Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 22
Оглавление18 FLUCHT
Diego saß auf dem schwach erleuchteten Parkplatz in seinem Wagen und hatte den Kopf auf das Lenkrad gelegt.
Die alte Gier war wieder da. Sie war nicht tot. Sie hatte nur in einem finsteren Winkel seiner Seele geschlafen und war bei der ersten Gelegenheit wieder über ihn hergefallen. Die ersten, zaghaften Berührungen vor der Bühne am Strand hatten sie zwar noch nicht wieder völlig aufgeweckt, aber jetzt, nach diesem leidenschaftlichen Kuss in der Disco, war sie hellwach, hatte die dünnen Stäbe ihres lächerlich schwachen Käfigs durchbrochen, und stand höhnisch grinsend vor ihm.
Als die Misswahl näher gerückt war, hatte Diego seinen Platz auf der Empore verlassen und war zur Bühne gegangen, so dass Lana ihn sehen konnte, wenn sie auftrat. Zuerst hatte ihn aber ein Tanzmädchen aus dem Vorprogramm bemerkt. Diego hatte gespürt, dass sie Blickkontakt zu ihm aufnahm und versuchte ihm besonders zu gefallen. Geübt darin, solche Situationen zu entschärfen, hatte Diego ihr bedauernd zugelächelt und kurz hinter sich in den Saal gedeutet. Da war zwar niemand gewesen, den er näher kannte, aber das Mädchen hatte glauben müssen, dass seine Freundin da irgendwo herumlief. Sie hatte auch eine bedauernde Geste gemacht und sich wieder dem Tanz mit ihren Kolleginnen gewidmet.
Schon bald war die Musik leiser geworden, die Tanzmädchen hatten ihre Vorstellung abgebrochen und Vincent war auf die Bühne gekommen. Er hatte sich ein drahtloses Mikrofon geschnappt und zu langweiliger Hintergrundmusik die Regeln der nun folgenden Veranstaltung erklärt, während hinter ihm aus den Höhen der Halle ein Banner herabschwebte, auf dem das Label einer bekannten Modemarke gleich dreimal groß zu sehen war.
Vincent ließ es sich nicht nehmen, in seinem Laden die Ansagen selbst zu machen. Er hielt sich für einen begnadeten Entertainer und wenn das Schicksal es besonders schlecht mit dem Publikum meinte, gab er sogar ab und zu eine kleine Gesangseinlage. Heute hatte er zum Glück etwas Besseres zu tun gehabt.
Die Leute im Saal waren von der Show voll begeistert gewesen, wenn Vincent auch bei jedem Act dieselben Sprüche gebracht hatte. Darauf kam es nicht an. Selbst in diesem schon leicht alkoholvernebelten Klima war die natürliche Ausstrahlung der Mädchen voll rübergekommen. Die Gruppe ernsthaft Angetrunkener, die zuerst noch herumgegrölt hatte, war von drei Türstehern darauf hingewiesen worden, dass sich so was nicht gehört. Da alle drei aussahen, wie erfahrene Kampfsportler, was sie auch waren, war dann schnell Ruhe gewesen.
Diego hatte dafür gesorgt, dass Lana bei jedem Auftritt ein wenig Extraapplaus bekam, aber das wäre eigentlich überhaupt nicht nötig gewesen. Ganz ohne Zweifel hätte sie den ersten Platz belegt, wenn da nicht die Nichte eines superreichen Medienzaren gewesen wäre. Darauf hatten Vincent und seine Jury natürlich Rücksicht nehmen müssen und so war sie es gewesen, die den ersten Platz bekommen hatte. So lief das nun mal: Lass meine Nichte gewinnen, und meine Zeitungen berichten nur Gutes über deine Disco. Lass sie verlieren, und du kannst deinen Laden zumachen. Die Kleine hatte von der bestimmt sehr subtilen Einflussnahme ihres Onkels sicher nichts gewusst, und sich über ihren ersten Platz gefreut, wie ein Kind, was sie ja fast auch noch war.
Lana war glücklich gewesen, mit ihrem zweiten Platz, und das war für Diego alles, was zählte. Ungeduldig hatte er darauf gewartet, dass Lana zu ihm kam, und als es dann so weit gewesen war, hatte er sie in seine Arme genommen und geküsst.
Immer wieder durchlebte Diego diesen winzigen Moment, der all seine Hoffnungen und all seine Befürchtungen in sich vereinigte. Da war die Reaktion seines Körpers gewesen: Eine Welle heißen Verlangens nach mehr, nach niemals endender Zärtlichkeit. Und Lana hatte ganz genauso empfunden, das hatte er genau gespürt. Es war ein gutes Gefühl gewesen. Lanas Vertrauen und ihr Verlangen waren auf ihn eingestürmt und hatten ihn völlig in Besitz genommen. Einen Moment lang hatte er glauben dürfen, dass nun alles gut werden würde und dass der Alptraum endlich vorbei war.
Es war wie ein schöner, lang gehegter Traum gewesen, der nun endlich in Erfüllung gehen konnte. Sie hatte sich ihm schenken wollen, mit ihrem Körper, ihrer Seele, ihrem Leben, und plötzlich war etwas von ihr zu ihm herübergeströmt, das er zu kennen glaubte. Voller Panik hatte er sie schnell zurückgeschoben.
Sie hatte es nicht verstanden. Wie auch? Niemand konnte das verstehen. Sie hatte nur seine plötzliche Unsicherheit bemerkt und schlagartig begriffen, dass er sich verändert hatte. Sie war traurig gewesen, aber er hatte ihr nicht helfen können, und er hatte die erste Gelegenheit genutzt, heimlich durch den Notausgang der VIP-Lounge zu verschwinden.
Das Leder des Lenkradkranzes fühlte sich kühl an auf Diegos Stirn. Nach diesem Abend würde Lana nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Diese Erkenntnis nagte und wühlte in ihm. Er hatte es verdorben. Diese Flucht und seine Feigheit waren unverzeihlich und der größte Gefallen, den er Lana und sich selbst tun konnte, war, sie nie wieder zu sehen.
Diego drehte den Zündschlüssel und mit dem typisch heiseren Motorgeräusch sprang der Porsche an. Er ließ den Wagen auf die Straße gleiten. Er musste zum Meer!
Als er Adrianos Wagen vor der Disco stehen sah, fuhr er für einen winzigen Moment langsamer und war versucht, in das Les Sables zurückzukehren. Da er Adrianos Vorlieben kannte, fuhr er dann aber doch weiter. Lana war absolut nicht der Typ, den sein Cousin bevorzugte. Sie war nicht in Gefahr.