Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 31
Оглавление27 DER HIRTE
Je länger die Fahrt dauert, um so stiller und nachdenklicher werde ich. Was wird uns erwarten? Was oder wen werden wir finden?
Auch Diego ist schweigsam. Mit einem Mal zeigt er nach vorne. „Da ist Mons.“
Der kleine Ort zieht sich festungsgleich auf der langgestreckten Kuppe eines Bergrückens entlang. Der helle Sandstein der alten Bruchsteinhäuser mit den roten Ziegeldächern leuchtet im warmen Licht der Sonne. Eine hohe Mauer stützt den Ort zur Bergseite hin ab. Ein kleiner Kirchturm vervollständigt das mittelalterliche Bild, das dieses Örtchen bietet. Mons! Mit einem Mal beschleunigt sich mein Puls. Ich richte mich etwas auf und recke den Hals, um besser sehen zu können.
Plötzlich biegt Diego kurz vor Mons auf eine schmale Seitenstraße ab, die in weitem Bogen in die Berge zu führen scheint.
„He, wohin fährst du? Wir wollen doch nach Mons!“ protestiere ich.
„Dort werden wir nichts herausfinden, ich weiß was Besseres.“
Verbissen presst Diego diese Worte zwischen den Lippen hervor.
„Aber dort ist Fel..., also die alte Frau doch gefunden worden!“ widerspreche ich ganz irritiert. Was hat er bloß vor?
„Nein Lana! Ich habe mit den Leuten vom Sender gesprochen. Das war hier in den Bergen.“
Erstaunt schaue ich Diego an. Wieder einmal werde ich das Gefühl nicht los, dass er mehr weiß, als er mir sagt. Auch Diegos Zielstrebigkeit macht mich stutzig. Es wirkt auf mich, als wisse er genau, wo wir mit der Suche beginnen müssen.
Ich lehne mich wieder zurück und beobachte ihn von der Seite. Wie ein Kampfstier, kommt es mir plötzlich in den Sinn. Diese Wut, dieser blanke Hass, der sich in seinem Gesicht widerspiegelt. Die Art wie er den Schalthebel betätigt und aufs Gaspedal tritt, da ist nichts mehr von dem sanften Dahingleiten von vorhin.
Nach dem zärtlichen, liebevollen Diego habe ich gestern den verzweifelten Diego kennengelernt. Und jetzt habe ich einen hasserfüllten Diego neben mir, und der macht mir Angst.
Wir holpern über eine alte Steinbrücke, die einen kleinen Bachlauf überspannt und ich halte mich erschrocken am Scheibenrahmen fest. Die schmale Straße führt in die Berge hoch. Wir fahren am Rand einer dunklen Schlucht entlang. Diesmal ist der Abhang rechts von uns und ich fühle mich bei der intimen Nähe zu dieser Tiefe nicht besonders wohl. Vor allem in den Kurven macht mein Magen einen Hopser nach dem anderen.
Ich schaue zu Diego hinüber. Er starrt konzentriert auf den Weg, der hier schon sehr uneben ist. Nicht gerade ideal für so einen flach auf der Straße liegenden Sportwagen. Nach einer weiteren Linkskurve verlassen wir endlich die Schlucht und rollen langsam über ein steiniges Hochplateau bis zu einem Wäldchen.
Es riecht nach Harz und feuchter Erde. Kurze Zeit später weichen die Bäume etwas zurück. Vor uns erstreckt sich ein Stück mageres Weideland, auf dem ein paar Ziegen grasen. Diego stoppt den Wagen. Der Boden ist hier so steinig und der Weg so zerklüftet, dass der Porsche die Weiterfahrt nicht schaffen würde. Neben der Piste ist nur noch nackter Fels mit ein paar Grasinseln hier und dort.
Diego dreht sich zu mir um. „Wenn du noch was erledigen willst, bevor wir losgehen, dann wäre jetzt die Gelegenheit dazu. Ich bräuchte auch mal gerade drei Minuten für mich.“
„Warum denn?“ Ich muss wohl irgendwie ziemlich geistlos gucken, denn er lacht mit einem Mal laut auf.
„Ich meine, wenn du mal musst, dann mach es besser jetzt, später hast du vielleicht keine Möglichkeit mehr dazu", erklärt er immer noch grinsend. „Büsche sind selten hier oben.“
„Ha, ha, sehr witzig!“ ist alles, was ich darauf erwidern kann und steige aus. Mann, bin ich heute wieder geistreich und schlagfertig! Aber ich muss tatsächlich mal, also bahne ich mir einen Weg durch das Unterholz des Wäldchens und suche ein lauschiges Plätzchen. Kaum habe ich meine Shorts wieder hochgezogen, als ich zwischen den Bäumen einen Schatten huschen sehe. Erschrocken verberge ich mich hinter dem nächsten Baumstamm und ziehe schnell den Reißverschluss hoch. Mein Herz pocht bis zum Hals. Wer war das, oder besser was war das?
Ich denke an Wilderer und Wildschweine und alles, was sonst noch so mit dem Wort ‚wild‘ in Verbindung gebracht werden könnte. Papa würde jetzt sicher sagen, dass ich das meiner wilden Phantasie verdanke. Das kann mich im Moment aber auch nicht beruhigen.
Eine Weile verharre ich noch hinter dem Baum und lausche in die grüne Dunkelheit, die mich umgibt. Warum bin ich auch so weit in den Wald hineingegangen? Wie albern! Ich hätte mir doch auch am Waldrand einen Platz suchen können. Diego würde ja wohl kaum ein Fernglas auspacken, um mich zu beobachten.
Alles ist still. Schnell suche ich den Weg zurück und komme mehr oder weniger panisch aus dem Wald geschossen, als ich hinter mir mit einem Mal ein lautes Knacken höre.
Diego kommt mir entgegen und ich renne ihn fast um. „Mensch Lana, wie lange brauchst du denn für so was? Ich hab mir schon ...“ Erstaunt schaut er mich an, während ich mich keuchend umdrehe und ängstlich den Waldrand beobachte. „Was ist los?“
„Da war was, oder wer“, ich keuche immer noch atemlos. „Da hat sich was bewegt zwischen den Bäumen, ich hab‘s genau gesehen.“
„Was genau hast du gesehen?“ Diego sieht mir besorgt ins Gesicht und schaut dann ebenfalls misstrauisch zum Waldrand hinüber.
„Ich weiß nicht, eine Gestalt, ein Huschen, eine Bewegung eben.“
„Komm“, Diego nimmt meine Hand und zieht mich langsam zum Auto zurück, während er weiterhin den Waldrand beobachtet. „Hier oben gibt es ein paar streitlustige Leute. Besser, wir verkrümeln uns erst mal.“
Na, das beruhigt mich jetzt aber sehr. Schön, dass ich das nun auch schon erfahre.
Gerade haben wir den Wagen erreicht, als Sprachfetzen aus dem Gebüsch dringen. Ein gutes Stück von uns entfernt tritt ein Mann in fleckigen, zerrissenen Jeans auf die Lichtung. Noch hat er uns nicht bemerkt. Laut auf sie einredend schleppt er eine meckernde Ziege auf den Armen. Die Ziege zappelt und ist mit dieser Behandlung ganz offensichtlich nicht einverstanden. Er redet weiter auf sie ein in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Einige französische Laute mischen sich mit spanischen, italienischen und auch mit englischen Wortfetzen. Endlich setzt er die Ziege ins Gras zurück und gibt ihr mit seinem nackten Fuß einen Tritt in Richtung der Herde. Dabei gestikuliert er wild und schreit mit tiefer rauer Stimme: „Go ahead! Là-bas!“
Die Ziege trottet los und er knurrt ihr noch ein paar wütend ausgestoßene Verwünschungen hinterher, während er das Kinn immer wieder in ihre Richtung reckt und drohende Gebärden macht.
Plötzlich lacht er laut auf und dreht sich dabei zu uns um. Erschrocken erstarrt er mitten in der Bewegung, duckt sich und dreht sich halb von uns weg. Seine dunklen Augen wandern hektisch zwischen uns, dem Waldrand und den Ziegen hin und her und er weiß ganz offensichtlich nicht, was er tun soll.
„Da haben wir wohl den Dorfdeppen gefunden“, meint Diego leise.
Stimmt! Nach dem ersten Schrecken wird mir bei diesem Anblick klar, dass da jemand vor uns steht, der nicht mit sehr viel Verstand gesegnet ist. „Keine Angst“, rufe ich und winke ihm lächelnd zu.
Vorsichtig richtet er sich auf. Sein Mund steht offen und er schaut mich erstaunt mit großen Augen an. Schließlich hebt er zögernd eine Hand bis in Brusthöhe und winkt leicht. Man hat ihm wohl beigebracht, zurück zu grüßen, wenn er gegrüßt wird. Um so besser. Wenn er sich so was merken kann, weiß er vielleicht auch noch andere Sachen. Langsam gehe ich auf ihn zu.
„Lass den“, Diego hält mich fest, „Das ist doch bloß ein Idiot. Siehst du das nicht?“
Ich mache mich von Diego los, gehe um den Wagen herum und nehme eine Nektarine aus unserem Picknick-Korb. Wie ich vermutet habe, ruckt der Kopf des Hirten zu der Nektarine herum. „Schau mal Diego! Der weiß, was gut schmeckt.“
„Was hast du vor? Willst du ihn dressieren? Komm lass uns gehen, du verschwendest nur deine Zeit“, brummt Diego ärgerlich hinter mir.
„Jetzt lass mich doch!“ Ich bewege die Nektarine vor mir hin und her, während ich mich näher an den Mann heranpirsche. Wie erwartet folgt er der Bewegung meiner Hand mit gierigen Blicken, während er unruhig mit den Füßen trampelt. Fast so wie Dusty gestern Nachmittag am Strand.
„Willst du die haben?“ frage ich, als ich nahe genug bei ihm bin. Uns trennen ungefähr noch zwei Meter, aber da ich merke, dass er nervös wird, lege ich die Frucht vorsichtig ins Gras und ziehe mich etwas zurück. Erstaunt schaut der Hirte auf die Nektarine im Gras und dann auf mich. Dabei stößt er brummende Laute aus.
„Nimm sie dir, die ist für dich“, sage ich mit freundlichem Ton.
Misstrauisch nähert er sich mit tapsenden Schritten der Frucht, wobei er mich nicht aus den Augen lässt. Je näher er mir kommt, um so mehr duckt er sich und geht schließlich seitlich in gebückter Haltung mit vor dem Gesicht erhobenen Händen. Wild schüttelt er dabei den Kopf, während er versucht, gleichzeitig mich und die Nektarine im Auge zu behalten. „Ne pas touchez Madame, only das!“ Mit einem zitternden Finger deutet er auf die Nektarine im Gras und hebt die Hand dann schnell wieder vor sein Gesicht.
Schon klar: Er will nicht mich anfassen, sondern sich nur die Frucht schnappen. Aber warum betont er das so?
„Ich bin Lana“, sage ich und deute dabei auf meine Brust. Der Mann starrt mich an. Langsam richtet er sich auf und schaut auf seine ausgebreiteten Hände, die er schließlich dicht vor seine Augen hält. Ratlos schaut er dazwischen hin und her. Mit einem Finger beginnt er, auf den anderen herumzutippen, während er leise murmelt. Was tut er da? Nach einer ganzen Weile schaut er wieder mit offenem Mund auf mich und schüttelt energisch den Kopf.
„Wie ist dein Name?“ Ich deute mit der Hand in seine Richtung. Erschrocken duckt er sich und weicht mit einem wimmernden Laut etwas zurück.
„Nein, nein. Lana tut dir nichts. Lana schenkt dir diese Frucht. Schau, die ist für dich.“ Bei diesen Worten deute ich auf die Nektarine im Gras. „Wie ist dein Name, wie heißt du?“
Hinter mir höre ich Diego etwas von „Ich Tarzan du Jane“ murmeln. Ich ignoriere das.
Geduldig wiederhole ich meine Geste und meinen Namen und frage abermals „Wie ist dein Name?“ Wieder deute ich auf ihn und plötzlich merke ich, wie es in seinen trüben Augen aufblitzt. „Jean“ stößt er heißer hervor, haut sich dabei auf die Brust und stößt ein kehliges Lachen aus. „Jean!“ Stolz schaut er mich an und nickt.
„Dein Name ist Jean? Ein schöner Name“, lobe ich ihn und zeige wieder auf die Frucht im Gras. „Die ist für Jean!“
Er schaut auf die Nektarine, hebt langsam den Kopf und sieht mich an. „L-a-n-a“, bringt er stockend hervor und zeigt auf mich. Sein Finger wandert zu der Nektarine und von dort weiter zu sich „Jean?“
„Ja, genau! Lana schenkt sie Jean.“
Jean stößt ein unsicheres Lachen aus, schießt plötzlich vor, schnappt sich die Frucht und weicht dann in sichere Entfernung zurück. Dabei hält er die Nektarine schützend vor das bräunlich verfleckte ehemals gelbe T-Shirt. Vorsichtig geht er ein paar Schritte rückwärts, ohne uns aus den Augen zu lassen. Sorgsam legt er die Frucht auf einen Stein am Waldrand, zieht ein Tuch aus seiner Hosentasche und deckt es behutsam darüber. Dabei beobachtet er unter seinen wulstigen Augenbrauen hervor nervös und feindselig einen Ziegenbock, der in einiger Entfernung grast.
Ich wende mich zu Diego um, der am Wagen steht und uns mit ziemlich genervtem Gesichtsausdruck beobachtet. „Siehst du, er hat verstanden.“
„Na toll! Ist ja schön, aber was soll das bringen? Wenn das Gespräch zwischen euch in diesem Tempo weiter geht, baue ich in der Zwischenzeit am Besten schon mal einen Unterstand. Dann können wir hier nämlich übernachten, bis du etwas über die alte Frau erfahren hast.“
„Frau?“ kommt es plötzlich fragend und unsicher von Jean. Mein Kopf schnellt herum. Jean steht da und schaut uns mit weit aufgerissenen Augen aufgeregt an. „Frau?“ wiederholt er, „Old?“ fügt er noch hinzu und wird immer unruhiger.
„Ja eine alte Frau, old, wir suchen sie.“
Jean schüttelt den Kopf. „No, no, Jean Ziege!“ stößt er hervor und klopft sich dabei auf die Brust.
„Jean hat eine Ziege gesucht?“ vermute ich.
Wild nickt er. „Ziege Frau, this Angst, läuft läuft läuft!“ Verzweifelt ringt er die Hände, während seine Stimme immer höher wird. „Nicht sehen! Da, da, da!“ Hektisch zeigt er mit dem Finger zu einer Stelle am Rand der Wiese. Plötzlich duckt er sich und sein Gesicht bekommt einen lauernden Ausdruck. Die Augen verengen sich zu Schlitzen und er zieht die Lippen von den Zähnen. „Hommes mal, mal!“ knurrt er.
„Da waren böse Männer?“ frage ich nach.
Jean nickt. „Frau peur!“ Gequält stößt er diese Worte hervor und verzieht dabei schmerzerfüllt das Gesicht „Peur hommes!“
„Die Frau hatte Angst vor den bösen Männern und ist weggelaufen?“ fragt Diego plötzlich hinter mir. Jean sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Statt einer Antwort stürmt er zu der Stelle, auf die er eben gedeutet hat, bleibt dort stehen und zeigt mit wilden Gesten in die Schlucht, die hier an die Lichtung stößt. „Da, da, da, weg!“ stößt er in höchster Verzweiflung aus, „weg!“
„Die Frau ist in die Schlucht gestürzt?“ Ich schlage mir die Hand vor den Mund und schaue Jean mit kaltem Entsetzen an. Der schüttelt den Kopf und wiederholt „Weg! Weg!“
„Du hast sie nicht mehr gesehen?“ vermutet Diego.
Jean nickt. Dann duckt er sich plötzlich wieder und fletscht die Zähne. „Hommes mal“, knurrt er, steht wieder auf und hebt mit großen Augen die Schultern „Riez, riez!“
„Die bösen Männer haben gelacht?“ Diego und ich sehen uns an. Zeit, diese Sache zu verstehen, haben wir allerdings nicht, denn Jean fährt schon fort. „Hommes“ knurrt er „Tauri! Big Tauri! Weg!“ Er zuckt mit den Schultern und schaut uns erwartungsvoll an. Er ist wohl mit seiner Geschichte fertig.
„Hä? Tauri? Stier? Was soll das denn jetzt? Die waren mit einem großen Stier unterwegs?“ Ich schaue Diego an, der meinem Blick allerdings ausweicht.
„Warte mal Jean, wo war denn nun die alte Frau?“
„Ah“, Jean klatscht sich vor die Stirn und lacht. Wieder deutet er in die Schlucht.
„Frau, Madame, compris?“
„Ja.“
„Falls down ici, Compris?“
„Ja. Die Frau ist hier runtergefallen.“
„Non, non! Je vous show you!“ Jean schüttelt den Kopf und geht ein paar Schritte weit von der Abbruchkante zurück.
Ich wende mich Diego zu. „Er will uns was zeigen? Was denn wohl?“
„Keine Ahnung, aber lass ihn mal.“
Jean stoppt ungefähr zehn Meter von der Schlucht entfernt und schaut uns aufmerksam an. „Je, Madame“, sagt er und deutet dabei auf seine Brust.
„Ja, du bist die Frau“, bestätige ich.
Er deutet auf zwei Stellen, nicht weit von ihm. „Deux hommes!“
„Da standen die zwei Männer, ist klar.“
„Tauri!“ Er zeigt auf eine Stelle, die noch weiter von der Schlucht entfernt ist, etwa zwanzig Meter hinter der Stelle, wo die Männer gestanden haben.
„Tauri? Was meint er bloß damit?“, frage ich Diego.
Noch bevor er antworten kann, rennt Jean plötzlich los und stürmt in vollem Lauf auf den Rand der Schlucht zu. Seine Beine stampfen in schnellem Takt auf den Boden und seine Arme rudern wild in der Luft herum.
„Jean, nein!“, rufe ich ihm zu. Er ist drauf und dran, sich in die Schlucht zu stürzen, nur um mir zu zeigen, was passiert ist. Ich springe vor, will ihn aufhalten, aber er weicht mit einem wilden Auflachen aus und ist an mir vorbei, bevor ich ihn greifen kann.
Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass er es schaffen könnte, seinen schweren, plumpen Körper so präzise abzufangen, dass er genau an der Abbruchkante zum Stehen kommt, aber er schafft es. Mehr als das: Er macht mit den Händen weit ausholende Bewegungen, wippt auf den Zehenspitzen und tut so, als würde er das Gleichgewicht verlieren.
„Ja, ja! Ich hab’s begriffen“, rufe ich laut. „Die Frau ist vor den Männern weggelaufen und in die Schlucht gefallen.“
„Oui!“ Jean hört auf, so zu tun, als würde er gleich abstürzen und weicht von der Kante zurück. Ein Stein löst sich unter seinen nackten Füßen und fällt mit lautem Gepolter herab. Ich horche ihm hinterher. Es dauert lange, bis der Nachhall des Aufschlags verklingt.
„Madame“, sagt Jean nochmals und zeigt in die Schlucht. „Tout dangereux, but ...“
„Sehr gefährlich, aber was?“ Zunächst bin ich heilfroh, dass Jean nicht mehr an der Abbruchkante herumturnt, wie ein Selbstmörder, aber was ich mit meinen Worten auslöse, ist noch viel schlimmer: Plötzlich geht er wieder mit zwei schnellen Schritten vorwärts und schwingt sich über die Kante.
Merde! Ich hätte es wissen müssen! Jetzt bringt er sich wirklich um! Warum habe ich ihn bloß gefragt? Ich habe doch gewusst, dass er nicht viel Verstand hat. Ich bin wie gelähmt. Außerdem habe ich Angst vor der Tiefe. Ich kann nicht näher an die Kante herangehen. Ich kann es einfach nicht, und vor allem will ich nicht Jeans zerschmetterten Körper irgendwo tief unter mir entdecken. Ich würde umkippen, und zwar direkt in die Schlucht hinein.
„Lana, Lana, ici Madame!“ höre ich Jeans Stimme.
Ein Glück, er lebt! „Wo ist er, was treibt er da?“ hilflos schaue ich Diego an.
Der zuckt mit den Schultern. „Ich guck mal nach.“ Diego geht zum Rand der Schlucht.
„Bist du wahnsinnig? Bleib da weg!“
Diego schaut sich zu mir um. „Was geht denn mit dir ab? Ich will doch nur gucken, wo Jean ist.“ Er stellt sich am Rand der Schlucht auch noch auf die Zehenspitzen, beugt sich weit vor und schaut hinunter.
Allein von dem Anblick wird mir total schlecht. „Diego, pass auf!“ rufe ich.
„Was denn?“ er dreht sich um und grinst mich an. Plötzlich bricht unter seinem rechten Fuß ein Felsbrocken weg und er rutscht seitlich ab.
„Diego!“ schreie ich.
Er springt hastig zurück und wird etwas blass im Gesicht. „Oh Mist, hoffentlich hat ihn der Stein nicht erwischt. Der steht da unten auf einem Sims.“
Das will ich sehen. Vorsichtig mache ich einen Schritt nach vorne, lasse mich auf Hände und Knie nieder und robbe schließlich den letzten Meter auf dem Bauch. Die Tiefe tut sich vor mir auf und greift nach mir wie ein Sog, aber ich gebe nicht auf.
„Lana, Lana“, kommt es von unten. Es hört sich ungeduldig an.
Okay, ich komme. Vorsichtig schiebe ich mich noch weiter vor, bis Kopf und Schultern über dem Abgrund hängen. Jean steht ein paar Meter unter mir auf einem schmalen Felsvorsprung. Er winkt mir zu und macht vor lauter Freude mich zu sehen, ein paar wilde Hopser.
„Je Jean, et là-bas: Madame. Je ...“ Er deutet auf sich und auf eine Stelle über ihm. „Là-bas, là-bas Madame en haut!“
„Du hast die Frau nach oben geschoben?“ Meine Finger krallen sich in die Felskante, mir ist so schlecht, wie noch nie in meinem Leben. Ich halte diese Tiefe unter mir einfach nicht aus.
„Ne pas poussez!“ Jeans unter mir schüttelt wild den Kopf, haut sich auf die Finger, schaut sie mit wilden Blicken an, schüttelt noch mal den Kopf und schreit fast schon hysterisch: Ne pas poussez, ne pas poussez, I don’t touch the nalgitas. Non, non, non, non non!“ Wieder schüttelt er energisch den Kopf.
„Na, da hat aber einer ein schlechtes Gewissen“, sagt Diego, der neben mir an der Kante kniet und sich mit abgestützten Händen ebenfalls über die Schlucht beugt.
„Wieso? Was meint er denn? Was hat er nicht angefasst?“ Ich hänge immer noch mit dem Kopf über der Schlucht und kann Diego aus dieser Position heraus unmöglich ansehen, aber ich höre es an seiner Stimme, wie er grinst.
„Na die Nalgitas. Ihre Pobacken hat er nicht angefasst.“
Jean fängt mit einem Mal an, nach oben zu klettern. Dabei schaut er immer wieder zu mir hoch und macht Bewegungen mit einer Hand, so als würde er etwas Schweres über sich schieben. „Poussez! Lana, poussez, but dont touch, non non non!“
Mir wird ganz schlecht, wenn ich sehe, wie er da mit nur einer Hand im Felsen hängt und mit der anderen die wildesten Gesten macht. Plötzlich löst sich der Brocken, an den sich seine Hand klammert. „Paß auf!“ will ich rufen, aber der Felsbrocken stürzt schon in die Tiefe.