Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 30

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26 DER LASTWAGEN

Früh am Morgen kommt Diego wie versprochen zu unserem Stellplatz, um mich abzuholen. Mir geht es wirklich schon viel besser. Ich habe ohne wilde Träume fast die ganze Nacht durchgeschlafen. Vielleicht liegt das daran, dass ich endlich etwas tun kann.

Nach einem höflichen Wortwechsel mit meinen Eltern gehen wir zusammen zum Parkplatz an der Einfahrt des Neptune. Wir steigen in sein Auto, ein Cabrio. Ich bin so aufgeregt, dass mir überhaupt nicht auffällt, was das für ein Wagen ist. Hauptsache er fährt und bringt mich nach dort, wo ich unbedingt hin will. In die Berge von Mons. Was werden wir heute wohl herausbekommen?

Diego schaut mich lächelnd an, als ich neben ihn auf den Beifahrersitz gleite. „Bereit?“ fragt er.

„Ja!“ sage ich und lächele zurück. Er sieht in diesem weichen Morgenlicht so unglaublich gut aus und ich sitze neben ihm, ganz nah! Plötzlich beugt er sich vor, berührt mit der Hand leicht meine Wange und küsst mich ganz sacht auf den Mund. Mir wird ganz schwindelig vor Glück. Ich schließe für einen kurzen, viel zu kurzen Moment die Augen, denn schon lässt er mich los, dreht den Zündschlüssel und lässt den Motor an.

Als wir losfahren, sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter einer der Pinien. Ich drehe mich um. War das Pascal? Was macht der denn hier so früh am Morgen? Ich sehe, wie er auf den Parkplatz rennt, in ein blaues Auto steigt und etwas auf den Beifahrersitz wirft. Der Motor heult auf und sein Wagen schießt förmlich aus der Parklücke heraus.

Wir sind schon am Tor und fädeln uns in den eher mäßigen Verkehr auf der Hauptstraße ein. Ich drehe mich wieder nach vorne. „Ich glaube, Pascal will uns verfolgen!“

„Ist das der Typ, der mich einen Dealer genannt hat?“

„Ja!“ Ich schaue nochmals kurz zurück und sehe, wie Pascal sich knapp vor einem Lieferwagen auf die Straße zwängt. „Du, der kommt uns wirklich hinterher.“

Diego zuckt mit den Schultern. „Keine Chance“ ist alles, was er dazu zu sagen hat. Gelassen fährt er weiter. Ich schaue noch mal nach hinten. Pascals Wagen ist vier Fahrzeuge weit hinter uns in der Autoschlange. „Warum in aller Welt verfolgt der uns?“

„Mach dir keine Gedanken. Den sind wir bald los.“

Wir verlassen die Küstenstraße und biegen ab in das Hinterland. Diego beschleunigt und ich binde schnell meine Haare zusammen, weil sie mir im Fahrtwind unkontrolliert um mein Gesicht herumflattern. Das ist zwar einerseits ein schönes Gefühl von Freiheit und Abenteuer, aber andererseits doch eher lästig, weil man außer flatternden Haaren nicht besonders viel sieht von der Welt.

Ich schaue mich noch mal um, aber von Pascal ist nichts mehr zu sehen. Vielleicht habe ich mich ja doch getäuscht.

Die Sonne ist noch nicht so heiß und der Fahrtwind streicht mir fast schon zärtlich über mein Gesicht. Immer wenn wir an Olivenhainen oder Kiefernwäldchen vorbeikommen, höre ich das Lärmen der Zikaden. Das ist der Süden, das ist Urlaub. Für einen Moment vergesse ich das Ziel unserer Fahrt und genieße einfach dieses tolle Gefühl.

Der Wagen schnurrt die Steigungen empor, dass es eine wahre Freude ist. „Schönes Auto“, versuche ich ein Gespräch zu beginnen.

„Dieses hier? Der Porsche?“ fragt Diego.

Ich nicke. Aha, ein Porsche also, war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Mir kommen Pascals dumme Vermutungen wieder in den Sinn. Ich beobachte Diego von der Seite. Seine dunklen Haare flattern leicht im Wind, sein markantes Profil wirkt einfach nur lieb, wie er so konzentriert auf die Straße schaut. - Blödsinn, denke ich und bin fest entschlossen, diese Fahrt mit Diego einfach zu genießen, was auch immer dabei heraus kommen mag.

Verstohlen schaue ich mich um und betrachte den vielversprechenden Picknick-Korb, den Diego auf dem Notsitz sicher verstaut hat. Das passt ja nun wirklich nicht zu einem Dealer, oder? Ich räkle mich wohlig auf dem Sitz und lasse mir die langsam kühler werdende Bergluft durch die Haare wehen.

Nach etlichen Kilometern, die wir schweigend nebeneinander sitzen, verlässt Diego die Hauptstraße. Jetzt wird es richtig gebirgig. Über ein paar Serpentinen schrauben wir uns höher und höher in die Bergwelt.

„Ich finde es auch schön, einfach mal so gemütlich dahinzurollen“, meint Diego mit einem raschen Seitenblick auf mich. Wir erreichen eine schmale Straße, die sich in sanften Schwüngen am Berghang entlang zieht. Lächelnd lässt Diego den Wagen um die nächste Biegung schnurren.

Gemütlich? Ich werfe einen neugierigen Blick auf den Tacho, dessen Nadel zwischen Achtzig und Neunzig pendelt. Oh! Auf der Beifahrerseite ragt steil eine Felswand auf, während es rechts ebenso steil bergab geht. Wenn ich mich ein wenig recke, kann ich tief unten im Tal einen kleinen Bachlauf erkennen, der von ein paar kümmerlichen Büschen und Bäumen gesäumt ist. Sehr klein sieht das alles aus, und in der nächsten Linkskurve sehe ich, dass der Hang auf voller Länge felsig und zerklüftet ist. Trotzdem habe ich keine Angst. Wir sind zwar recht flink unterwegs, aber der Wagen wird mit der Strecke anscheinend spielend fertig – und der Fahrer auch.

Ich kenne eigentlich nur den Pariser Fahrstil, der sich eher am Boxsport orientiert. Elegant zwar, auch mit einer tänzerischen Note, aber manchmal doch ein wenig ruppig. Das, was Diego hier mit seinem Cabrio vorführt, erinnert mich da schon mehr an einen erotischen, lateinamerikanischen Tanz zu einer unhörbaren Melodie. Trotz der beachtlichen Geschwindigkeit ist es mehr ein Gleiten und Schweben durch das sonnige Bergland, umweht von kühler, würziger Luft. Dieses sanfte, intensive Wiegen wird durch keinen plötzlichen Stoß oder Ruck gestört.

Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und schließe die Augen. Es ist so beruhigend und angenehm, das Streicheln des Fahrtwindes im Gesicht zu spüren und so viel von den Geräuschen um uns herum zu hören.

„Shit! Shit! Shit!“, flucht Diego auf einmal los.

Ich reiße die Augen auf. „Was ist los?“ Die Frage bleibt mir im Hals stecken, denn plötzlich sehe ich vor mir den Lastwagen, der mit zerfetztem Vorderreifen aus der Kurve auf uns zu geschossen kommt. Der Fahrer des Lastwagens kämpft mit dem Lenkrad und einzelne Gummibrocken fliegen in hohem Bogen davon. Unaufhaltsam schiebt er sich auf unsere Fahrspur. Rechts ist nur die Felswand. Die Lücke wird immer enger.

Unmöglich, jetzt noch zu bremsen. Und selbst wenn? Es ist sicher, dass der rasende Laster uns auch dann überrollen wird. Panisch schreie ich auf und kralle meine Hände in den Sitz.

Diego reagiert mit der Schnelligkeit eines Raubtiers. Statt zu bremsen, wie es wohl jeder getan hätte, hat er das Gaspedal schon blitzschnell voll durchgetreten. Der Porsche gehorcht sofort. Der Motor faucht auf, wie eine Raubkatze im Angriff und die Beschleunigung presst mich brutal in den Sitz. Ich hänge an der Rücklehne wie festgeklebt und sehe mit ungläubigem Entsetzen den riesigen Kühler des Lasters auf uns zu kommen, während unser Wagen immer noch schneller wird.

Schon nimmt der Lastwagen die halbe Spur ein. Diego visiert die Lücke an und der Porsche schießt mit aufbrüllender Maschine ein paar Zentimeter vor der gewaltigen Stoßstange vorbei, die nur den Bruchteil einer Sekunde später die Felswand streift.

„Warum hast du das gemacht?“ keuche ich und zittere am ganzen Körper, während ich Diego ungläubig anstarre.

Diego antwortet nicht. Er tritt voll auf die Bremse, während er den Porsche nahe an die Felswand lenkt, reißt die Tür auf und springt aus dem Auto. Schon läuft er die Straße zurück zu dem LKW, der nun, nach dem Zusammenprall mit der Felswand, an den Rand der Schlucht geschleudert wurde.

Schnell folge ich ihm und sehe mit Entsetzen, wie er auf den Tritt vor der Fahrertür springt und an der Tür herumzerrt. Dagegen ist ja an sich nichts einzuwenden, wenn die halbe Fahrerkabine nicht schon über dem Abgrund hängen würde.

Die Kabine ist auf der Fahrerseite von dem Aufprall auf die Felsen stark beschädigt. Der Fensterholm ist eingedrückt und die Tür ist total deformiert. Unmöglich, sie einfach so zu öffnen. Was hat Diego nur vor?

Ich sehe im Laufen unter dem Laster hindurch. Das rechte Vorderrad dreht sich noch in der Luft, während der zerfetzte linke Reifen bedrohlich knirschend den Schotter an der Kante zur Schlucht immer mehr zusammendrückt. Der Lastwagen schwankt gefährlich, als Diego schließlich die Fahrertür aufreißt, sich mit einer Hand am Rahmen festhält und den anderen Arm um den Fahrer schlingt, um ihn herauszuziehen.

„Diego!“ brülle ich im Laufen verzweifelt, „pass auf, das Ding stürzt gleich ab!“

Der Fahrer taumelt in Diegos Griff auf die Straße und schaut sich mit weit aufgerissenen Augen zu seinem Laster um. „Mon Dieu!“ flüstert er.

„Wie geht es Ihnen?“ Diego fragt ganz ruhig und legt dem Fahrer dabei eine Hand auf die Schulter. Dieser weicht vor der Berührung erschrocken zurück und starrt Diego an, als habe der ihn schlagen wollen. Schließlich entspannt er sich etwas und murmelt leise mit gesenkten Augen und immer noch auf Abstand bedacht: „Merci Monsieur, geht schon wieder ganz gut.“

„Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?“ Diego bewahrt jetzt auch den Abstand, den der Fahrer gewählt hat und schaut ihm dabei aufmerksam ins Gesicht.

Der Fahrer schielt Diego misstrauisch von unten herauf an und murmelt, „Nein, nein, ich benachrichtige meine Leute, die werden mir schon helfen!“

Eine merkwürdige Antwort, überhaupt ein merkwürdiges Verhalten für jemanden, der gerade aus Todesgefahr gerettet wurde. Es ist fast so, als hätte der Fahrer mehr Angst vor Diego als vor der Gefahr, in der er sich eben noch befunden hat. Was mir allerdings noch mehr zu denken gibt, ist, dass Diego anscheinend versteht, wovor der Fahrer Angst hat. Was ist da los? Verwirrt beobachte ich die Szene, wende mich schließlich ab und gehe zum Auto zurück.

Es dauert nicht lange, da schwingt Diego sich mit unbewegter Miene auf den Fahrersitz und startet den Wagen. Ich schaue ihn von der Seite an. „Hätten wir ihm nicht helfen sollen, die Polizei rufen oder so?“

„Der Typ kommt zurecht. Seine Leute leben hier in der Nähe“, meint Diego.

„Was für Leute?“

Diego schüttelt unwillig den Kopf. Er sagt nichts weiter und schweigend fahren wir los. Als wir wieder in einem ruhigen Dahingleiten der Bergstraße folgen, taucht vor meinem inneren Auge plötzlich die schreckliche Szene von eben wieder auf.

„Warum hast du das gemacht, Diego?“

„Was denn?“, fragt er, etwas zu cool, zurück.

Klar! Da war ja auch nix! Macho! „Na, Gas geben, anstatt zu bremsen. Wir hätten tot sein können!“

„Ja!“

- Einfach nur „Ja“, das ist alles? „Und da fährst du wie ein Irrer auch noch auf die Gefahr zu? Du musst wahnsinnig sein!“

„Wieso? Hat doch geklappt!“, verteidigt sich Diego. „Würdest du jetzt lieber unter dem Laster auf den Krankenwagen warten? – Oder besser auf den Leichenwagen, nehme ich mal an.“

„Jeder vernünftige Mensch ...“, beginne ich, werde aber sofort von ihm unterbrochen.

„... hätte gebremst und wäre jetzt schwer verletzt oder tot!“, führt er den Satz zu Ende. „Ist es das, was du von mir erwartest? Dass ich mich benehme wie ein Durchschnittstyp? Dann muss ich dir leider sagen, dass du an meiner Seite völlig falsch bist!“

„An deiner Seite?“ Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. „Hast du an meiner Seite gesagt?“

Diego tritt voll auf die Bremse und die Bremskraft des Wagens ist noch viel stärker, als seine Beschleunigung. Ich werde hart in den Gurt geschleudert und pralle unsanft an die Rücklehne, als der Porsche mit einem Ruck zum Stillstand kommt. Diegos Kopf schnellt zu mir herum. „Ja!“, stößt er fast schon wütend hervor. „Ich habe an meiner Seite gesagt! Passt dir das nicht?“

Ich kann das irgendwie nicht glauben, was ich da höre. „Du siehst mich als – Frau an deiner Seite?“

„Was denn sonst?“

„Du magst mich?“

„Mehr als das!“

„Du – liebst mich?“ frage ich mit bebender Stimme unsicher nach und fühle mich dabei wie in einem Traum oder in einem rührseligen Liebesfilm.

„Ja!“

„Das war die schönste Liebeserklärung, die ich je bekommen habe.“

„Wie viele waren es denn bislang?“

„Äh, eine. Aber deine war besser!“

„Tröstlich!“, meint Diego und grinst mich mit einem Mal so richtig frech an. „Und? Ist der Typ noch im Rennen?“

„Lange vergessen!“, grinse ich zurück. „Da war auch nicht wirklich was. Mehr ein guter Freund, verstehst du? Nicht, dass du meinst ...“

„He, warte mal.“ Diego macht eine abwehrende Handbewegung. „Erzähl mir bitte nur das, was du mir auch wirklich erzählen willst. Dass du auch schon gelebt hast, bevor ich dich kennen gelernt habe, ist mir klar. Du brauchst dich für nichts zu rechtfertigen.“

„Mach ich ja auch nicht“, protestiere ich. „Ich hab auch nichts zu verbergen. Mein Leben war total langweilig, bevor ich dich kennen gelernt habe.“

„Du veralberst mich!“, meint Diego und schaut mich nachdenklich an.

„Nur ein wenig“, gebe ich zu. „Findest du Küssen eigentlich widerlich?“ Warum kommt mir das jetzt in den Sinn und nicht nur das, sondern auch noch unkontrolliert über meine Lippen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur eins, ich will ihn unbedingt jetzt spüren, streicheln, küssen und zwar sofort! Innerlich zittere ich immer noch wegen der überstandenen Gefahr.

„Überhaupt nicht.“ Diego beugt sich über die Mittelkonsole zu mir. Ich halte ihm mein Gesicht hin. Er umfasst es sanft mit beiden Händen. Ich schlinge meine Arme um ihn. Zärtlich berührt er mit seinen weichen Lippen meinen Mund und fährt spielerisch ganz leicht mit der Zunge darüber. Ich öffne meine Lippen. Ein wohliger Schauer durchläuft mich, als ich spüre, wie sich unsere Zungen treffen und miteinander spielen. Für einen Moment wird die ganze Welt warm und weich. Wow, ist das toll, zu leben!

Aufseufzend lehnt Diego sich zurück und schaut mich an. „Ich liebe dich Lana“, sagt er leise. „So wie mit dir ist es mir noch nie ergangen.“

Ganz benommen lehne ich meinen Kopf an die Rücklehne und flüstere atemlos „Mir auch nicht, noch nie!“

Erneut seufzt er auf, nimmt den Fuß vom Bremspedal und fährt weiter. Schade, ich hätte noch ewig so mit ihm schmusen können.

Plötzlich fällt mir wieder ein, dass wir ja aus ganz anderen Gründen in die Berge unterwegs sind. Wie kann ich nur so egoistisch sein? Ich hatte Felix in diesem Moment völlig vergessen.

Gesamtausgabe der

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