Читать книгу Gesamtausgabe der "silent sea"-Trilogie - Christiane Weller / Michael Stuhr - Страница 25

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21 DIE VERNEHMUNG

Commissaire Reno winkt uns zu sich und betrachtet mit seinen hellbraunen Augen gleichzeitig aufmerksam und traurig unsere verheulten Gesichter. „Wir gehen in die Bar, da sind wir ungestört“, murmelt er

Während er sich zum Gehen umwendet, schaut er mit gerunzelter Stirn zum Himmel und befiehlt mir dann: „Zieh dir erstmal was über, du bibberst ja jetzt schon!“ Sein eigentlich eher ernstes und kritisches Gesicht verzieht sich zu einem freundlichen Lächeln, während er mich anblickt.

Gehorsam nicke ich und gehe davon um mich umzuziehen, während er mit Pauline und Celine schon mal in die Bar geht. Ich zittere tatsächlich so stark, dass meine Zähne aufeinander schlagen.

Als ich bei unserem Stellplatz ankomme, könnte ich schon wieder heulen. Alles dort sieht so friedlich aus. Unser alter Wohnwagen mit dem leicht im Wind flatternden, verblichenen Vorzelt, unsere Klappstühle und der alte Campingtisch darunter. Darauf das unbenutzte Frühstücksgeschirr, das Maman heute früh schon dort hingestellt hat. Die Wäscheleine mit unseren Handtüchern, die im schwachen Wind hin und herwehen und das Zelt von mir und meinem Bruder. So wie Urlaub eben. So harmlos. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Ich reibe mir die aufkommenden Tränen aus den Augen, hänge mein Handtuch auf die Leine und krabbele in meine Schlafkabine, um mich umzuziehen.

Am liebsten würde ich mich in meinen Schlafsack verkriechen und schlafen, schlafen, schlafen. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, unbeschwert aufzuwachen und nichts von alledem wäre passiert. Lustig und vergnügt könnten wir alle gemeinsam den Tag genießen. Mit Felix zusammen!

Warum haben wir nur an diesem unseligen Wettbewerb teilgenommen? Aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass das alles nicht passiert wäre, wenn Felix nicht gestern Abend im Les Sables den dritten Platz belegt hätte. Ich habe das sichere Gefühl, dass irgendwer dadurch auf sie aufmerksam geworden ist, der sie ansonsten gar nicht bemerkt hätte.

‚Nie wieder nehme ich an so was teil’ schwöre ich mir, während ich mir einen Slip, meine Shorts und ein Sweatshirt anziehe und in meine Turnschuhe schlüpfe. Langsam wird es mir etwas wärmer. Ich krabbele aus unserem Zelt und sehe, dass die Wolken, die vom Land her zur Küste ziehen, noch dunkler geworden sind, so als wollten sie die Düsternis dieses Morgens noch unterstreichen.

Commissaire Reno sitzt mit Pauline und Celine in der Bar an einem Tisch in der hintersten Ecke. Während ich auf sie zugehe, sehe ich Barnabé, wie er gerade mit einem Tablett herankommt und mit ernstem Gesicht die Getränke auf dem Tisch verteilt. Als er mich kommen sieht, stellt er sein Tablett ab, kommt auf mich zu und nimmt mich stumm in den Arm. Dann schiebt er mich etwas von sich weg, so wie Diego es heute Morgen mit mir gemacht hat. Da war alles noch ganz anders und die Welt war schön. Schon wieder kommen mir die Tränen. Mitleidig schaut er mir ins Gesicht und fragt leise: „Was möchtest du trinken, Lana?“

„Nichts!“ Ich kann nur flüstern.

„Dann bringe ich dir eine heiße Schokolade, die wärmt dich etwas auf“, erwidert er bestimmt.

Commissaire Reno streicht sich gerade über seine Halbglatze und notiert mit einem silbernen Kugelschreiber etwas in eine schwarze, kleine Kladde. Er schaut auf und sagt zu mir: „Setz dich Lana, hast du schon was bestellt?“ Ich nicke stumm und ziehe mir einen Sessel heran.

„Gut, dann wollen wir den gestrigen Abend noch einmal der Reihe nach durchgehen.“ Reno holt aus der Brusttasche seiner Jacke eine Packung Gitanes, entnimmt ihr eine Zigarette und klopft ein Ende davon auf die Packung, während er konzentriert in seine Kladde blickt. Er holt ein Feuerzeug aus der Jackentasche und steckt sich die Zigarette zwischen seine schmalen Lippen. Schließlich schaut er auf und wird sich wohl bewusst, dass Rauchen in dieser Gesellschaft nicht angebracht ist. Er steckt das Feuerzeug wieder in seine Jackentasche und legt die Zigarette neben die Gitanes-Packung auf den Tisch.

„Nun, also“, sagt er schließlich, „ihr seid zusammen im Les Sables eingetroffen?“ Während er mit der Spitze des Kugelschreibers auf eine Seite der Kladde klopft, schaut er uns mit seinen merkwürdig hellbraunen Augen durchdringend an. Dabei zieht er eine Augenbraue hoch, wodurch sich seine hohe Stirn in Falten legt. Er streicht sich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand über seinen grauen kurzen Stoppelbart. Das erzeugt ein schabendes Geräusch, das ich im Laufe der Befragung noch öfter höre.

„Nein“, Celine räuspert sich, „ich bin mit Pauline und Felix im Shuttlebus gefahren, Lana kam später. Sie musste noch was besorgen.“

Renos aufmerksame Augen richten sich fragend auf mich und ich fühle mich verpflichtet zu erklären: „Ich brauchte noch Schuhe, also bin ich erst noch nach Port Grimaud gefahren. Mein Vater hat mich dann ins Les Sables gebracht.“

„Wann wart ihr denn alle dort?“

„Wir so gegen 21 Uhr?“, Pauline schaut Celine fragend an. Die nickt bestätigend, und ich sage: „Gegen halb zehn, etwa.“

„Wie seid ihr nach Hause gekommen?“

„Ich bin um Elf da weg“, sagt Pauline. „Meine Eltern haben mich abgeholt.“

„Mein Vater war so gegen halb zwölf da“ Celine schaut mich fragend an, „und Lana ...“

„Etwas später kam mein Vater und holte mich ab“, ergänze ich. „Also das war kurz vor zwölf.“

„Warum habt ihr Felix nicht mitgenommen?“

Eine naheliegende Frage. ‚Ja, warum bloß nicht?’ schießt es mir durch den Kopf, dann wäre ihr nichts passiert.

„Aber es gab doch den Shuttlebus. Der sollte doch alle so gegen halb eins wieder zurückbringen.“ Pauline hat ganz rote Flecken im Gesicht, als sie das sagt. „Es konnte doch keiner ahnen ...“, fügt sie noch hilflos mit den Schultern zuckend hinzu.

„Nein, natürlich nicht“, meint Commissaire Reno in ruhigem Ton. „Niemand macht euch einen Vorwurf.“ Er macht sich Notizen und schaut nachdenklich in seine Kladde. „Mit wem hat sich Felix unterhalten? War sie Tanzen?“ Der Reihe nach schaut er uns an.

„Tanzen nicht. Aber mit so einem schwarzhaarigen Typen hat sie geredet.“ Langsam kommen die Bilder des gestrigen Abends wieder in meinen Kopf zurück. „Mein Vater war da und ich war spät dran Ich holte schnell meine Sachen und da stand Felix vor der Garderobentür. Sie redete mit diesem Typen. Eine dunkelhaarige Frau war auch dabei. Ich dachte, es sei ein Typ vom Film oder einer Modelagentur oder so was“, sprudelt es aus mir heraus.

„Wieso dachtest du das?“ Reno wirkt erstaunt.

„Na ja, weil die Gewinnerin vom letzten Jahr doch auch einen Plattenvertrag bekommen hat und die sahen total schick aus, wie, na ja eben wie Talentscouts oder als wären sie selbst im Showgeschäft.“

„Mmh“, brummt Commisaire Reno und macht sich Notizen. „Wie sah er aus, dieser Typ?“ Aufmerksam schaut er mich an.

„Er war schwarzhaarig und hatte einen weißen Anzug an. Aus Leinen. Armani vielleicht. Lange, glänzende, krause Haare, mehr so ein südländischer Typ mit dunklen Augen. Er hatte eine teure Armbanduhr um.“

„Woher weißt du das?“

„Weil er draufschaute, als ich ging, dadurch habe ich auch auf die Uhr geschaut, um zu sehen, wie spät es ist.“

„Und? Wie spät war es?“

„Kurz vor Zwölf.“

„Was war das für eine Uhr?“

„Ich kenne mich ja nicht wirklich damit aus, aber ich denke, das war eine Breitling. Eine echte!“

Commisaire Reno, der sich bis jetzt die ganze Zeit Notizen gemacht hat, blickt mit einem Mal erstaunt auf und schaut mich aufmerksam an. „Eine Breitling?“

„Ja, so eine Fliegeruhr. Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, weil mein Vater mir die mal bei einem Juwelier in St.Tropez im Schaufenster gezeigt hat. Daher weiß ich auch, wie wahnsinnig teuer die sind.“

„Mmh“, wieder macht Reno sich Notizen, dann schaut er mich durchdringend an: „Wie sah die Frau aus?“

„Die Frau?“

„Ja, du sagtest, eine Frau sei auch dabei gewesen“, aufmerksam beobachtet er mich, während ich versuche, mir das Bild der Frau ins Gedächtnis zurückzurufen.

„Sie hatte einen eher dunklen Teint, dunkelbraune oder schwarze, lange, glatte, dichte Haare und dunkle, unangenehm durchdringende Augen. Sie hatte ein schwarzes enges schulterfreies Kleid an. Sah auch teuer aus. Sie war eher klein, auf alle Fälle kleiner, als der Mann und sie lächelte die ganze Zeit. Also sie redete nicht, sie schaute nur Felix an. Ich glaube sie war etwas beschwipst.“

„Die Frau?“ Reno runzelt fragend die Stirn.

„Nein, Felix! Wir hatten Champagner bekommen, in der Garderobe.“ Ich warte darauf, dass Reno mich fragt, warum ich sie dann alleingelassen habe, wenn sie doch was getrunken hatte. Ich weiß keine Antwort darauf.

Stattdessen fordert er: „Beschreib mir die Augen der Frau genauer. Du sagtest, sie seien durchdringend gewesen, warum meinst du das?“

„Weil sie Felix die ganze Zeit so komisch anstarrte, so anders, so schaut man keinen Menschen an. So lauernd, so - gierig?“

Renos Kopf ruckt hoch, er schaut mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Gierig?“ fragt er mich ungläubig. “Wie, gierig?“

„Ja, ich weiß auch nicht, keine Ahnung wie ich es anders beschreiben soll.“ In Gedanken sehe ich die Szene noch einmal vor mir. „Der Blick dieser Frau war auf irgendeine Art anders, als eine Frau ein Mädchen betrachten sollte, er hatte etwas Verlangendes, Aggressives, ja, wirklich Gieriges. Ich weiß doch auch nicht, wie ich es beschreiben soll.“

Commisaire Reno sieht mit einem Mal sehr besorgt aus, nimmt die auf dem Tisch liegende Zigarette und steckt sie sich nun doch an. Gedankenverloren bläst er den Rauch durch die Nase und dreht die Gitanes in seinen Fingern. Er schaut auf seine Notizen und überlegt.

„Hat Felix ein Drogenproblem?“ Aufmerksam schaut er uns der Reihe nach an.

„Nein!“ antworten wir einstimmig und fast empört.

„Hat sie Stress mit ihren Eltern?“

„Überhaupt nicht!“, sage ich. „Die verstehen sich alle prima.“

„Okay!“ Er runzelt überlegend die Stirn. „Sie führt einen Jungennamen, lässt sich Felix nennen, hat sie vielleicht lesbische Neigungen, ist euch da was aufgefallen? Hat sie vielleicht das Interesse dieser Frau erregt und ist dann mitgegangen?“ Wieder beobachtet er auf diese ruhige, aber hellwache Art unsere Reaktionen.

Einen kurzen Moment schauen wir uns fragend an. Mir fällt ein, wie Felix und ich kurz vor der Siegerehrung am Strand so dicht voreinander standen und uns lächelnd angeschaut haben. Das war aber doch eher warm und freundschaftlich gewesen und nicht mit irgendwelchen Hintergedanken.

„Nein!“ sagt Pauline bestimmt und auch Celine schüttelt den Kopf.

„Felix mag Jungs!“, setze ich noch mit Nachdruck hinzu. Das ist keine Vermutung. - Ich weiß es.

„Na gut!“ Mit gerunzelter Stirn sieht Commissaire Reno auf seine Notizen und überlegt. Wieder schaut er auf und seine bernsteinfarbenen Augen werden mit einem Mal dunkel, als er uns ansieht. „Könntet ihr euch vorstellen, dass Felix so betrunken war, dass sie einfach mit einem Mann mitgegangen ist, um na ja ...“ Er lässt seine Frage offen, aber trotzdem sind wir uns einig.

„Nein, auf keinen Fall!“

„Das würde Felix niemals tun, dazu ist sie viel zu cool. Die weiß, was sie will!“ fügt ausgerechnet Celine noch hinzu. „Die ist nicht so, die läuft nicht hinter jedem X-Beliebigen her.“ Dabei streift sie mich mit einem kurzen Seitenblick.

„Mmh, okay, ich glaube, das war’s fürs Erste.“ Commissaire Reno klappt seine Kladde zu und steckt sie sich in seine Jackentasche. „Haltet euch für weitere Befragungen bereit und nun warten wir erst mal ab, was die Suche ergibt!“

„Meinen sie, man wird sie finden?“ Zögernd stellt Pauline diese Frage, die uns allen auf der Seele brennt.

Commissaire Reno runzelt die Stirn und schaut uns mit einem Lächeln an, das wohl freundlich und beruhigend wirken soll, aber eher gequält aussieht. „Wartet erst mal die Suche ab, dann sehen wir weiter.“ Reno zieht noch ein letztes Mal an seiner Gitanes und drückt die halbgerauchte Zigarette unachtsam im Aschenbecher aus.

Wir schauen kurz nach oben. Ein Hubschrauber knattert über uns hinweg und fliegt in Richtung des Les Sables. Vielleicht kann er Felix ja finden.

Commisaire Reno winkt Barnabé heran. „Die Rechnung bitte.“ Er räuspert sich und hangelt in der Innentasche seines Jacketts nach der Brieftasche. Barnabé schüttelt den Kopf, räumt die leeren Gläser und meinen Becher auf ein Tablett und murmelt „Geht aufs Haus.“

„Oh, danke!“ brummt Reno, steht auf, öffnet seine Brieftasche und gibt jeder von uns eine Visitenkarte. „Ihr könnt mich jederzeit anrufen, wenn euch noch etwas einfällt.“ Er sieht uns alle noch einmal ernst an. „Gebt die Hoffnung nicht auf, wartet erst mal ab!“ Mit diesen Worten geht er davon.

Pauline nimmt mit angeekeltem Gesicht und spitzen Fingern seinen Zigarettenstummel, der immer noch im Aschenbecher stinkend vor sich hinqualmt und drückt ihn richtig aus. Schweigend und ratlos sitzen wir am Tisch.

Barnabé und seine Frau gesellen sich mit ernsten Gesichtern zu uns. „Verdammt! Warum haben wir sie bloß nicht mitgenommen?“, bricht es plötzlich aus mir heraus.

Barnabés Frau schüttelt den Kopf und legt tröstend einen Arm um mich, während Barnabé zischend zwischen den Zähnen hindurch stößt: „Welches Schwein war das? Immer wieder passiert so was, hier in Grimaud.“

Gesamtausgabe der

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