Читать книгу CYTO-X - Christian Schuetz - Страница 35
25 - Glaubensfrage
ОглавлениеErik hatte keine Erfahrung mit den angemessenen Mengen für ein geselliges Frühstück für drei Personen. Selten hatte es in Bruggers Appartement ein derart üppiges Frühstücksbuffet gegeben. Backfrische, gemischte Brötchen, Wurst, Schinken und Käse, dazu verschiedene Aufstriche, so dass es eher für sieben oder acht Personen gereicht hätte.
Er hatte auch nicht vorher überprüft, ob Brugger noch etwas zu Hause hatte. Sein Einkauf war sehr spontan. Obwohl er erst nach ein Uhr einschlafen konnte, hielt er es bereits kurz nach fünf nicht mehr auf seiner Schlafcouch aus und da er die anderen beiden weiterschlafen lassen wollte, hatte er sich Emmas Türschlüssel geborgt und war durch die Gegend gewandert. Als er dann an einer Metzgerei vorbeigekommen war, die gerade öffnete, entschied er sich den beiden ein tolles Frühstück zu machen.
Erik musste sich Vieles durch den Kopf gehen lassen. Dank des Neuros kannte er die Prozedur für den bevorstehenden Sprung mittlerweile auswendig. Alle vier Stunden würde sich ein Zeitfenster für die Reise öffnen. Sobald er das Cyto-X in sich und die Feldreifen angelegt und aktiviert hatte, würde die Reise automatisch ablaufen. Er sollte sich dann an einem sicheren Ort für die Rückreise befinden. So einen Ort kannte Brugger angeblich, aber man wollte so spät in der Nacht nicht mehr diskutieren.
Die einzige, die sich daran nicht hatte halten wollte, war Emma. Sie war fast ausgeflippt, als er ihr gesagt hatte, er glaube, Staam würde ihn anlügen. Sie hatte sich mühsam dazu durchgerungen, dem Mann zu vertrauen und dann machte gerade Erik die Kehrtwendung. Er hätte es ihr schonender sagen können, das wusste er, aber sie hatte ihn gerade in seinen tiefsten Gedanken gestört und da war es einfach aus ihm herausgeplatzt.
Wirklich erklären hätte er ihr seine Logik sowieso nicht können und so war er dankbar, dass Brugger immer wieder auf die Einhaltung der Absprache bestanden hatte, dass man erst in Ruhe über alles schlafen wollte. Emma hätte ihn also gar nicht fragen dürfen! Ihr Fehler also, dass er sie mit diesem Schock ins Bett geschickt hatte. Er musste sich jetzt nur gut überlegen, wie er ihr, und natürlich auch Brugger, seine Einsicht plausibel machen konnte.
Im Appartement schliefen noch alle. Erik öffnete seinen guten alten Laptop, um routinemäßig zu prüfen, ob es Neues aus der Welt der Geheimdienste gab oder ob sich einer seiner Kollegen bei ihm gemeldet hatte. Alles war ruhig an der Front. Er schämte sich etwas, dass er sein eigentlich tolles Spielzeug so schnell durch ein neues noch tolleres ersetzt hatte.
Bis vor zwei Tagen hatte er seinen Rechner mindestens dreimal pro Tag angeschaltet, meist für ausführliche Arbeit und Recherche. Er verfolgte derzeit sechs verschiedene wissenschaftliche Studien, um zu sehen wer, wann und wo einen Fortschritt erzielte. Mit Bruggers Studie waren es sogar sieben, nur hatte er für diese Projekte derzeit einfach keine Muße.
Als er seinen Laptop herunterfahren ließ, kam langsam Leben in die Bude. Emma war aufgewacht, konnte es sich aber noch verkneifen, Erik weiter zu befragen. Sie verschwand im Bad, und Erik begann nun damit, den Tisch zu decken. Die Geräusche weckten auch Brugger und er maulte etwas Unverständliches in den Raum, aber Emma trieb ihn dann wenig später auch ins Bad, so dass sie bald darauf am Tisch saßen und kräftig zulangten.
Außer Freundlichkeiten und Floskeln wurde nichts gesprochen, und Erik merkte, dass die beiden darauf warteten, dass er die Diskussion anstoßen würde. Zwischen den Bissen folgten immer wieder seitliche Blicke zu ihm und er wusste, er würde irgendwann den Anfang machen müssen. Vielleicht wäre es besser, das Pferd von hinten aufzuzäumen? Er entschied sich, wer als erster mit Essen fertig war, würde von ihm den „Schwarzen Peter“ zugeschoben bekommen.
Brugger war ein schneller Esser, und Erik war schon kurz davor, ihm den Ball zuzuspielen, aber der Professor griff dann doch noch beherzt nach seinem nun dritten Vollkornbrötchen und so erwischte es Emma. „Emma, was hat dich an Staam eigentlich überzeugt?“
Sie war gerade dabei ihren letzten Schluck Kaffee zu genießen und nahm die Frage gar nicht gut auf. „Hör mal! Ich fand den Typen von Anfang an unsympathisch und wenig vertrauenswürdig! Stimmt's nicht, Paps?“
Sie zwang ihren Vater zu einem zustimmenden Nicken mit vollem Mund, bevor sie weitersprach: „Aber dann kamst du mit deiner Show und hast am Ende auch noch meine Lieblingsbrücke kaputt gemacht! Ich dachte, wenn du das so zeigst, dann stimmt das auch. Was sollte ich denn anderes machen, als ihm und dir zu glauben?“
„Das mit San Francisco und den Folgen, das stimmt ja wohl auch alles. Darum geht es mir gar nicht.“ Erik sah, wie Emmas Mund offen stehen blieb, so als sammle sie sich gerade für eine neue Standpauke, und bei Brugger ging eine interessierte Augenbraue hoch, während er genüsslich weiter aß.
„Emma, ich hätte euch die Bilder sicher nicht gezeigt, wenn sie unecht gewesen wären. Also zumindest glaube und fühle ich, dass das alles die Wahrheit war.“
Erik erkannte den misstrauischen Blick von Brugger sofort. Glaube und Gefühle hatten für ihn in der Wissenschaft nichts zu suchen. Einem Instinkt oder einer Ahnung zu folgen war nach Bruggers Grundsätzen nicht falsch, sofern man diese dann immer einer strengen Prüfung unterzog.
Folglich musste Erik nun genau darauf achten, wie er in seiner Argumentation fortfuhr. Er beugte sich leicht über den Tisch und starrte etwas geistesabwesend auf die Reste von Wurst und Schinken, so als wolle er ein wenig ihren Blicken ausweichen. Er wusste aber selbst nicht richtig, wie er erklären sollte, was er gestern erlebt hatte.
„Immer wenn Staam von meinem Vater gesprochen hat, gab es so kleine Ruckler, ein kurzes Anhalten des Programms, bevor es weiterging. Phasen, in denen die Aufzeichnung angeblich modifiziert wurde, je nach dem Stand, den ich schon kannte.“
Er hatte es langsam und bedächtig formuliert und blickte die beiden nun wieder an. „Diese kleinen Hänger, die habt ihr doch auch bemerkt, oder?“
Fast flehend wurde sein Blick dabei und zum Glück nickten die beiden wenigstens vage. Brugger erbarmte sich und teilte ihnen seine Einschätzung mit: „Also das Hologramm war so perfekt, dass man schon genau aufpassen musste. Wenn ich mir heute eine Blu-Ray anschaue oder einen Film auf dem Laptop, dann hab' ich da auch immer mal kleine Hänger. Die sind aber deutlich länger als das, was man bei Staam beobachten konnte. Außerdem hatte er erklärt, wie es zu dem Ruckeln kommen würde, insofern hat mich das einfach nicht gestört und auch nicht beunruhigt.“
Emma nickte und schloss sich den Ausführungen ihres Vaters vollkommen an, und Erik konnte das auch nachvollziehen. Nur hatte er eine unterschiedliche Auffassung davon, was diese Hänger wirklich verursachte.
„Für das Ruckeln, war eigentlich eher ICH verantwortlich.“ Er wollte jetzt nicht dauernd mysteriös klingen, aber er wusste nicht, wie er es anders hätte machen können. Zumindest hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.
„Also, die Ruckler passierten immer dann, wenn Staam von meinem Vater erzählt hat. Und jeder kleine Hänger wurde durch mich verursacht, wenn ich Zweifel an der Darstellung der Sachverhalte hatte. Fragt mich nicht, woher die Zweifel kamen. Es war fast so, als ob eine kleine Stimme in meinem Kopf Zwischenrufe einstreute. Gelogen! Stimmt nicht! So was in der Art. Und genau in den Momenten, wo mein Unterbewusstsein rebellierte, da gab es diese minimalen Hänger.“
Am Tisch schwiegen alle eine Weile, dann räusperte sich Brugger, der offensichtlich immer noch nicht sicher war, ob Erik nun von Glauben oder Intuition sprach, und fragte ihn: „Wobei hat er denn deiner Meinung nach gelogen? Und kannst du sagen, was wirklich passiert war oder nur, dass das, was Staam gesagt hat, falsch war?“
Erik verzog bitter die Mundwinkel. „Ich gebe dir zuerst auf die zweite Frage eine Antwort. Die korrekte Version kenne ich nicht! Zunächst mal war seine Bewunderung für meinen Vater gespielt. Es war eher so, als seien sie Gegner, was jetzt nicht so gravierend war für mich, weil sie auch einfach nur unterschiedlicher Ansichten gewesen sein könnten. Also auf wissenschaftlicher Basis oder so.“
Erik kannte die heißen Diskussionen theoretischer Physiker. Der eine mochte sein Universum „stringy“, der andere „loopy“. Da gab es erbitterte Schlachten, aber eben nur auf intellektuellem Level. Durchaus möglich, dass Staam und Stolz in unterschiedlichen Lagern der Forschung beheimatet waren. Da musste nicht gleich Blut fließen.
Erik fuhr dann mit den einzelnen Punkten fort: „Dass der Rat der Wissenschaften seine Reise abgelehnt hätte, ist schlichtweg falsch, aber ich kann nicht sagen, was da jetzt gelogen war. Hat er überhaupt gefragt? Hat der Rat doch zugestimmt? Oder war die Reise so überhaupt geplant? Der Punkt beunruhigt mich echt am meisten, weil er zu viele Fragen aufwirft.
Die Fünfziger als Reiseziel stimmen wohl, aber da bin ich etwas vorbelastet, von meinen eigenen Entdeckungen. Auch dass er die blutige Eskalation des Volksaufstands in der DDR verhindert haben soll, stimmt irgendwie nicht. Ich meine, da gab es Tote, zwischen fünfundfünfzig und fünfundsiebzig je nach Quelle, das ist schwer zu sagen, aber nach Staams Darstellung war das eher ein Krieg!“
Emma schüttelte sich. „Von einem Krieg hat er nichts gesagt, nur von einer blutigen Eskalation war die Rede. Was meinst du mit Krieg?“
Auch Brugger blickte verwundert. Er selbst war noch zu jung, um das damals mitbekommen zu haben, aber er kannte sicher den „Tag der Deutschen Einheit“ noch am 17. Juni anstelle des 3. Oktobers und in den Geschichtsbüchern wurde die unterschiedliche Anzahl an Opfern auch bestätigt.
„Ich kann aus dem Neuro mittlerweile etwas mehr herauskitzeln, aber eben auch nicht alles. Das Ding hat die verschiedenen Abläufe von parallelen Realitäten abrufbereit. Also vor dem Eingriff in die Zeitlinie und nachher. Was ich da serviert bekomme, was mein Vater angeblich verhindert haben soll, ist ein Aufstand schwer bewaffneter Bürger. Und es soll darin geendet haben, dass die Sowjetunion Ostdeutschland für verloren erklärte und die Städte Leipzig, Dresden und Magdeburg mit Atomwaffen zerstört haben soll.“
Brugger machte dicke Backen. Emma blickte ihn verständnislos an. Das artete in einer ziemlichen Zerstörungsorgie aus, was er ihnen da präsentierte. „Ruhig, ruhig. Das ist eine Realität, die bereits verhindert wurde! So, wie es aussieht, haben diese Zeitreisen wirklich etwas gebracht, auch wenn ich noch nicht alle möglichen Realitäten aus dem Gerät abrufen kann. Vielleicht haben sie genauso viel vermurkst, erlauben dem Neuro nur nicht, mir das zu verraten.“
Brugger schüttelte sich. Dass ihm das Durchdenken verschiedener Realitäten widerstrebte, war ihm ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte nun trotzdem einen Fehler in Eriks Ausführungen erkannt. „Erik, du zweifelst, dass dein Vater die Eskalation verhindert hat, aber ich für meinen Teil fände drei Atombomben schon ein wenig eskaliert. Und da wir alle drei wissen, dass diese drei Bomben nie abgeworfen wurden, dann würde ich sagen, hat dein Vater Erfolg gehabt, so wie Staam es beschrieben hat!“
Erik sah ihn eine Weile an und nickte. „Du hast völlig Recht, Brugger! Ich sagte ja, dass ich auch nicht alles verstehe, und gerade hier hakt es echt aus bei mir. Ich glaube nur, nein, ich spüre ganz deutlich, dass mein Vater nicht gereist ist, um den Ablauf des Volksaufstands zu verändern. Erschieß mich ruhig, aber da stimmt einfach was nicht an Staams Ausführungen!“
Erik und Brugger diskutierten noch recht ergebnislos, um das Problem mit dem 17. Juni herum. Emma hatte sich ausgeklinkt. Sie ließ sich noch einen schönen, starken Kaffee aus dem Automaten eingießen und hörte den beiden dann zu, wie sich ihre Diskussion weiter im Kreis drehte.
Schließlich wartete sie bis eine kleine Lücke im Redeschwall entstand und fragte: „Also ist die Blutwäsche abgesagt? Habe ich das richtig verstanden?“
Die beiden drehten den Kopf ruckartig zu ihr und riefen synchron und fast empört: „Nein!“
Emma grunzte leicht abfällig, setzte sich wieder und schnitt sich noch ein Brötchen auf. Ihre Frage, ob sie das heute noch machen wollten, bejahten wiederum beide und sie beschloss recht zügig zum Haus ihrer Mutter zu fahren, weil das Dialysegerät noch gewartet werden musste.
Allerdings musste sie sich dann doch noch dringend Luft machen: „Erik, du bist dir sicher, dass der Kerl dich anlügt. Wie kannst du dann diese Zeitreise ernsthaft durchführen?“
„Weil ich trotz allem sicher bin, dass diese Katastrophen eintreten werden, wenn ich nicht reise und vor allem, dass Staam sich nicht damit abfinden würde, wenn ich nicht zu ihm käme.“
„Mein Gott, wenn du nicht nach der Ermordung von Leif Magnussen zufällig auf den Sensoren aufgetaucht wärst, wüsste er gar nicht, dass es dich gibt. Ich glaube, du redest dir da was ein.“
Erik senkte unheilvoll die Stimme. „Das war noch der letzte Punkt, den ich aufführen wollte.“
Brugger schreckte hoch und schlug sich vor die Stirn. „Oh, mein Gott! Dauernd habe ich mir diese Fragen gestellt! Warum wurde Leif sechzehn Jahre vor dem Terrorakt getötet und nicht kurz davor? Diese ganze Aktion! Du denkst Staam hat den Jungen getötet, um dich aufzuspüren?“
Erik nickte.