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3. Postkolonialismus & Orientalismus in der (Österreich)-Germanistik
ОглавлениеÄhnlich postkolonial gestimmte Re-Lektüren wie die eben präsentierte haben jedenfalls auch andere Kafka-Texte in Anspruch genommen, beispielsweise Beim Bau der chinesischen Mauer (EA 1931), Das Schloß (1926), Bericht für eine Akademie (1917), Ein Hungerkünstler (1922) und Der Verschollene (entstanden 1911–1914);1 jüngst wurde etwa auch die kleine Erzählung Schakale und Araber (1917) überzeugend vor diesem Deutungshorizont interpretiert.2 Daneben sind auch ambitionierte Genre-Studien entstanden, so z.B. zum literarischen Orientalismus als k.u.k. Gesellschaftskritik (Robert Lemon, 2011) oder zur Verschränkung von kritischer Utopie und Quasi-Kolonialroman in den Werken von Leopold von Sacher-Masoch, Theodor Herzl, u.a. (Ulrich Bach, 2016). Nicht zu vergessen wären auch – neben dem bereits erwähnten Forschungsnetzwerk Kakanien revisited und den Teamresten des Grazer SFB Moderne3 – die wenig rezipierte Dissertation des kroatischen Komparatisten Nikola Petković (University of Texas, 1996) sowie die unentwegten Versuche der Wiener Germanistin Anna Babka, einen speziellen Mix aus Postkolonialismus, Dekonstruktion sowie Gender und Queer Studies in der österreichischen Wissenschaftslandschaft heimisch zu machen.
Ansonsten haben sich postkoloniale Zugangsweisen – im Anschluss an die Wiederentdeckung und Aufarbeitung der Geschichte4 der wilhelminischen „Schutzgebiete“ Togo, Kamerun, Tansania, Namibia und Papua Neu-Guinea (1884–1919) seit den 1980er Jahren – eher in einer deutschen Literaturwissenschaft im engeren Sinne durchgesetzt. Getragen wurde diese Entwicklung der letzten 25 Jahre nicht zuletzt von international agierenden Germanist/inn/en wie etwa Monika Albrecht (Limerick bzw. Vechta), Nina Berman (Columbus), Russell A. Berman (Stanford), Anil Bhatti (Neu-Delhi), Axel Dunker (Bremen), Gabriele Dürbeck (Vechta), Dirk Göttsche (Nottingham), Alexander Honold (Basel), Florian Krobb (Maynooth), Paul Michael Lützeler (St. Louis), John Noyes (Toronto), Klaus Scherpe (Berlin), Franziska Schößler und Herbert Uerlings (Trier), oder Sabine Wilke (Seattle).5
So hat sich rund um Uwe Timms Roman Morenga (1978) als zentralem Text6 ein veritabler postkolonialer Kernkanon in der Germanistik etablieren können.7 Er enthält Klassiker wie Georg Forsters Reise um die Welt (1780), Alexander von Humboldts Schriften, Kleists Verlobung in St. Domingo (1811), Goethes West-östlichen Divan (1819) und Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1868), neben der Abenteuerliteratur von Karl May sowie Kinder- und Jugendbüchern; Kolonialromane im engeren – und problematischen – Sinn wie Peter Moors Fahrt nach Südwest (Gustav Frenssen, 1906) oder Hans Grimms Volk ohne Raum (1926); Reise- und postkoloniale Literatur im engeren Sinn aus der Zwischenkriegszeit wie Alfred Döblins Amazonas-Trilogie (1937/38) ebenso wie Nachkriegsautoren vom Schlage eines Hubert Fichte, Günter Grass (Zunge zeigen, 1988) und Bodo Kirchhoff, aber auch Migrantenliteratur von May Ayim, Emine Sevgi Özdamar, Rafik Schami oder Yoko Tawada.8
Gemäß dem bereits erwähnten Standardargument, dass Österreich(-Ungarn) über keine (Übersee-)Kolonien verfügt habe (das in der vorliegenden Arbeit kritisch hinterfragt werden soll), werden aber Autoren aus diesem post/imperialen Kontext nicht speziell thematisiert oder – wie im Falle Kafkas – stillschweigend eingemeindet, wie besonders anhand des Sammelbands Postkoloniale Germanistik deutlich (2014) wird:9 Ähnliches gilt für Schweizer Autoren wie Urs Widmer oder Christian Kracht, der mit seinem Roman Imperium von 2012 immerhin zu den Meistuntersuchten im Feld gehört; Lukas Bärfuss’ exzellenter Roman Hundert Tage (2008) über den Völkermord in Ruanda indes blieb von Dürbecks und Dunkers „Bestandsaufnahme“ überhaupt unerfasst.10
Ergiebiger ist Österreich bzw. Habsburg als Forschungsgegenstand thematisiert, wenn es in Anschluss an Edward Saids feldbegründendes Werk von 1978 um die Analyse des Orientalismus in deutschsprachigen Ländern11 bzw. in Zentraleuropa12 geht, die sich mit postkolonialen Ansätzen naturgemäß verschränkt und überlappt. Hier ist die austriakische Präsenz deutlicher, zumal ja Österreich durch die gemeinsame Sprache und durch herausragende Forscherpersönlichkeiten wie Josef Hammer-Purgstall (1774–1856) entscheidend am deutschen Orientalismus-Diskurs partizipiert hat und gerade Wien nicht nur bei Hugo von Hofmannsthal als „Porta Orientis“13 firmiert. Bemerkenswert ist auch der literarische Orientalismus in der Habsburger Monarchie um 1900, für den Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895), aber auch andere Texte exemplarisch stehen.14
Rüdiger Görner beispielsweise hat gezeigt, wie sich der literarisch gepflogene Jahrhundertwende-Orientalismus mit Positionen des Modernismus verschränkt, d.h. wie er dazu verwendet wird, eine ästhetische Gegenwelt zum herrschenden Positivismus, „Ökonomismus und Reduktionismus“ aufzubauen und damit einen Beitrag zur Krise des Ichs um 1900 sowie deren Repräsentation und Überwindung zu leisten:15 Bei Hofmannsthal stehe
das Orientalische nahezu konsistent für einen bestimmten Vorstellungshorizont, eine imaginatio perpetua, die sich im Zustand permanenter Selbstbefruchtung befindet. Hofmannsthal schätzte das Orientalische als eine ästhetische Ausdrucksform, die keiner Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt mehr bedarf; sie ist die Einheit von Innen und Außen: das orientalische Ornament, der arabische Schriftzug, die Arabeske, sie galten ihm als sichtbare Zeichen eines unaufhörlichen Traumes, man könnte sagen, als Seismographen träumerischer Bewegungen und Erregungen.
[…] Hofmannsthal ließ keinen Zweifel daran, daß er im ästhetischen Orientalismus nicht in erster Linie ein narratives Verfahren sah, sondern einen genuin poetischen Wert.16
Der Orient biete so den österreichischen Zerrissenen des Fin de siècle ein holistisches Modell einer zumindest imaginären idenitären – oder besser gesagt: identifikatorischen – Einheit. Dem gegenüber hat Robert Lemons Monografie Imperial Messages (2011) – ähnlich wie schon vorher Nina Berman – die „orientalist fiction“ nicht nur Hofmannsthals, sondern auch anderer Autoren der deutschsprachigen Literatur/en Österreich-Ungarns einer kontextualisierenden Lektüre unterzogen: Literarischer Orientalismus made in Austria sei „marked by self-reflection and self-critique“ der Doppelmonarchie in ihrer Spätphase;17 Kafkas Texte über das ‚Reich im Osten‘ beispielsweise evozierten „China in order to allude to the Habsburg Empire“.18 Parallel dazu hat Johannes Feichtinger gezeigt, wie in den populären Bilderwelten einer kollektiven kulturellen Imaginären um 1900 sich die Identitätskonstruktionen und wechselseitigen Abgrenzungen der verschiedenen k.u.k. Ethnien auch durch phantasmatische „Orientalisierungsprozesse“ entlang „asymmetrischer Machtverhältnisse“ vollziehen.19 Zusammen mit Johann Heiss hat Feichtinger weiters auf die Ko-Existenz mehrerer – gegenläufiger – Orientalismen in der k.u.k. Ära hingewiesen.20
Diesen spezifischen Charakter der politischen Symbolisierung bzw. Allegorese im Bereich orientalistischen bzw. post/kolonialen Schreibens in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert gälte es stärker zu berücksichtigen – gerade in Hinblick auf Modelle der „inneren Kolonisierung“ Europas, die in Anschluss an Michael Hechters paradgimenbildendes Werk Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British National Development, 1536–1966 von 1975 entwickelt und diskutiert worden sind.21 Deshalb ist es auch verwunderlich, dass die Habsburger Monarchie um 1900 als vom Deutschen Reich deutlich abweichender Bezugsrahmen in den tonangebenden Überblickswerken kaum wahrgenommen wird bzw. die vorliegenden Forschungsergebnisse des zentraleuropäischen Netzwerkes Habsburg postcolonial/ Kakanien revisited donauaufwärts kaum rezipiert worden sind.22 Dies hat Robert Lemon dazu gebracht, in seiner Arbeit die postkoloniale „assumption of a German perspective“ als ihrerseits latent kolonial zu kritisieren: „In this way, Dunker maintains the longstanding quasi-colonial claim of German Germanistik over Austrian and Austro-Hungarian literature and culture.“23 Erst jüngst sind gewisse Ansätze zu einer Verbesserung dieses Missverhältnisses bemerkbar.24
Das Bedürfnis nach einer differenzierteren und ausgewogeneren Sichtweise, das mit der Publikation des vorliegenden Buches angesprochen werden soll, entspringt aber keineswegs einem reaktiven Literatur-Nationalismus des kleineren Landes. Vielmehr steht dahinter die Überzeugung, dass die Berücksichtigung des – verdrängten, aber doch sehr spezifischen – Kolonialkomplexes der imperial-historischen Kultur/en der Habsburger Monarchie neue supranationale, komparative – und „kontrapunktische“ Lektüren im Sinne von Edward Said25 – ermöglicht und bisher übersehene Facetten der k.u.k. Kultur/en zutage fördert; ein Unternehmen, das, um den Untertitel des Sammelbands Schweiz postkolonial26 zu paraphrasieren, möglicherweise auch „Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien“ inkludiert.