Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 23
Оглавление19 FELIX FEHLT
Ich bin geschwommen, wie jeden Morgen, aber es war heute nicht derselbe Genuss wie sonst. Irgendwie dringt im Moment nichts anderes in mein Bewusstsein, als der Gedanke an Diego.
Nach dem Duschen bin ich an den Strand zurückgekehrt. Nun sitze ich hier auf meinem feuchten Handtuch im warmen Sand, lasse mir die immer wärmer werdende Sonne auf die Haut scheinen und denke über gestern Abend nach. Ich suche im Sand neben mir nach Muscheln und kleinen Steinen, drehe sie zwischen den Fingern und spüre ihre vom Wasser abgerundete Weichheit. Gedankenverloren werfe ich sie beiseite und suche das nächste Objekt, mit dem ich spielen kann, um meinen ruhelosen Händen etwas zu tun zu geben und mich von meinem innerlichen Beben abzulenken.
Gestern, das war alles so aufregend und verwirrend, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte. Immer wieder sehe ich Diego vor mir, wie er auf mich zu kommt und mich an sich zieht. Immer noch spüre ich seine unglaublich weichen, sanften Lippen auf meinem Mund.
Ein Schauer durchläuft mich und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mehr davon zu bekommen, ihn wieder zu sehen und geküsst zu werden von diesen zärtlichen Lippen.
Ein leises Geräusch schreckt mich aus meinen warmen Gedanken. Ich schaue zur Seite und sehe, wie Dusty sich ganz selbstverständlich neben mich setzt, mir seinen struppigen Kopf mit den zotteligen Augenbrauen zuwendet, seine witzigen Klappohren etwas hochstellt und mich mit seinen braunen Augen aufmerksam und verständnisvoll anschaut.
„Na Dusty“, begrüße ich ihn und lege meinen Arm um seinen Rücken, um ihn an der Brust zu kraulen. Dabei drückt er sich ganz leicht und vertrauensvoll an mich.
„Wie ist es dir denn so ergangen? Ich hab viel erlebt seit gestern Morgen!“ Dusty lässt sich von mir kraulen, gähnt leise fiepend mit weit aufgerissenem Maul, niest einmal kräftig und schnauft dann leise, während er mich mit seinen braunen Augen fragend anschaut. Es scheint fast, als würde er wirklich überlegen, was er denn so erlebt hat.
Gemeinsam schauen wir gedankenverloren auf das stille, klare Meer. So früh am Morgen ist es noch ganz glatt, nur ein ganz leichter Wellenschlag ist zu hören. Gemeinsam beobachten wir eine große weiße Yacht, die dem Horizont zustrebt.
Es tut richtig gut, diesen Hund neben mir zu haben. Ihm scheint es auch zu gefallen, einfach mal so dazusitzen, mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein.
„Weißt du, ich mag Diego, sehr!“ erkläre ich ihm, „er ist so, ach ich weiß nicht, anders als alle Jungen, die ich bisher getroffen habe, so irgendwie geheimnisvoll, so ... Seine Ausstrahlung, sein Lächeln, so intensiv. Er berührt mich, ohne mich zu berühren, verstehst du?“ Ich schaue in Dusty’s aufmerksame, braune Hundeaugen und komme mir dabei irgendwie doch ein bisschen gestört vor, dass ich einem Hund mein Herz ausschütte. Aber es sieht ja keiner, und Dusty ist ein guter Zuhörer.
Plötzlich wird er unruhig und fängt an, leise zu fiepen. Winselnd steht er auf und dreht sich weg. „Was ist denn mit dir?“ versuche ich ihn aufzuhalten, aber er klemmt den Schwanz ein und läuft in Richtung Campingplatz davon. „Dusty!“ rufe ich hinter ihm her, aber er reagiert gar nicht, sondern rennt, als ginge es um sein Leben.
Zwischen den Zelten und Wohnwagen hindurch sehe ich, wie ein blauer Polizeiwagen langsam über den Platz rollt. Was will der denn hier? Na, wahrscheinlich ein Einbruch irgendwo. Wohnwagen sind leicht zu knacken, und so was kommt leider ab und zu vor. Unwichtig! Monsieur Bardane wird’s sowieso berichten.
Dusty kommt nicht zurück. Er verschwindet gerade unter ein paar Büschen. Enttäuscht wende ich mich wieder dem Meer zu und mein Herzschlag setzt einen Moment lang aus. Völlig unerwartet taucht ein Kopf aus dem Wasser auf. Hier war doch eben kein Mensch! Ich war mit Dusty ganz alleine. Ich bin mir absolut sicher, dass niemand zum Schwimmen ins Meer gegangen ist und schließlich kann es ja nicht sein, dass jemand einfach so aus der Tiefe des Wassers auftaucht. Ich sitze mit leicht zusammengekniffenen Augen am Strand und beobachte den Schwimmer, der da so plötzlich in den Wellen ist. Mein Herz stolpert, denn schon aus der Entfernung erkenne ich, wer es ist: Diego!
Diego blickt auf und sieht mich. Schnell wendet er sich um und will wieder fort vom Ufer. Ich frage mich warum, und rufe gleichzeitig „Diego?“
Er sieht sich um und winkt mir zu, etwas zögerlich, wie mir scheint. Langsam kommt er auf den Strand zugeschwommen. Seine Schwimmbewegungen sind kräftig aber verhalten. Man merkt, er könnte schneller, wenn er wollte. Aber aus irgendeinem Grund will er nicht so schnell an den Strand kommen. Ist es wegen mir? Bereut er das, was er gestern getan hat? Hat er es sich anders überlegt? Oder schlimmer noch: hat er vielleicht gar nicht mitbekommen, dass mich mein Vater abgeholt hat?
Vielleicht ist er freudestrahlend mit ein paar ergaunerten Snacks stolz aus der VIP-Lounge zurückgekommen und wer war nicht mehr da? Ich! Er war enttäuscht und will mich nun nicht mehr sehen. So wird es sein. Warum sonst wollte er eben einfach wieder so verschwinden? So sah es doch aus. All das geht mir in Sekundenschnelle durch den Kopf. Aber hinter all diesen Fragen pocht noch ein riesengroßes Fragezeichen: Wo zum Teufel kommt Diego überhaupt her? Wann ist er ins Wasser gegangen, und wo?
All diese Fragen sind aus meinem Kopf verschwunden, als er sich schließlich aus der sacht wiegenden Brandung erhebt. Er entsteigt den Fluten, als wären sie sein Element. Wo andere durch die ans Ufer schlagenden Wellen stolpern, schreitet er einfach voran. Seine gebräunte, nasse Haut glitzert im Sonnenschein. Mit einer fast schüchtern wirkenden Bewegung streicht er sich die feuchten, dunklen Haare aus dem Gesicht und kommt auf mich zu. Sein Mund lächelt, aber seine Augen schauen traurig. Warum, frage ich mich und mein Herz beginnt gleichzeitig zu stolpern und zu rasen.
„Hallo Lana, war das dein Hund?“
„Äh“, erwidere ich leicht irritiert, denn irgendwie hatte ich nach gestern Abend eine andere Begrüßung erwartet, etwas Romantisches, Liebes vielleicht? „Nein, der läuft hier so auf dem Campingplatz rum, wir haben ihn Dusty getauft, also eigentlich war das Felix´ Idee, weil er so staubt, wenn sein Fell trocken ist, weißt du?“, stottere ich herum und höre selber, wie banal mein Gerede in seinen Ohren klingen muss.
„Ah, Felix!“ sagt er nur und setzt sich neben mich in den Sand. Dabei streift er mich mit einem fragenden Blick.
„Die gestern bei der Strandwahl gewonnen hat, weißt du?“, erkläre ich kurz. „Felicitas, aber sie mag den Namen nicht. Sie meint übrigens, du könntest sie nicht leiden“, fahre ich hilflos fort, denn er ist so komisch, so anders, heute Morgen. Gestern, da hat er mich liebevoll angelächelt und war so zärtlich. Wer weiß, was noch passiert wäre, wenn mein Vater mich nicht so früh abgeholt hätte?
„Ich habe nichts gegen Felix“ erwidert Diego. „Sie hat mir gestern gesagt, dass du später kommst, da hat sie mich das auch gefragt.“
„Was?“
„Ob ich was gegen sie habe.“
„Und?“ Ein kleiner Piekser blöder Eifersucht meldet sich. Die beiden haben gesprochen? Über was?
„Ich hab ihr gesagt, dass es nichts mit ihr zu tun hat. Es gab da mal ein Mädchen, das so ähnlich aussah. Schlechte Erinnerungen.“
„Ihr habt Schluss gemacht?“
Er lacht bitter auf. „So könnte man es vielleicht nennen.“
„Was heißt das?“
„Sie ist tot.“
Merde! „Oh, das tut mir Leid!“
Wieder dieses bittere Lachen. „Ja, mir auch!“
„Hast du sie geliebt?“
„Nein. Aber sie hätte nicht sterben müssen, wenn ich ...“ Er schaut zu mir herüber, runzelt die Stirn, so als würde er überlegen, was er sagen soll, hebt dann aber nur schweigend die Schultern und schaut aufs Meer hinaus.
Da sitzt er so greifbar nahe neben mir. Ich möchte ihn berühren, seine perfekt gebräunte, schimmernde Haut unter meinen Fingern spüren, ihm durch seine nassen Haare fahren, seine weiche und doch starke Schulter berühren, aber es ist schon wieder diese Wand zwischen uns. Er will nicht darüber reden.
„Diego?“ Diese Starre, in der er dasitzt ist schrecklich.
„Du fühlst dich schuldig?“
„Ich bin schuldig geworden, ohne es zu wollen, ohne zu wissen, dass es so kommen würde, wie es dann kam.“
„Du kannst ruhig mit mir darüber reden, wenn du willst. Du bist so – abweisend. Ich möchte verstehen, warum.“
Erneut wendet mir Diego sein Gesicht zu. Ernst, fast verzweifelt schaut er mich an und sagt „Das willst du nicht wissen Lana, glaub mir.“ Er erhebt sich. „Ich muss jetzt los, wir sehen uns wieder, bestimmt.“
Auch ich springe auf. Ganz dicht stehen wir voreinander. Wenn ich es bis jetzt noch nicht wusste, nun spüre ich es mit Macht: Es gibt elektrische Ströme zwischen menschlichen Körpern. Ich spüre förmlich die Funken, die zwischen uns hin und her springen, spüre die Anziehungskraft, die von seiner nackten, glatten Haut ausgeht, spüre, wie sich alle Poren meiner Haut in seine Richtung bewegen, werde mir mit einem Mal bewusst, dass wir ja wirklich halbnackt voreinander stehen.
Lächelnd schaut er mich an und streicht leicht mit seinen Händen über meine Schultern. Unwillkürlich schließe ich die Augen, denn diese Berührung ist so warm und weich und fährt mir durch alle Fasern meines Körpers.
„Warum bist du heute so anders?“ flüstere ich, immer noch mit geschlossenen Augen. „Bist du sauer, dass ich gestern Abend verschwunden bin? Weißt du, mein Vater ist gekommen und hat mich abgeholt. Er war ziemlich ärgerlich und ich konnte dich nicht suchen. Es tut mir so Leid!“
Diegos Hände umfassen meine Oberarme und ich öffne die Augen. Sein Gesicht sieht ein wenig überrascht aus. „Du, ich bin auch aus der Disco abgehauen“, sagt er zögernd. „Aber bei mir war es schlimmer. Mich hat niemand abgeholt. Ich habe aus Feigheit gekniffen und bin einfach so verschwunden. Ich hatte Angst.“
„Angst wovor?“ Ich verstehe es einfach nicht.
„Vor der Liebe?“ Er scheint sich nicht ganz sicher zu sein.
„Vertraust du mir denn nicht?“
„Doch, sehr und ich wünschte, ich könnte es dir erklären, mit dir über alles reden.“
„Aber das kannst du doch!“ Ich schaue in sein Gesicht. Seine Augen sind noch dunkler als sonst. Seine Mundwinkel zucken leicht. Er sieht mit einem Mal so verzweifelt und verletzlich aus.
Eine feuchte Haarsträhne hängt ihm in die Stirn. Zärtlich streiche ich sie zurück. Er lächelt mich mit traurigen Augen an, beugt sich vor und gibt mir einen weichen Kuss auf die Wange. Schnell umschlinge ich seinen Hals und schmiege mich an ihn. Er umfasst meinen Rücken und drückt mich fest an sich. So stehen wir eine endlos lange Weile eng umschlungen, während er mir lauter kleine sanfte Küsse auf die Schulter haucht. Ein Schauer durchläuft mich und ich muss leise aufstöhnen, während ich meine Lippen in die Biege seines Halses presse. Intensiv spüre ich seine warme weiche nackte Haut auf meiner. Mein Körper reagiert so stark, wie ich es noch nie erlebt habe, auch nicht mit Hervé!
„Ach Lana, Lana“, flüstert er und wühlt sein Gesicht in meine Haare. Schließlich schiebt er mich ein wenig von sich weg und hält mich mit seinen starken warmen Händen an den Schultern fest. Glücklich lächelnd blickt er mir in die Augen, während sich sein Brustkorb vom schnellen, erregten Atmen sichtbar hebt und senkt. „Jetzt weiß ich es. Wir sehen uns wieder, ich bin mir sicher!“ Er lässt meine Schultern los, streicht mir ganz leicht mit einer Hand über die Wange, lächelt mich noch einmal an und geht über den Strand davon.
Ich stehe da und sehe ihm nach. Alles in mir zittert und bebt von der engen Berührung mit seinem Körper. Ich bin so aufgewühlt und durcheinander, dass ich ihm nur stumm nachschauen kann.
Plötzlich fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, wo er überhaupt hingeht. Wo wohnt er? Ist er auf einem der Campingplätze? Und meine eigentliche Frage von vorhin habe ich ihm auch nicht gestellt: Wie ist er ins Wasser gekommen? Mit kraftvollen Schritten geht Diego den Strand entlang und verschwindet schließlich hinter den Stämmen einer Baumgruppe. Völlig verwirrt setze ich mich auf mein Handtuch und versuche, meine Gefühle wieder halbwegs in den Griff zu bekommen.
Auf einmal kommt Dusty auf mich zugelaufen und bellt aufgeregt, während er wie ein Wilder um mich herumspringt. Fleur und Pauline erscheinen rufend und winkend am Tor zum Neptune. „Lana! Lana!“
Ein zittriges Seufzen entringt sich meiner Brust. Bebend und aufgewühlt von diesem warmen, zärtlichen Umschlingen und umschlungen werden schaue ich zu ihnen hin. Sie kommen mir vor wie Traumgestalten. Was wollen sie?
Immer noch verwirrt von Diegos Worten wende ich mich meinen beiden Freundinnen zu, die wild gestikulierend am Eingang zum Neptune stehen. Ich versuche zu verstehen, was sie mir mitteilen wollen. Es scheint etwas Wichtiges zu sein. Wortfetzen dringen in meine dumpf rauschenden Ohren: Felix – passiert - komm schnell.
Wie in Trance ziehe ich mein Top über, raffe meine Badelatschen und mein Handtuch zusammen und gehe zum Tor vom Campingplatz, während Dusty aufgeregt vor mir her springt.
„Nun komm doch etwas schneller“, Fleur stampft aufgeregt mit dem Fuß auf.
„Was ist denn los?“ frage ich verwirrt, als ich fast bei ihnen angelangt bin.
„Felix ist verschwunden“, sagt Pauline mit völlig verstörtem Gesichtsausdruck.
„Keiner weiß, wo sie ist“, fügt Fleur hinzu und schaut mich mit angstvoll geweiteten Augen an.
Ganz langsam dringt der Sinn ihrer Worte in mein trunkenes Glücksgefühl und kämpft sich einen Weg durch die rosarote Wolke, auf der ich gerade schwebe. Ich will mein Glück festhalten, das Gefühl in mir bewahren, aber ich kann es nicht verhindern, dass mein Verstand sich schwerfällig auf die Realität einstellt. Es ist wie ein Sturz aus berauschenden Höhen in tiefes, dunkles, eiskaltes Wasser. Mir wird mit einem Mal ganz kalt.
„Was sagt ihr da?“
„Hörst du denn nicht zu?“, sagt Fleur wütend, während ihr die Tränen in die Augen schießen. „Felix ist verschwunden!“ Ihre Lippen beginnen zu zittern. „Sie ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen, sie ist weg, verstehst du? Keiner weiß, wo sie ist!“
Pauline laufen plötzlich Tränen über ihre blassen, rot gefleckten Wangen. „Die Polizei ist da und befragt jeden. Sie wollen auch mit uns sprechen“ flüstert sie heiser.
„Aber, aber“, stottere ich, „sie war doch gestern im Les Sables. Da hat sie doch noch mit irgend so Platten- oder Filmfuzzis gesprochen. Wie kann das denn sein? Ist sie denn nicht im Bus mitgefahren?“
„Los komm!“ Fleur zieht mich am Ellenbogen, dreht sich um und geht voran. „Die Eltern haben schon die ganze Nacht versucht, sie anzurufen, aber das Handy ist aus.“
Gemeinsam gehen wir zum Stellplatz von Felix´ Eltern, während mir die Bedeutung dessen, was passiert ist, immer noch nicht so richtig aufgeht. ‚Das kann nicht sein, das ist ein Irrtum, Felix ist nicht weg, sie kann nicht weg sein!’ drehen sich die Gedanken in meinem Kopf. ‚An so einem schönen Morgen kann nicht so etwas Schreckliches passiert sein!’
Als wolle mich der Himmel eines besseren belehren, zieht mit einem Mal eine große Wolkenwand vor die Sonne und taucht den Campingplatz in ein trübes, graues Licht. Ein leichter Wind kommt auf und rauscht in den hohen Eukalyptusbäumen. Fröstelnd schaue ich zum Himmel, ziehe mir mein immer noch etwas feuchtes Badehandtuch eng um die Schultern und schlüpfe in meine Badelatschen.
Eine beträchtliche Anzahl von Menschen drängt sich um das große Wohnmobil von Felix Eltern, neben dem der Streifenwagen steht. Ein einzelner, uniformierter Polizist hat Mühe, die Leute auf Abstand zu halten. Alle sprechen und gestikulieren aufgeregt durcheinander. Die, die schon mehr Informationen haben, erzählen denen, die erst später dazu gekommen sind, was passiert ist.
Hässliche Bemerkungen wie: „Das kommt von so was“ und „Man sollte junge Mädchen eben nicht an so was teilnehmen lassen“ dringen an mein Ohr.
Ärgerlich schaue ich mich nach den Sprechern um, kann sie aber in der Menge nicht ausfindig machen. Schade. Ich glaube, in diesem Moment hätte ich etwas tun können, was mir eigentlich gar nicht liegt: Ich hätte ihnen wirklich in ihr blöden selbstgefälligen Gesichter schlagen können.
„Nun machen sie aber mal halblang, wie können sie so saudumm daher reden?“ höre ich Monsieur Bardanes wütende Stimme. „Wer saß denn dort gestern gaffend und sabbernd in der ersten Reihe?“
„Danke Monsieur Bardane!“ flüstere ich befriedigt vor mich hin. Andere Stimmen werden laut, die seine Bemerkung unterstützen. Erregte Worte wie „scheinheilig“, „dummdreistes Gerede“, „falsche Moral“, „verlogenes Geschwätz“ fallen.
Eine junge, uniformierte Polizistin hält uns an. „Seid ihr die Freundinnen von Felicitas?“ Wir nicken und sie schleust uns durch die aufgeregt diskutierende Menge.
Vor dem Wohnmobil sitzen Felix’ Eltern niedergeschlagen am Tisch. Felix’ Mutter weint mit zuckenden Schultern still vor sich hin, während sie ein Bild von Felix in ihren zitternden Händen hält. Meine und Fleurs Mutter bemühen sich um sie. Sie hocken vor ihr und reden leise auf sie ein.
Felix Vater reibt sich immer wieder mit seinen großen, rötlich behaarten Händen hilflos über das vom Schmerz verzerrte Gesicht. Auch er weint. Ungehindert rinnen die Tränen über seine bleichen, unrasierten Wangen, während ein großer Polizist in Zivil ihm Fragen stellt. Ab und zu blickt er hilflos zu dem Beamten auf, zuckt ratlos mit den Schultern oder schüttelt langsam den Kopf. Plötzlich vergräbt er sein Gesicht laut aufschluchzend in seinen Händen. „Oh no, no, no!“ kommt es gequält zwischen seinen Fingern hervor. Mein Vater tritt mit ernstem Gesicht und Tränen in den Augen hinter ihn und legt ihm die Hände beruhigend auf die zuckenden Schultern.
Ich weiß nicht warum, aber genau bei diesem Anblick kommen auch mir die Tränen. Ich kann einfach keinen Mann weinen sehen, ohne selbst in Tränen auszubrechen. Es ist fast so, als würde die Schrecklichkeit des Geschehens erst dadurch wirklich Gewicht bekommen, das ein Mann darüber weint. Erst jetzt, wo ich diesen großen starken Mann weinen sehe, dringt die grauenvolle Wahrheit mit aller Macht in mein Bewusstsein: Felix ist wirklich verschwunden!
„Nein, nein, nein!“ Ich wende mich ab und schluchze laut auf. Arme umfassen mich und ich höre die leise Stimme von Maman. „Komm Lana, nicht weinen, Chérie. Noch wissen wir doch gar nichts.“ Sie drückt mich wie eine Puppe mit hilflos hängenden Armen an ihre Brust und streicht mir tröstend über die Haare. Welch ein Widerspruch der Gefühle, fährt es mir durch den Kopf. Vor höchstens ein paar Minuten lag ich glückselig in Diegos Armen und jetzt sind da nur noch diese qualvolle Trauer, die Ungewissheit und die Angst.
Plötzlich spüre ich eine kleine Hand, die meine drückt. Didier steht vor mir und schaut mich traurig an. „Lana“, sagt er mit zitternden Lippen, „ich bin froh, dass nicht du das bist!“ Dabei läuft ihm eine Träne über die Wange, die er verschämt mit der anderen Hand wegwischt.
„Wir müssen Suchtrupps bilden und den Strand absuchen“, höre ich meinen Vater mit bebender Stimme sagen. Er muss sich räuspern. Um mich herum vernehme ich zustimmendes Gemurmel und die ersten Freiwilligen drängen sich nach vorne durch.
Ich löse mich aus den Armen meiner Mutter und schaue mich um. Viele der anderen Campinggäste nicken. Auch sie sind bereit, bei der Suche zu helfen.
Fleur, die sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter geflüchtet hat, schaut auf, während Pauline mit feuchten Augen und versteinerten Zügen ihrer Mutter hilft, Tee für die Eltern von Felix in Becher zu füllen.
„Was halten sie davon Commissaire Reno?“ Mein Vater wendet sich an den Beamten in Zivil. Er muss sich noch einmal räuspern, aber seine Stimme ist schon viel fester geworden. „Wir teilen uns in vier Gruppen auf und kämmen die Uferlinie und das Hinterland in beiden Richtungen ab. Nach Westen bis hin zum Les Sables und nach Osten bis St.Maxime.“
„Machen sie das“, der Commissaire nickt mit ernstem Gesicht. „Beamte mit Hunden habe ich schon angefordert. Auch ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera ist auf dem Weg hierher. Ich werde in der Zwischenzeit hier die Befragung der Zeugen durchführen, hauptsächlich der Mädchen, die gestern auch im Les Sables waren.“
Mein Vater nickt, flüstert Felix’ Vater ein paar Worte ins Ohr und drückt dann leicht mit der Hand seine Schulter. Mr. Dagget sieht etwas verwirrt zu ihm auf und nickt leicht mit dem Kopf.
„Also los!“ ruft Papa und nähert sich der Menschenmenge. „Wer geht mit und wer führt die einzelnen Gruppen an? Monsieur Bar... äh Georges, ich brauche auch Sie, Sie kennen sich hier am besten aus.“
Monsieur Bardane drängt sich eifrig durch die Menge, gefolgt von Fleurs Vater. Auch Paulines Vater kommt mit ernstem Gesicht heran. Bald haben sich Gruppen mit Männern, Frauen und auch Kindern und Jugendlichen gebildet.
„Ich gehe auch mit, Lana, ich finde sie!“ Didier geht entschlossen zu der Gruppe, die Papa leitet, dreht sich auf halbem Weg noch einmal um und winkt mir schüchtern zu. Ich glaube, es ist das erste Mal in unserem Zusammenleben, dass ich das Bedürfnis habe, meine kleine Ratte liebevoll zu knuddeln.
Ein polizeiblauer Lieferwagen kommt den Weg entlang. Gleich vier Beamte steigen aus und melden sich mit ihren Suchhunden bei dem Commissaire.
Die Beamten werden den Suchgruppen zugeteilt und die Menge zerstreut sich in Richtung Strand. In vielen Gesichtern sehe ich neben der Hoffnung auch Erleichterung. Endlich kann man etwas Sinnvolles tun!
Müde sitzen Felix Eltern nebeneinander am Tisch. Sie starren nur noch mit maskenhaft leeren Gesichtern und trüben Augen vor sich hin. Mr. Dagget hat einen Arm um die Schultern seiner Frau gelegt und streicht ihr immer wieder mechanisch über den Arm.
Endlich! Denn das war mit das Schlimmste an ihrem Anblick vorhin, dass jeder für sich allein saß und trauerte, ohne dem anderen Hilfe und Halt zu geben.