Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 33
Оглавление29 DER INQUISITOR
Jean reagiert blitzschnell. Er schwingt an der Felswand zur anderen Seite und findet mit seinen nackten Füßen neuen Halt.
Mir schlägt das Herz bis zum Hals. „Er wird noch abstürzen. Diego tu doch was!“
„Der stürzt nicht ab, der klettert nicht zum ersten Mal.“
Ich kann das nicht mehr mit ansehen, mir ist kotzübel. Vorsichtig robbe ich von der Kante weg und stelle mich in sicherer Entfernung vom Abgrund zitternd wieder auf die Füße. Während ich mir notdürftig den Staub von den Kleidern klopfe, erscheint plötzlich Jeans Kopf über der Abbruchkante. Schnaufend schwingt er sich auf den sicheren Boden und steht auf. Er haut sich vor die Brust und erklärt mit schiefem Grinsen „Jean!“
Diego, der sich ebenfalls wieder aufgerichtet hat, mustert Jean kritisch. „Du hast sie aus der Schlucht geholt?“
Jean nickt und sagt bekräftigend: „Jean!“
„Und, wo ist sie jetzt?“
„There! Là-bas!“ Jean winkt mit der Hand vage in die Richtung, in der die schmale Piste weiter führt, auf der wir gekommen sind.
„Also doch“, flüstert Diego und presst dabei die Lippen zusammen. „Ich weiß, wo er sie hingebracht hat Lana. Gib ihm irgendetwas und komm! Wir müssen hier schnellstens weg.“ Er geht zur Fahrerseite des Porsche, und bleibt wartend stehen.
Ich gehe ebenfalls zurück zum Wagen, greife willkürlich unter das Tuch des Picknickkorbs und erwische ein Stück Käse.
Jeans Augen blitzen auf, als er sieht, was ich in der Hand halte. Schnell kommt er zu mir gelaufen.
„Danke Jean, das hast du alles richtig gut gemacht. Das hier ist deine Belohnung!“ Mit diesen Worten reiche ich ihm den Käse.
Er lacht laut auf, drückt das Käsestück an seine fleckige Brust, streichelt es mit seinen dreckigen Händen und fängt an, lustvoll zu brummen.
Ich wische mir die Hände an den Shorts ab, drehe mich um, hole meinen Spiegel aus der Hosentasche und klappe ihn auf, um zu sehen, ob ich im Gesicht dreckig geworden bin. Mit einem Mal sehe ich ein halbes Gesicht hinter mir riesengroß im Vergrößerungsspiegel. Erschrocken schreie ich auf und fahre herum.
„Da, regardez!“ Jean hüpft aufgeregt auf und ab und zeigt mit begehrlichen Blicken auf meinen Klappspiegel.
„Nein Jean, das ist meiner, du hast deinen Käse!“
„Only regardez, not touchez“, murmelt er einschmeichelnd und kommt näher.
Seufzend hebe ich ihm den Spiegel entgegen, ohne ihn loszulassen.
Jean schaut vorsichtig hinein und fährt erschrocken zurück. Wieder schaut er hinein und fängt an, grunzend zu lachen.
„Lana, lass uns endlich fahren!“ Diego wird langsam ungeduldig, also klappe ich den Spiegel zusammen und stecke ihn ein.
„Non, non, non!“ schreit Jean ganz aufgeregt und rennt um den Wagen herum zu Diego.
„Stop! Stop! Show you! Regardez!“ Jean hüpft mit seinem Käse im Arm auf und ab und ist ganz atemlos.
„Was will er denn nun noch?“
„Stone magique! From Tauri. Tauri donnez moi“, stößt Jean beschwörend hervor.
„Ja klar, der Stier hat dir einen magischen Stein geschenkt!“ Diego ist genervt. „Oh Mann, so langsam reicht’s mir mit dem Kerl. Wir müssen los!“
Hektisch springt Jean zu ihm hin und fuchtelt wie wild mit der freien Hand in der Luft herum. „Non, non, non!“, kreischt er. „Stone, nugget, rouge, red, from Tauri, rouge! I show you! Regardez!“ Jean rennt los. Immer wieder schaut er sich zu uns um und ruft „Regardez! Regardez!“
„Warte Diego, ich glaube, der kann uns wirklich noch was zeigen.“
„Yes, yes, I’ll show you“, freut sich Jean. Er deutet auf eine Stelle im Gras und sagt „Tauri“. Mit der Hand deutet er an, wie der Tauri sich bewegt hat. dabei macht er mit vorgewölbten Lippen brummende Geräusche. Er geht hastig auf einen großen Felsbrocken zu und zeigt darauf. „Bang!“ ruft er, was wohl heißen soll, das der Tauri hier angestoßen ist. Er bückt sich und hebt einen imaginären Gegenstand auf. „Stone!“ erklärt er und hält das Nichts stolz hoch in die Luft.
„Und wo ist der Stone?“
„Lana!“ Diego stöhnt verzweifelt auf. „Weißt du was ich glaube? Der Kerl freut sich so über Gesellschaft, dass er alles Mögliche veranstalten würde, nur um uns hier festzuhalten!“
Möglich, dass Diego Recht hat, aber trotzdem. „Willst du mir den Stone zeigen Jean? Wo ist er denn?“
Jean nickt eifrig und rennt auch schon los. Langsam folge ich ihm.
„Lana!“ ruft Diego gequält hinter mir her. „Wir müssen weg!“
Jean winkt mir mit einer Hand, ihm zu folgen und rennt, oder besser hüpft in Richtung Waldrand. Dort nimmt er das Tuch von der Nektarine, wickelt diese zusammen mit dem Käse hinein und deponiert alles wieder auf dem flachen Stein. Dabei stößt er ein paar wütende Worte in Richtung der Ziegen aus und droht zum Schluss sogar noch mit dem Zeigefinger. Schließlich rennt er weiter bis zu einem Baumstumpf am Waldrand. Dort lässt er sich auf die Knie fallen und wühlt in einer Höhlung im Holz herum. Dabei stößt er lachende, schluchzende und grunzende Laute aus.
Ich bin ihm gefolgt und stehe nun in einigem Abstand hinter ihm. Was tut er da? Schließlich hat er wohl gefunden, was er gesucht hat, denn er presst etwas an seine Brust und schaut mich mit einem Mal mit misstrauischen Blicken listig an, wie ein Dieb, der etwas zu verbergen hat. Ich sehe, dass er mit der einen Hand etwas Rotes vor seine Brust drückt. Er schaut darauf hinunter. Immer wieder streicht er mit den Fingern der anderen Hand darüber und flüstert „Stone, tauri, stone, tauri.“
Schließlich wendet er sich mir zu und steht zögernd auf. Langsam kommt er auf mich zu. Dabei presst er das rote Etwas immer noch an seine Brust.
Ich kann nicht erkennen, was es ist, aber zumindest scheint es nichts Blutiges zu sein, wie ich zu meiner großen Erleichterung feststelle. „Jean, was ist das?“
„Stone, tauri“, flüstert er andächtig und schaut mich mit großen Augen an.
„Und den willst du mir geben?“
Jean schüttelt wild den Kopf. „Non, non, non!“
Langsam blicke ich nicht mehr durch, was will er denn dann?
Jeans Blick wandert immer wieder mit auffälligem Blinzeln zu meiner Hosentasche und ich beginne allmählich zu begreifen, dass er seinen wertvollen Schatz tauschen will – gegen meinen Taschenspiegel.
Ich habe keine Ahnung, was der Stein vom Stier sein soll, aber da dieser Stier etwas mit Felix’ Verschwinden zu tun hat, will ich ihn mir wenigstens mal ansehen.
„Zeig mir den Stein Jean“, sage ich und greife dabei in meine Hosentasche, wo der Taschenspiegel steckt. Jeans Augen blitzen auf und er kichert aufgeregt, während ich den Spiegel langsam aus der Tasche ziehe. Ich halte meinen Spiegel nun genauso vor der Brust verborgen, wie er seinen Stein, oder was auch immer das sein mag.
„Ich will erst sehen, ob das wirklich ein guter Stein ist, dann bekommst du auch meinen guten Spiegel.“
Hektisch schaut Jean auf mich, auf meine Hände und wieder in mein Gesicht.
„Zeig ihn mir Jean, only regardez, not touchez“, wiederhole ich seine Worte von vorhin.
Immer noch misstrauisch streckt Jean seine schmutzigen Hände vor, in denen etwas Rotes liegt. Ich kann nicht erkennen, was es ist und beuge mich ein wenig vor.
„Verdammt! Ein Stück von einem Rücklicht“ stößt Diego plötzlich atemlos neben mir aus. Ich schreie auf vor Schreck und springe dabei ein Stück zur Seite. Ich habe Diego überhaupt nicht kommen hören, so konzentriert war ich bei diesem Handel. Schnell zieht Jean den Stein wieder zurück und drückt ihn an seine Brust. Auch er scheint ganz verwirrt, dass Diego so plötzlich neben mir steht, denn er schaut ihn mit großen Augen an und beginnt zu wimmern.
„Sch, sch, ist doch gut Jean“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Diego tut dir doch nichts. Er wollte doch nur deinen schönen Stein sehen.“
„Non, non, non!“ Jean schüttelt den Kopf. Ganz verzweifelt springt er hin und her. Ich verstehe nicht, warum er mit einem Mal so aufgeregt ist.
Könnte der Splitter vielleicht ein Beweismittel sein? „Jean, ich gebe dir den Spiegel und du gibst mir den Stein, okay?“, versuche ich ruhig auf ihn einzureden.
Jean schaut an uns vorbei und horcht auf irgendwas. Er wird immer unruhiger. Schließlich hält er mir mit einer ruckartigen Bewegung seinen Stein entgegen. Ich nehme ihn und halte ihm meinen Taschenspiegel hin. Er reißt ihn mir aus der Hand, dreht sich um und verschwindet mit meinem Spiegel jammernd und klagend im Wald.
„Was ist denn mit dem los?“ Ratlos schaue ich Diego an, während ich die Rücklichtscherbe in meiner Hosentasche verstaue. Vielleicht ist der ja von dem Wagen, der Felix hierher gebracht hat. Diego blickt mit gerunzelter Stirn über seine Schulter zurück und murmelt „Lana, ich glaube wir haben ein Problem!“
Alarmiert fahre ich herum und sehe in die Richtung, in die auch Diego starrt.
Eine Meute von Menschen kommt auf uns zugestürmt. Sie sind bewaffnet mit Stöcken, Mistforken und Sensen. Zwischen ihnen rollt eine uralte Peugeot 403 Camionette mit offener Ladefläche. Der Wagen ist so alt, dass man seine Farbe nicht mehr bestimmen kann. Ist er grau oder blau, oder beides? Aber das ist eigentlich auch egal, denn die Fracht, die er befördert, ist noch weitaus erstaunlicher:
Hoch aufgerichtet steht ein großer, hagerer Mann in einer schwarzen wehenden Kutte breitbeinig auf der Ladefläche. Mit der rechten Hand streckt er einen großen Dreizack über seinen Kopf, während er sich mit der anderen Hand an dem Metallgestänge fest hält. Quer über dem unteren Teil des Dreizacks ist eine schmale Latte befestigt, und so sieht das Ganze aus wie ein groteskes Kreuz.
Die weißgrauen langen Haare des Mannes wehen im Fahrtwind. Zwischen seinen fahlen, rot gefleckten knochigen Wangen sitzt eine schmale Hakennase. Seine Augen sind weit aufgerissen. Die schmalen Lippen hat er in einer fratzenhaften Grimasse von Hass und Wut über seine langen Zähne zurückgezogen. Trotzdem bewegen sich diese Lippen pausenlos und scheinen irgendwelche Verwünschungen oder Beschwörungsformeln auszustoßen.
Rechts und links vom Wagen rennt die johlende Menge und schwingt ihre Waffen. Ich sehe alte Weiber in schwarzen Gewändern, die keifend und zeternd ihre zahnlosen Münder aufreißen. Daneben junge Frauen und sogar Kinder. Allen voran stürmen Männer unterschiedlichen Alters mit flatternden breitkrempigen Hüten in Latzhosen und karierten Hemden auf uns zu.
„Diego.“ Unsicher rücke ich dicht an ihn heran, „Was sind das für Leute?“
Diego neben mir ist ganz blass geworden und starrt gebannt auf den Mann auf der Ladefläche. „Der Inquisitor“ knurrt er nur und setzt hinzu: „Keine Zeit für Erklärungen, Lana. Wir sollten schleunigst machen, dass wir hier weg kommen!“ Er packt meine Hand und zieht mich zum Porsche. Ungefähr fünfzig Meter trennen uns von dem rettenden Wagen. Er zieht mich so plötzlich in Richtung des Autos, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. Stolpernd schließe ich zu ihm auf. Schnell steigen wir in den Wagen.
Die Menge kommt immer näher. Schon stoppt der Peugeot, der Fahrer springt aus dem Auto und klappt die Seitenwand herunter. Der Inquisitor springt von der Ladefläche.
Diego startet eilig den Wagen. Kaum springt der Motor an, da hat uns die wütende Menge auch schon eingeschlossen. Laut schreiend schwingen sie ihre Waffen. Sie schlagen nach uns und auch die vordere Haube des Wagens wird von einigen kräftigen Hieben getroffen.
Klirrend kracht eine Sense direkt vor mir auf die Windschutzscheibe. Ich ducke mich und brülle verzweifelt „Diego, tu doch was!“
„Zu spät!“ Diego sieht starr geradeaus und beobachtet den Inquisitor. „Nun kommt Plan B, vertrau mir einfach.“
Na toll, wir sind umringt von einer mordlustigen Menge. Die wenigsten von diesen Typen wirken normal und ich soll Diego vertrauen? Und Plan B klingt auch nicht gerade vielversprechend.
Einige der Männer stoßen mit zornigen Gesichtern ihre Mistforken in die Reifen des Wagens. Ein Zischen ist zwischen ihrem Gebrüll zu hören und ich spüre, wie der Porsche sich auf die Felgen senkt. Mist!
Das Geschrei um uns herum ist ohrenbetäubend. Ich verstehe nicht, was sie rufen. Es scheint ein Sprachgemisch zu sein. Neben französischen Worten, erkenne ich auch spanische, italienische und englische Wortfetzen. Genau wie bei Jean. Was wollen die von uns?
Wir können nur hilflos zuschauen, wie die wütende Meute auf den Wagen einhackt. Ich habe solche Angst, dass mich eine ihrer schwingenden Sensen trifft, das ich die Hände schützend über meinen Kopf halte. So ausgeliefert habe ich mich noch nie gefühlt. Alle wüten und schreien über uns herum, während wir tief unter ihnen in dem flachen, offenen Sportwagen gefangen sind. Die Menge ist erdrückend. Vor lauter wütenden Gesichtern ist kaum noch der Himmel zu sehen und das Gekreische aus den hassverzerrten Mündern lässt mich erzittern.
Mit einem Mal wird es still. Vorsichtig wage ich einen Blick und sehe, wie die Leute dem Inquisitor Platz machen. In der entstandenen Gasse schreitet der Anführer der Gruppe würdevoll mit erhobenem Dreizackkreuz auf unseren Wagen zu, während die Menge hinter ihm aufschließt. Ihre grimmigen Blicke lassen keinen Zweifel daran, dass sie jederzeit wieder zuschlagen werden, sollte es notwendig sein, ihren Anführer zu verteidigen.
Der Inquisitor baut sich vor dem Porsche auf. Seine Augen strahlen in einem intensiven Stahlgrau. „Darksider!“, stößt er mit zischender Stimme hervor.
Ein Murmeln geht durch die Menge, dann ist es wieder still.
Diego sitzt ganz ruhig da und hat zwei Finger der rechten Hand an seine Stirn gelegt. Seine Augen sind geschlossen und er wirkt völlig abwesend. Na klasse, die werden gleich wieder auf uns einprügeln und er nimmt sich mal kurz ´ne Auszeit.
Auf einem Ast über uns beginnt ein Vogel zu zwitschern und fliegt plötzlich eilig davon. Auch das zeternde Geschrei der Zikaden erstirbt. Nun hört man nur noch den Wind, der in den Bäumen hinter uns rauscht.
„Warum hast du sie hergebracht, diese Frau?“ Hasserfüllt sieht der Inquisitor Diego an und seine Augen verengen sich zu Schlitzen.
„Welche Frau?“ Diego öffnet die Augen, schaut gespielt erstaunt und wendet sich mir zu „Diese hier? Wir machen einen Ausflug. Ist das verboten?“
„Du weißt genau, welche ich meine. Die Alte, die, die ihr ausgesaugt habt! Warum bringt ihr sie hierher?“
„Tut mir Leid, ich weiß nicht, wovon du redest. Ich hab mit meiner Freundin einen Ausflug in die Berge gemacht, mehr nicht!“
„Du lügst!“ zischt der Inquisitor und geht einen Schritt auf den Porsche zu. Die Menge folgt ihm raunend und hält uns drohend ihre Waffen entgegen.
„Wo ist hier eine alte Frau, die ich hierhergebracht hätte, ich sehe keine.“ Diego schaut sich dabei suchend um.
„Du weißt ganz genau, wen ich meine. Die, die alt geworden ist durch eure Schuld! Die wir gerettet und nach Mons gebracht haben“, zischt der Inquisitor und reckt sein Kinn angriffslustig in unsere Richtung.
„Ach ja?“ Diego wirft mir einen kurzen Blick zu. Mons! Unser nächstes Ziel, vermute ich. Die Frage ist nur, wie wir hier wegkommen sollen, mit zerstochenen Reifen. Ich spüre, wie mir der Schweiß aus allen Poren bricht, während Diego neben mir ganz gelassen seinen Smalltalk mit diesem verrückten Priester, oder was auch immer er darstellt, fortsetzt.
„Und was sollte ich deiner Meinung nach mit dieser Sache zu tun haben?“
„Darksider“, presst der Inquisitor zwischen seinen schmalen Lippen hervor. „Ich kenne euch. Ich erkenne euch auf tausend Schritte. Ich weiß was hier passiert ist. Darksider! Weiche! Verlasse unser Territorium! Verlasse unseren geheiligten Boden! Weiche!“, ruft er mit tiefer drohender Stimme. Speicheltröpfchen fliegen ihm von den Lippen. Er schwingt seinen Dreizack in unsere Richtung und wirkt dabei wie ein geifernder, bösartiger Racheengel. Seine grauen Augen durchbohren uns mit hasserfüllten wilden Blicken. Er macht mir Angst.
Unsicher schaue ich zu Diego hinüber und glaube nicht, was ich sehe: Diego lächelt! Er lächelt das süßeste Diegolächeln und sagt ganz ruhig mit einschmeichelnder samtiger Stimme: „Ja, ich würde ja gerne weichen, aber deine Leute haben mir gerade die Reifen zerstochen.“
Hat der ’nen Knall? Schnell sehe ich zurück zum Inquisitor. Der blinzelt etwas verwirrt. Seine Leute schauen ihn stumm an und manch einer senkt schuldbewusst seine Mistforke.
Bevor der Inquisitor etwas sagen kann, steigt Diego aus dem Wagen und gibt mir mit der Hand ein Zeichen, es ihm gleich zu tun. Schnell steige auch ich aus und folge ihm. Egal was er vorhat, alles ist besser, als hier vor dieser wütenden Meute herumzusitzen und auf den nächsten Angriff zu warten.
„Weißt du was, ich habe eine Idee, bestimmt hast du nichts dagegen“, redet Diego weiter in diesem merkwürdigen, samtigen Tonfall, während er meine Hand schnappt und auf den alten Peugeot zusteuert. „Wir leihen uns erstmal dein Auto, dann können wir weg und alle sind glücklich. Ist doch ein guter Plan oder?“
„Ja?“ Der Inquisitor wendet sich um und schaut unsicher hinter uns her. Der Dreizack sinkt langsam dem Boden zu. Sein eben noch so hasserfülltes Gesicht ist jetzt zu einer ratlosen Fratze geworden.
Zu meiner Verblüffung sehen uns alle nur erstaunt und wie erstarrt an, während wir in die Camionette steigen. Diego startet den Wagen. Holpernd und schaukelnd fahren wir an der Menge vorbei, die uns mit ungläubigen Augen und offenen Mündern hinterher schaut.
Kaum sind wir in den Wald eingetaucht, da ertönt plötzlich ein wütender Schrei aus vielen Kehlen. Ich sehe, wie die Menge mit erhobenen Sensen und Forken hinter uns herstürmt, allen voran der Inquisitor mit wehenden Haaren und seinem merkwürdigen Dreizack. Diego haut krachend den nächsten Gang rein und wir schaukeln davon. Von unseren Verfolgern ist bald nichts mehr zu sehen.
Ich wende mich dem offenen Fenster zu und atme tief ein, denn im Innenraum riecht es wie in einer Käserei. „Sag mal, was war das denn eben?“, will ich von Diego wissen.
Diego grinst, während er scheppernd in den dritten Gang schaltet. „Was denn?“
„Komm, verarsch mich nicht. Du weißt genau, was ich meine“, beharre ich. „Wie hast du die Leute dazu gebracht, nichts zu unternehmen, während wir in aller Seelenruhe ihren Wagen klauen?“
„Also erstmal meine Liebe, wir haben diesen Wagen nicht geklaut, sondern nur geliehen, das habe ich ganz deutlich gesagt, und zweitens war ich ganz schön aufgeregt, ob mein Plan auch klappen würde. Schließlich hatte ich es noch nie mit so einer großen Menge von Leuten und ihren mächtigen Gefühlen zu tun.“
„Hä?“ Mal abgesehen davon, dass mir sein schulmeisterlicher Tonfall ganz schön auf die Nerven geht, verstehe ich überhaupt nichts mehr.
„Lana, lass mich erst Mal verschnaufen, das eben hat mich ganz schön angestrengt“, erwidert Diego und fasst kurz nach meiner Hand, so als ob er mir zeigen wolle, dass alles in Ordnung ist.
Okay, ich verstehe zwar immer noch nicht, was da eben passiert ist, aber wenn er meint verschnaufen zu müssen, dann soll er. Trotzdem will ich es wissen und ich werde ihn später danach fragen, nehme ich mir fest vor. „Sie werden uns verfolgen!“
„Wie denn, zu Fuß?“ Diego klingt spöttisch, während er mit einer Hand nach seinem Handy angelt und eine Nummer wählt. In aller Seelenruhe erzählt er jemandem von seinem Autoclub, wo sein Problem liegt und beendet das Gespräch.
Wenig später klingelt sein Handy und er erklärt dem Mann von der Werkstatt, wo sich sein Wagen befindet, was damit passiert ist und wie sie ihn erreichen können, wenn der Wagen fertig ist. So ganz nebenbei erfahre ich jetzt endlich, dass er im La Bastide direkt gegenüber vom Neptune wohnt. Zum Schluss bestellt er noch einen Leihwagen nach Mons, gibt seine Kreditkartennummer durch und beendet das Gespräch.
Ich beobachte Diego von der Seite und wieder einmal, wie schon so oft in letzter Zeit frage mich, wer da eigentlich neben mir sitzt. Darksider, so hat ihn der Inquisitor genannt. Was bedeutet das? Warum gibt es in dieser Einöde in den Bergen von Mons überhaupt so jemanden, der einen kreuzartigen Dreizack schwingt, sich Inquisitor nennt und ganz augenscheinlich Darksider hasst? Und diese Leute um ihn herum, die waren doch auch nicht ganz normal. Wer waren die überhaupt und warum sprachen die nicht französisch, sondern irgend so einen Mischmasch? Und dann sagte dieser verrückte Priester auch noch was von ausgesaugt. Was zum Teufel bedeutet das alles? Ich beobachte Diego von der Seite. Konzentriert lenkt der den alten Wagen über die kurvenreiche Straße.
Ich hole den Stein von Jean aus der Hosentasche und betrachte ihn. Rotes Plastik, klar wie Fensterglas. Tatsächlich, es scheint ein Teil vom Rücklicht eines Autos zu sein. Was hat das alles nur zu bedeuten? Wieder schaue ich Diego an. Er bemerkt meinen Blick und ruft mir gegen den Motorenlärm des alten Peugeot zu: „Später Lana, später!“
„Was für ein verrücktes Pack!“, stelle ich fest und versuche es mir trotz des Gestanks auf dem völlig durchgesessenen, klebrigen Polster einigermaßen bequem zu machen.
„Du irrst dich“, kommt es da von Diego zurück. „Die sind weit weniger durchgeknallt, als du denkst.“