grinsen!“ Die Anweisungen von Masken-Mike rissen Brugger aus seinen Gedanken. Solche Unterbrechungen mochte er gar nicht. Insofern war das extreme Grinsen dann auch eher ein Zähne-Fletschen, aber Mike war dennoch zufriedengestellt.

Im Bereich seiner „Grübchen“ bekam er vier leichte Stiche gesetzt, die zumindest dazu beitrugen, das bedrohliche Fletschen der Zähne aufrecht zu erhalten. Mike erklärte nebenher, dass dies die Kontaktpunkte seien, an denen er später mit der Elektro-Stimulation eingreifen würde. Ach! Was freute sich Brugger schon darauf, dass man ihm mit Elektroschocks das Gesicht verändern würde!

Sein Gesicht fühlte sich mittlerweile schon etwas gestrafft an. Aus den Augenwinkeln konnte er aber deutlich tiefere Falten an Stirn und Schläfen erkennen. Er war zwar nur knapp drei Jahre jünger als Magnussen, aber das Leben hatte den Norweger wohl stärker gezeichnet als ihn. Und sie wussten seit zwei Tagen auch, was ihn so mitgenommen hatte.

Brugger durfte dann sein Gesicht aktiv entspannen. Er sollte die Kiefer in alle Richtungen bewegen und dann den Kopf einfach mal schütteln, so dass die Backen schlackerten. Dem kam er gerne nach. Anschließend wurde ihm mitgeteilt, dass nun der Feinschliff käme. Er sollte sich, sobald die Maske saß, möglichst normal benehmen und nicht daran denken, dass sein Gesicht teilweise mit einer Maske bedeckt war.

Denken Sie an ein Tier, aber nicht an einen rosaroten Elefanten! Das funktionierte ja immer!

Er sollte sich nicht ins Gesicht fassen. Die Maske würde einiges aushalten, aber sie musste nach dem Job auch wieder abgezogen werden können. Brugger würde sich im Auto auf seine Hände setzen und Erik fahren lassen. Er sollte möglichst auch keine Grimassen schneiden.

„Ich schneide keine Grimassen!“, erwiderte er kurz angebunden. Er sah Eriks Grinsen aus den Augenwinkeln, sparte sich aber einen Kommentar. Dann sollte er wieder stillhalten, was er auch gerne machte, weil er sich nun endlich wieder seinen Gedankengängen verschreiben konnte.

Für Erik schienen zwei Sachverhalte unverrückbar, obwohl es dafür keinerlei Beweise gab. Erstens: Novalik Staam war der Mann, der alles in Ordnung bringen könnte und auch würde. Zweitens: Hermann Stolz war einer der Zeitreisenden, die die Welt retten wollten.

Dass eine Zeitreise eine automatische Rückreisefunktion besaß, sobald die maximale Aufenthaltszeit erreicht war, hatte diesen zweiten Punkt arg ins Wanken gebracht. Zumal nach näherem Befragen des Neuro die längste mögliche maximale Aufenthaltszeit mit etwa sechsunddreißig Stunden angegeben wurde.

Dies wäre etwas knapp bemessen, um sich kennen und lieben zu lernen, zu heiraten und einen Sohn zu zeugen. Allerdings war es möglich, dass sein Vater mehr als nur eine Zeitreise durchgeführt hatte und auch die Heiratsurkunde so falsch war, wie das Zeugnis als Sanitäter.

Das wiederum würde das Verschwinden seines Vaters und die merkwürdige Schweigsamkeit seiner Mutter zu dem Thema erklären. Aber schwach blieb die Argumentationskette trotzdem.

Brugger behielt weiter für sich, dass er jemanden auf Nachforschungen zu Dr. Hermann Stolz angesetzt hatte. Eriks Datensuche hatte nichts zu diesem Namen ergeben. In den Fünfzigern wurde eben noch alles sauber auf Papier in Aktenordnern geführt. Da konnte man nicht einfach mal übers Internet Namen abrufen, es sei denn, jemand hätte sich die Arbeit gemacht und alle Daten der Uniklinik Dresden nachträglich auf irgendwelchen Servern gespeichert.

Brugger hatte die Vermutung, dass man noch am ehesten in den Stasi-Akten etwas zu Dr. Stolz finden könnte, falls sein Kumpel Bernd nicht fündig werden sollte. Im Falle eines längeren Aufenthalts in der DDR, wäre so ein Verschwinden eines Arztes im Jahr 1957 sicher mit dem Vermerk „Republikflucht“ irgendwo vermerkt worden.

Aber das wollte er auch einstweilen nicht mit Erik diskutieren. Er hatte sich vorgenommen, bei den Diskussionen behutsam vorzugehen und nicht gleich die Konfrontation zu suchen. Wie lange er sich allerdings bei den vielen Ungereimtheiten und der fast schon verklärten Sichtweise von Erik würde zurückhalten können, das stand in den Sternen.

Vielleicht würde der Inhalt des Schließfachs neue Einsichten ergeben. Das Neuro war offensichtlich so eingestellt, dass es nicht zu viel verraten durfte. Es lässt sich natürlich mit der Sicherheit des Zeitgefüges argumentieren, aber warum das Gerät keine Angaben zu Personen machen durfte, war Brugger schleierhaft.

Allerdings war die Verweigerung des Neuros, Auskünfte über Hermann Stolz zu machen, für ihn das bester Argument, dass Erik doch recht haben könnte und Daddy wirklich aus der Zukunft gekommen war. Warum sollte das Gerät die Aussage verweigern, wenn Dr. Stolz einfach nur ein Arzt in Dresden gewesen wäre?

„Au!“ Ein kurzer, intensiver Schmerz hatte ihn durchfahren. Seine Augen tränten und er spürte seine Mundwinkel zucken.

„Das war es! Das kribbelt jetzt nur noch eine Weile“, sagte Mike, der nun kontrollierend über alle Teile seiner Maske strich und dann mit einem Kosmetikpinsel für eine gleichmäßige Hautfarbe sorgte. Brugger war am Ende seiner Geduld. Der unangekündigte Elektrostoß hatte ihm den Rest gegeben.

Dann stand Mike plötzlich auf und gab ihm die Sicht auf den Spiegel frei. Und zum zweiten Mal innerhalb von sieben Tagen erblickte Brugger dort das Gesicht von Thorwald Magnussen anstelle seines eigenen. Nur dieses Mal verwandelte es sich nicht zurück. Fast hätte er sich ins Gesicht gegriffen, um zu testen, ob das echt sei, aber er erinnerte sich an die Mahnung, genau das nicht zu tun, also schob er seine Hände schnell auf dem Stuhl unter die Oberschenkel.

Und während Mike ihm etwas erzählte von circa acht Stunden Wirkung der Elektro-Stimulation und dass es danach nicht sofort verschwand sondern langsam und dass er die Latex-Schichten jederzeit abmachen konnte, sobald er die Maske nicht mehr brauchte, da konnte Brugger nur an eines denken: „Wie würde Marit reagieren, wenn sie mich so sehen könnte?“

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