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Der »wilde Norden« Südafrikas
ОглавлениеDie weiße Oberschicht nutzte den privilegierten Zugang zu Gerichten und zur Verwaltung, um ihre Besitzansprüche auf Land durchzusetzen, sodass andere, die über weniger Einfluss und Ressouren verfügten, in die Randzonen abwandern mussten. Im Verlauf dieses Prozesses waren die unterprivilegierten und ärmeren Mitglieder der Gesellschaft in die äußeren Randgebiete der Kolonie migriert, sodass man von einer abgestuften Form sozialer Hierarchisierung und staatlicher Ordnung sprechen kann, die in Kapstadt und deren unmittelbarer Umgebung am intensivsten war und an der nördlichen Grenze am schwächsten.
Die Menschen, die die geringsten Möglichkeiten hatten, sich in diesem sozialen Ausleseprozess zu behaupten, waren die Khoisan, die lange Zeit in gebirgigen Rückzugsgegenden innerhalb der Kolonie einige Nester von Autonomie und Widerstand hatten erhalten können. Je mehr diese aufgesiedelt wurden, desto stärker wurde der Exodus in Richtung der Kolonialgrenze. Dort entwickelte sich ein Zustand, den man nach dem Vorbild der nordamerikanischen Geschichte als Frontier, d. h. als wandernde Siedlungsgrenze, bezeichnet. Damit sind uneindeutige Situationen in Randgebieten von Siedlergesellschaften gemeint, in denen der Staat zu schwach war, um seinen Ordnungsanspruch durchsetzen zu können. Es war die große Zeit der Frontierdesperados, die in diesem Raum unklarer Verhältnisse ihr Unwesen trieben. Sie gingen zudem auf beiden Seiten der Grenze ständig wechselnde Allianzen ein, mal mit den Bewohnern der Kapkolonie, mal mit afrikanischen Chiefdoms außerhalb von deren Grenzen.
Alle, die in der Kapkolonie keine Chancen mehr sahen, sammelten sich im ariden Norden und in der Flussoase des Oranje, der sich in seinem mittleren und unteren Lauf durch halbwüstenartige Gebiete schlängelt. Es war eine wilde Mischung aus Trekburen, desertierten Soldaten und entlaufenen Matrosen, flüchtigen Sklaven, Nachkommen weißer Farmer und afrikanischer Frauen oder von Sklaven und Khoisan, den sogenannten Bastard-Hottentotten, vor allem aber die Khoisan selbst. Diese waren mittlerweile meist christianisiert, trugen europäische Kleidung und sprachen ein vereinfachtes Niederländisch, den Vorläufer des späteren Afrikaans, kurzum, sie hatten sich kulturell weitgehend der dominierenden Siedlergesellschaft der Kapkolonie angeglichen, wurden von dieser wegen Abkunft und Hautfarbe aber nicht als gleichberechtigt anerkannt. Weil sie über Pferde verfügten und den Nachschub an Waffen und Munition über Kapstadt organisieren konnten, waren sie den afrikanischen Chiefdoms in ihrer Nachbarschaft militärisch überlegen.
Aus den heterogenen Gruppen, die sich nach klientelistischen Strukturen um einzelne Figuren und ihre Familien wie die Kok und Barends bildeten, entstanden neue Gemeinschaften, die sich zur ethnischen Gruppe der Griqua verfestigten und über Jahrzehnte hinweg von diesen auf zentrale Patrone zugeschnittenen Sozialstrukturen geprägt blieben. Da sie durch die lange Phase der Vertreibung und aufgrund der unbekannten ökologischen Verhältnisse der landwirtschaftlichen Tätigkeit entwöhnt waren, verlegten sich viele auf das lukrativere und einträglichere Geschäft des Raubes. Sie verübten Überfälle auf schwarze Chiefdoms, aber auch auf nichtsahnende Nachbarn, denen man ihr bewegliches Eigentum, in erster Linie die Rinder- und Schafherden, wegtrieb. Dadurch wiederum provozierten sie Gegenschläge und Racheaktionen mit dem Ergebnis, dass die ganze Grenzregion von endemischer Unsicherheit geprägt war. Hinzu kamen die Jagd auf Menschen und der Handel mit gefangenen afrikanischen Kindern, die an die weißen Farmer als billige Arbeitskräfte verhökert wurden. Außerdem betrieben die Griqua einen intensiven Handel u. a. mit Elfenbein, wofür sie Artikel des täglichen Bedarfs aus der Kolonie erhielten, wie Tabak, Kleidung, vor allem aber Waffen und Munition.
Ressourcenstarke Clans, wie die Familie Kok, die um 1800 etwa 45 000 Rinder besaß, standen im Zentrum solcher Gemeinschaftsbildungen und verpflichteten über klientelistische Verhältnisse die übrigen zu Gefolgschaftstreue, wofür sie an den Erfolgen ihrer Raubzüge beteiligt wurden. Die Entwicklung dieser auf Raub spezialisierten Gemeinschaften am Oranjefluss hatte zur Folge, dass sich im späten 18. Jahrhundert unter den sotho- und tswanasprachigen Chiefdoms am Rand der Kalahari und auf dem Hochland Südafrikas zentralisiertere Herrschaftsstrukturen herausbildeten. Das war eine Defensivreaktion auf die fortgesetzten An- und Übergriffe, die ihrerseits verstärkt wurde durch die ökologische Situation der südlichen und östlichen Kalahari. Um die wenigen Wasserstellen verfestigten sich größere Gemeinschaften leichter als anderswo. Immerhin entstanden bei den Tswana um die Wende zum 19. Jahrhundert Siedlungen, in denen bis zu 15 000 Menschen zusammenlebten.