Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 35

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31 Ärger

Ich laufe durch die heißen, leeren Gassen von Mons, ohne auf den Weg zu achten. Schließlich komme ich auf einen kleinen, gepflasterten Platz. Die helle Fläche liegt gleißend in der Mittagssonne. Im Schatten einer großen Platane plätschert ein Brunnen. Ich knie mich auf die umlaufende Holzbank und halte die Hände unter das wasserspeiende, steinerne Löwenmaul. Das eiskalte Wasser kühlt mein erhitztes, verweintes Gesicht. Ich kühle auch meine Handgelenke und lasse mich schließlich erschöpft auf die Bank sinken. Der leichte Wind, der hier oben weht, trocknet angenehm fächelnd mein nasses Gesicht.

Ein alter Mann kommt quer über den Platz. Er zieht einen kleinen Holzkarren hinter sich her. Polternd schlagen die Hartgummireifen des Wägelchens über das unebene Pflaster. Unsicher schaut er mich an und hebt schließlich grüßend die Hand.

- Aha, man ist also höflich hier in Mons. Ich nicke ihm zu. Der alte Mann verschwindet in einer der Gassen. Lange noch höre ich das Poltern seines Karrens. Es wird wieder still. Nur der Wind rauscht in der Platane und streicht leise durch die angrenzenden Gassen. Alles wirkt so verlassen. Ich komme mir so einsam vor.

Ein paar Spatzen tschilpen und hüpfen auf dem Brunnenrand herum. Sie picken die Wassertropfen auf und schütteln sich mit aufgeplusterten Federn. Schließlich fliegen sie lärmend davon.

Warum? Warum nur muss ich mich ausgerechnet in jemanden verlieben, der so anders ist, als alle anderen Menschen auf der ganzen Welt? Konnte Diego nicht einfach ein netter Student sein? ‚Dann würdest du jetzt nicht mehr leben’, fällt es mir sofort ein. Überdeutlich steht mir die Szene mit dem Lastwagen, der auf uns zurast, vor Augen. Kein normaler Mensch hätte so reagiert wie Diego.

Darksider, die dunkle Seite der Schöpfung. Was soll das sein? Weiche, Darksider! Die Leute in den Bergen haben in Diego so etwas wie einen Dämon gesehen. Warum? Nichts als immer neue, unlösbare Fragen.

Ganz still ist es auf dem kleinen Platz. Die Hitze des frühen Nachmittags steht fast greifbar in den schmalen Gassen. In den Häusern halten die Bewohner wohl Mittagsschlaf. Ihre Holzmarkisen sind gegen die heiße Mittagssonne fast ganz heruntergefahren. Nur ein Spalt steht hier und da noch offen, um etwas Luft in die Räume zu lassen.

Eine schwarze Katze mit ungewöhnlich strahlend grünen Augen schleicht sich vorsichtig heran und beobachtet mich argwöhnisch. Automatisch bewege ich meine Finger und versuche, sie zu locken. Aber sie hat Besseres zu tun. Sie hüpft möglichst weit entfernt von mir auf den Rand des Brunnens und fängt an, genüsslich etwas Wasser zu schlabbern. Dabei wirft sie mir immer wieder misstrauische Blicke zu.

Ich spüre eine hornige Faser zwischen meinen Zähnen und ertappe mich dabei, dass ich etwas tue, was ich schon seit Ewigkeiten hinter mir gelassen habe: Ich kaue an meinen Fingernägeln. Schnell stecke ich die Hände unter meine Oberschenkel. So sitze ich und schaukele leicht vor mich hin.

Was soll ich nur tun? Wie kann ich denn jemanden lieben, der zu den Leuten gehört, die meine Freundin umgebracht haben? - Oder zumindest fast umgebracht. Und dann diese ständige Geheimniskrämerei, diese Lügen. Diego hat bestimmt ganz genau gewusst, wo Felix gefunden worden ist, sonst wäre er nicht so zielstrebig zu dieser Ziegenweide gefahren. Und er hat auch gewusst, dass die Leute dort nicht gut auf ihn zu sprechen sind. Aber dann hat er mich ja ganz bewusst in Gefahr gebracht, ohne mich vorher zu warnen. Die Wut kocht wieder in mir hoch, denn ich komme langsam zu dem Schluss, dass Diego mich die ganze Zeit nur getäuscht hat.

Mein Handy klingelt. „Wo bist du? Der Leihwagen ist da. Wir können zurückfahren“, höre ich Diegos vertraute Stimme und schon wieder steigen mir die Tränen in die Augen.

„Keine Ahnung“, antworte ich und unterdrücke meinen ersten Impuls, das Gespräch einfach wegzudrücken. Das wäre ja auch albern, denn schließlich muss ich aus diesem verdammten Kaff irgendwie wieder rauskommen. „Auf irgendeinem kleinen Platz mit einem Baum und einem Brunnen. Ziemlich weit unten in der Stadt“, antworte ich lahm.

„Findest du den Weg zurück, oder soll ich zu dir kommen?“ Diegos Stimme klingt besorgt.

„Ach, so was kannst du also auch? Beute aufspüren?“

„Lana!“ Ich höre Diego seufzen. „Ich bin gleich da. Bleib bitte wo du bist!“ Diego hat das Gespräch beendet, und ich lausche fassungslos der Stille im Handy.

Was war das jetzt? Kann er so was wirklich? Ich wollte eigentlich nur einen blöden Spaß machen, und ihn damit ein wenig verletzen. In einem ersten Impuls würde ich mein Handy am liebsten mit Schwung in den Brunnen klatschen, überlege es mir im letzten Moment aber doch anders. Das Ding war verdammt teuer.

Die Katze erschrickt bei meiner heftigen Bewegung, springt vom Brunnenrand und rennt davon. Ich sitze da und starre mit leeren Augen hinter ihr her. In was für ein Wesen habe ich mich verliebt? Das kann doch alles nicht wahr sein.

Gepolter ertönt in einer Nebengasse und wird lauter. Der alte Mann mit dem Holzwagen taucht wieder auf und geht mit gesenktem Blick vorbei. Ich schaue auf die Uhr: Es sind fast zwei Stunden vergangen, seit ich mich von Diego getrennt habe.

Ein Schatten fällt vor mir auf das Pflaster. „Da bist du ja.“

Langsam hebe ich den Kopf und sehe einen besorgten, schuldbewussten Diego vor mir stehen. „Komm, Lana, wir fahren. Das Auto steht an der Querstraße.“ Diego will den Arm um mich legen, als ich aufstehe, aber ich weiche ihm aus. Er geht einen halben Schritt zurück. Ich sehe, wie er den Mund öffnet, aber er sagt nichts. Ist auch besser so. Schweigend gehen wir nebeneinander her durch die engen Gassen. Ich bemühe mich, ihn nicht versehentlich zu berühren. Es ist schrecklich, neben einem Menschen zu gehen, der plötzlich so fremd geworden ist.

Auch die Heimfahrt verläuft anfangs schweigend. Ich weiß nicht, was ich tun, was ich sagen soll. Ich weiß gar nichts mehr. Ich sitze da und starre geradeaus und fühle mich so leer und ausgepumpt, als hätte auch ich schon einen Teil meiner Lebenskraft verloren. Misstrauisch schaue ich zu ihm hinüber.

Diego scheint meinen Blick zu spüren und schaut mich an. „Lana, glaube mir, ich liebe dich! Ich würde dir nie etwas tun!“

Ach, Gedanken lesen kann er auch noch. „Ja toll, mir vielleicht nicht, aber anderen schon!“

„Nein!“ Gequält schüttelt er den Kopf. „Anderen auch nicht, ich bin nicht so, wie meine Leute. Ich will das nicht.“

„Außer es kommt mal wieder über dich.“ Ich weiß, dass das blöd und ungerecht ist, aber selbst, wenn ich ihn ausreden ließe, würde er ja doch wieder nur ein winziges Körnchen Wahrheit preisgeben und mich mit dem Rest der Fragen allein lassen. Ich will ihn einfach verletzen.

Auf Diegos Stirn erscheint eine steile Falte. Er seufzt resignierend auf. Schweigend fahren wir weiter.

Bald schon haben wir die Straße nach Port Grimaud erreicht. Ich würde am liebsten aussteigen und zu Fuß weiter gehen, denn dieser Stoßstangenverkehr auf der Hauptstraße dauert mir viel zu lange. Ich will einfach nur weg von Diego, allein sein und nachdenken. Endlich fahren wir in die Einfahrt von unserem Campingplatz und ich öffne die Tür schon, bevor der Wagen richtig zum Stehen kommt.

„Warte Lana, gib mir das Stück von dem Rücklicht, vielleicht kann ich ja was rauskriegen!“

„Oder vertuschen!“ murmele ich giftig, während ich das Bruchstück aus meiner Hosentasche pule.

„Was?“

Wortlos lege ich den Splitter auf das Armaturenbrett.

„Sehen wir uns bald wieder?“ Diego flüstert diese Frage fast.

Ich kann ihn nicht ansehen, so aufgewühlt und enttäuscht bin ich. „Weiß nicht“, murmele ich, „tschüß!“ Schnell springe ich aus dem Wagen und renne fast zu unserem Stellplatz. Hinter mir höre ich, wie der Motor des Leihwagens anspringt.

Ich verlangsame meine Schritte und bleibe schließlich stehen. Vorsichtig drehe ich mich um. Der Wagen ist nicht mehr zu sehen. Zweifel steigen in mir auf. Ich hab mich richtig kindisch verhalten, ich hätte ihm vielleicht doch eine Chance geben sollen, alles zu erzählen. Stattdessen habe ich ihn nie wirklich ausreden lassen und ihn nur angegiftet. Ich starre die leere Ausfahrt des Neptune an. Zu spät Lana, vielleicht ist es auch besser so.

Etwas verkrampft sich in meiner Brust, und ich seufze schwer auf, als ich langsam weitergehe. Ich will nur noch eins, mich in mein Zelt verkriechen und schlafen, alles vergessen. Aber leider kommt alles ganz anders.

Meine Eltern erwarten mich mit ernsten Gesichtern, als ich zu unserem Stellplatz komme. - Na klasse, was ist jetzt wieder?

„Pascal war hier und hat uns Fotos gezeigt“, verkündet mein Vater. - Was für ein toller Empfang.

„Ach ja? Wie schön“, ist alles was ich darauf erwidern kann. „Könnt ihr mir gleich erzählen, ich muss erstmal mit den Daggets sprechen.“ Planänderung, nicht schlafen, nur weg hier. Das mit den Daggets ist zwar nur eine Ausrede, aber mir wird mit einem Mal klar, dass ich sie doch darüber informieren müsste, was ihrer Tochter passiert ist. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das anfangen soll, drehe ich mich um und gehe weiter.

„Die Daggets sind weg“, ruft mein Vater hinter mir her.

„Was?“ Ich drehe mich um und gehe langsam zu meinen Eltern zurück. „Wieso weg?“

„Reno hat sie nach Draguignan gerufen. Er glaubt, dass er Felix gefunden hat.“

„Oh, Mist!“

„Was sagst du?“ Mein Vater schaut mich völlig verständnislos an. „Deine Freundin ist wieder da! Ich habe gedacht, dass dich das freut.“

„Tu... tut es ja auch“, lüge ich schnell. „Aber Draguignan, das ist so weit weg. Ich meine, na, das ist doch gefährlich. Wie ist sie da bloß allein hin gekommen?“

„Tja, das wissen wir auch nicht.“

Papa scheint meine Ausrede nicht gewittert zu haben, aber mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass die Daggets jetzt vielleicht schon wissen, dass sie eine Greisin zur Tochter haben. Ich fühle mich, als würde ich ertrinken. Das war heute alles zu viel. Dieser ganze Mist schlägt über mir zusammen und ich kriege kaum noch Luft, aber es kommt noch schlimmer:

„Pascal hat uns Fotos gezeigt“, beginnt mein Vater von neuem. „Man sieht darauf, wie ihr euch küsst.“

„Pascal und ich?“, versuche ich ein Ablenkungsmanöver, „im Traum nicht!“

„Nein“, mein Vater runzelt die Stirn und verzieht gereizt den Mund. „Du und Diego!“ Er schaut mich aufmerksam an. Auch Maman beobachtet mich genau.

Ich hasse diese Art von Befragung und erwidere trotzig: „Dieser blöde Pascal! Was geht ihn das an, in wen ich mich ...“ Im letzten Moment kann ich mich noch bremsen. Stimmt ja auch sowieso nicht mehr. Aber trotzdem, das war so ein schönes, erregendes Gefühl heute Morgen, als sich unsere Lippen berührten. War das wirklich erst heute Morgen?

„Was?“ fragt meine Mutter lauernd.

„Ach nichts!“ Ich drehe mich weg, denn schon wieder muss ich mit den Tränen kämpfen.

„Dieser Diego fährt einen Porsche. Wieso kann er sich ein so teures Auto leisten? So langsam glaube ich doch, dass der Bursche nicht ganz sauber ist. Es wäre mir lieb, wenn du den Kontakt zu ihm ein wenig einschränken würdest“, meint Papa ernst.

„Keine Sorge, ich habe kein Interesse mehr an ihm!“

„Hat er dir was getan? Du bist so aufgeregt.“ Meine Mutter lässt mich nicht aus den Augen.

„Nein. Bitte! Lasst mich einfach nur in Ruhe.“

„Er hat dir doch was getan!“ Auch mein Vater schaut nun ganz besorgt und kommt einen Schritt auf mich zu.

„Nein, verdammt noch mal!“, schreie ich plötzlich los. „Ihr sollt mich endlich in Ruhe lassen, könnt ihr das nicht verstehen?“

Ich kann es selbst kaum glauben. Ich stehe hier mitten auf dem Campingplatz und brülle aus Leibeskräften meine Eltern an. Ein paar Gesichter aus der Nachbarschaft wenden sich uns zu. Die meisten schauen milde und nachsichtig, so, als wollten sie sagen: Wir haben es ja gewusst, jetzt ist die kleine Lana endgültig durchgeknallt. Hat halt schwache Nerven, das arme Würmchen. Kippt ja sogar in der Bar einfach so aus den Latschen.

Mein Vater schaut sich unsicher um und die Leute sehen schnell weg.

„Ich will jetzt schlafen!“, gebe ich bekannt und wende mich dem Zelt zu.

„Was für ein Scheiß-Urlaub! Nichts als Ärger. Hätten wir sie bloß mit ihren Freundinnen fahren lassen“, höre ich Papa sagen, als ich aus den Schuhen schlüpfe und in meine Schlafkabine krabbele. Heftig ziehe ich den Reißverschluss hinter mir zu. Ich kann ihm nur zustimmen. Einfach die Zeit um eine Woche zurückdrehen und einen sauberen Neustart hinlegen. Ab an die Atlantikküste mit den Mädels aus meiner Schule, und nichts von alldem wäre so passiert, wie es jetzt geschehen ist. Felix wäre noch jung und gesund, Pascal säße mir nicht dauernd im Genick, es gäbe für mich keinen Diego, der mir das Leben auch nur schwer macht ...

Keinen Diego? Will ich das denn?

Im Zelt ist es heiß, viel zu heiß zum Schlafen. Müde und unschlüssig hocke ich im Schneidersitz auf meinem Bettzeug. Ich hätte an den Strand gehen sollen, aber da hätte ich am Ende Fleur und Pauline getroffen und lustig reden müssen und so tun als ob. Unmöglich. Ich ziehe mir meine vom Schweiß am Körper klebenden Sachen aus und schlüpfe in mein Schlafshirt.

Schließlich strecke ich mich auf der Luftmatratze aus und starre durch das Fliegengitter an das Zeltdach. Die Schatten der Blätter eines Olivenbaumes tanzen auf der blauen Fläche im Wind, dazwischen sind Sprenkel von Sonnenlicht zu sehen. Das Geschrei der Zikaden verstummt langsam. Draußen höre ich, wie Didier vom Strand zurück kommt und unter lautem Protest zum Duschen geschickt wird. Schließlich höre ich ihn in seine Schlafkabine krabbeln. Er zieht sich jetzt wohl für Barnabé um.

Mir wird ganz flau im Magen. Ich komme mir so dämlich vor. Warum kann ich nicht einfach aufstehen und auch mitgehen? Ich stelle es mir ernsthaft vor: Jeder dort würde mich fragen, wie es mir geht und ich müsste nett antworten. Ich könnte ja wohl kaum erzählen, dass ich gerade mit dem Kumpel von Felix´ Entführern unterwegs war, und dass man sie leider zur Greisin umgearbeitet hat. Nein unvorstellbar, da bleibe ich lieber in diesem Schwitzkasten.

„Ich renn schon mal vor!“ ruft Didier und ich höre das sich entfernende Getrappel seiner Füße.

Maman flüstert vor dem Zelt „Sollen wir sie nicht doch fragen Chéri?“

„Nein lass sie mal schlafen“ flüstert mein Vater zurück. „Ich glaube sie ist ziemlich fertig!“ Ihre Schritte entfernen sich und mir kommen schon wieder Tränen in die Augen. - Warum denken die so lieb an mich, obwohl ich eben doch so gemein zu ihnen war?

Vorsichtig öffne ich den unteren Teil des Reißverschlusses, damit wenigstens ein bisschen Luft in meine Kabine dringt. Den ganzen Tag lang habe ich nichts gegessen, also nehme ich den Deckel von der Plastikkiste, in der ich neben anderen Kleinigkeiten auch eine Flasche Wasser und eine Packung Kekse aufbewahre. Lustlos esse ich einen Keks nach dem anderen und spüle mit dem lauwarmen Wasser nach. Schließlich strecke ich mich wieder auf meinem Lager aus und starre die tanzenden Blätterschatten an, die in dem langsam schwindenden Licht immer schwächer werden.

Die Ereignisse dieses Tages ziehen an mir vorbei, und ich versuche nicht mehr, sie gewaltsam zu verdrängen. Diegos weiche Lippen auf meinen, Pascal, der uns verfolgt, der Lastwagen, der Idiot in den Bergen, die wütende Meute mit diesem verrückten Inquisitor, die Fahrt in dem uralten Peugeot, Monsieur Lucas und schließlich unser Streit. Seufzend drehe ich mich auf die Seite und versuche einzuschlafen, um diese vielen verwirrenden Bilder endlich loszuwerden. Aber ich finde keine Ruhe.

Nach einiger Zeit krabbele ich aus dem Zelt und schlüpfe in meine Flip-Flops. Es ist mittlerweile fast dunkel und der Wind ist erfrischend kühl. Ich atme tief die würzige Luft ein und schleiche mich vorsichtig über den Campingplatz zu dem Sanitärhäuschen. Weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg begegnet mir jemand.

Im Dunkeln setze ich mich an unseren Campingtisch, lehne meinen Kopf an die Stuhllehne und starre in den tiefvioletten Abendhimmel. Ein Stern nach dem anderen erscheint. Das leise Zirpen der Grillen wirkt nach dem Lärm der Zikaden am Tag richtig beruhigend. In der Ferne höre ich den klagenden Ruf eines Käuzchens. Fetzen von Musik und Gelächter sind aus der Strandbar zu hören. - Dort haben sie jetzt alle Spaß. Ich komme mir mit einem Mal so einsam und ausgeschlossen vor. Ich habe das Gefühl, mit dem was ich weiß, kann ich nie mehr normal mit meinen Eltern und Freunden umgehen.

Plötzlich weiß ich, was ich tun muss, um mich von diesem Gefühl der Schuld zu befreien. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Er ist der Einzige, mit dem ich reden kann, denn er muss von der Sache etwas wissen.

Im Zelt suche ich im Licht meiner kleinen Taschenlampe meine Klamotten durch. Was hatte ich an dem Tag an, wo habe ich sie nur hin gesteckt? Schließlich habe ich gefunden, was ich suche: die kleine Visitenkarte. Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer und beglückwünsche mich gleichzeitig zu der guten Entscheidung, mein Handy nicht im Brunnen versenkt zu haben.

„Ja“, meldet sich eine müde Stimme.

„Commisaire Reno? Hier ist Lana, Lana Rouvier vom Camping Neptune!“

Einen kurzen Moment ist es still am anderen Ende. Reno räuspert sich. „Ach ja, Lana, was gibt es denn? Ich wollte gerade Feierabend machen.“

„Ich, ich, Sie ...“ Verdammt, was stottere ich denn so rum? Ich weiß absolut nicht, wie ich anfangen soll, denn mir wird mit einem Mal klar, dass ich ja auch Diego als Mitwisser belaste, wenn ich zu offen rede.

„Fass dich kurz, wenn es geht!“, Renos Stimme klingt genervt und mürrisch.

„Was ist mit Felix passiert, wieso ist sie plötzlich eine alte Frau?“ Kürzer geht es wohl nicht.

Schweigen. „Woher weißt du das?“ Reno wirkt mit einem Mal hellwach.

„Weil ich Felix gesehen habe im Fernsehen vor einem Krankenhaus und jetzt haben Sie die Daggets nach Draguignan geschickt.“

„Ja, und?“ antwortet Reno nach kurzem Schweigen zögernd.

„Commisaire Reno, Sie wissen was passiert ist und ich glaube, ich weiß es auch. Wer hat das getan, waren das die ...“ Ich zögere einen Moment, bevor ich dieses Wort ausspreche: „ ... die Darksider?“

Ich höre ein Seufzen und dann das Klicken eines Feuerzeugs. Geräuschvoll atmet Reno aus. „Lana?“

„Ja?“

„Woher weißt du von denen? Sprich mit niemandem darüber, hörst du?“

„Ja, aber, die müssen doch irgendwie bestraft werden, die, die das getan haben.“ Nervös beginne ich mit zitternden Fingern am Saum meines T-Shirts herumzuspielen.

„Das regeln diese Leute unter sich, da kann ich nichts tun und du erst recht nicht. Hast du mich verstanden Lana?“

„Ja, aber ...“

„Nichts aber, du hältst die Klappe! Verstanden? Du bringst dich sonst in Gefahr und nicht nur dich, sondern auch deine ganze Familie! Hast du mich verstanden?“

Reno spricht ganz ruhig und sehr eindringlich. Ich merke, dass es ihm ernst damit ist. – Tödlich ernst.

„Aber das sind doch Verbrecher“, antworte ich lahm.

„Nein“, widerspricht Reno. „Aber es gibt Verbrecher unter ihnen. Die haben ihre eigenen Gesetze und eigene Strafen. Die Täter werden nicht davonkommen, das ist sicher. Hauptsache du hältst den Mund über die Sache.“

„Ja, okay, ich sage nichts.“

„Gut! Nimm die Sache bitte ernst. War’s das?“ Reno klingt hörbar gereizt, deshalb beeile ich mich, das Gespräch zu beenden.

Im Schein der Taschenlampe hocke ich auf meiner Luftmatratze im Zelt und starre mein Handy an. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich will auch nichts mehr verstehen. Das ist mir alles zu viel. Fröstelnd krieche ich unter die Decke, rolle mich zusammen und schließe die Augen, aber der Schlaf will immer noch nicht kommen.

Gesamtausgabe der

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