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3. Zur Kulturgeschichte nationaler & regionaler Typologien

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Trotz ihrer brillanten Analyse zur Kulturwissenschaft, Geschichte und Psychologie des xenos ist Julia Kristeva selbst nicht vor der Suggestionskraft nationaler Stereotypen gefeit, wie im Frankreich-Abschnitt ihres zitierten Buches Fremde sind wir uns selbst (1988/90) deutlich wird, das Topoi für das ‚Wesen‘ verschiedener europäischer Ethnien scheinbar unkritisch aus der Tradition übernimmt:

Nirgendwo ist man fremder als in Frankreich. Die Franzosen, die weder die Toleranz der angelsächsischen Protestanten noch die durchlässige Unbekümmertheit der romanischen Südländer, noch die ebenso zurückweisende wie einverleibende Neugier der Deutschen und Slawen haben, setzen dem Fremden ein kompaktes soziales Gefüge entgegen, und dies mit einem kaum zu überbietenden nationalen Hochmut.1

„Dieses essentialistische Konzept, das Völker als Kollektivindividuen mit einer je eigenen ‚Natur‘ auffaßt, diente [in der westlichen Tradition, C.R.] der Beschreibung und Erklärung kultureller Differenz“, schreibt Ruth Florack in ihrer Monografie Bekannte Fremde (2007),2 das einen lesenswerten wie auf Vollständigkeit bedachten kritischen Überblick über Geschichte3 und Zukunftsperspektiven der Imagologie bietet: „Was wir aus historischer Distanz als National­stereotype bezeichnen, sind also kulturelle Besonderheiten,“ die essential­istisch naturalisiert werden als „Eigenschaften eines Volkes“ „und so als die ‚Tugenden‘ und ‚Laster‘ erscheinen, die seinem ‚Naturell‘ entsprechen.“4 Eine weitere wichtige Zusatzhypothese, die Florack mit anderen imagologisch ausgerichteten Forscher/innen teilt, ist, dass „vor der Entwicklung moderner Massenmedien die Literatur5 eine wichtige Rolle gespielt hat bei der Festschreibung und Verbreitung solcher übergeneralisierender Kategorisierungen“.6

Die Wirkungsmacht dieser Bilderwelten des Eigenen und des Fremden – von anderen Forscher/innen imag(in)es bzw. mirages7 genannt –, die nationalen Kollektiven wie im obigen Kristeva-Zitat Eigenschaften bzw. Attribute zuschreiben, lässt sich nun genealogisch – in einer nationalen Formatierung – bis in die frühe Neuzeit Europas oder sogar – in einer allgemeineren Form – bis in die Kulturtheorie und Rhetorik der Antike8 zurückverfolgen. Götz Pochat etwa sieht den „Asianismus“-Vorwurf griechischer und lateinischer Autoren gegen fremde Literaturen im Verbund mit der antiken Erfindung des „Barbaren“9 und der aristotelischen Klimazonen-Lehre10 als erste bekannte Ausgangspunkte.11 Nicht unwichtig im Rahmen der vorliegenden Arbeit dürfte hier auch die Tatsache sein, dass ein historischer Zusammenhang zwischen dem Barbaren-Diskurs (des ‚zivilisierten‘ Selbst gegenüber dem wilden, ‚sprachlosen‘ Fremden) und der griechischen Kolonisierung der Mittelmeerküsten bzw. später dem römischen Imperialismus angenommen werden kann.12

Seit dem 12. Jahrhundert gibt es indes Belege für das Aufkommen von ethnotypen Zuschreibungen in Europa, die sukzessive die zentrale mittelalterliche Dichotomie von ‚Christenheit‘ vs. ‚Heiden‘ auf- und ablöst. Wie Ludwig Schmugge meint, bildete sich im Zuge der Kreuzzüge ein wechselseitiges Geflecht eines ‚vornationalen‘ kollektiven Bewusstseins;13 im Zuge der fortschreitenden Entdeckung fremder Erdteile, aber auch des antiken Erbes in der Renaissance entsteht ein neues Bewusstsein für kulturelle Differenz.14 Laut Florack lässt sich dann „seit der Frühen Neuzeit durchaus so etwas wie ein recht stabiles grenzüberschreitendes Wissen über die Natur der unterschiedlichen Völker nachweisen“.15 In Ergänzung dazu sieht Rudolf Jaworski den „nationalen Stereotypen vorgeordnet und zugleich älter als diese […] global vorgetragene Vergleiche zwischen dem ‚Abend-‘ und dem ‚Morgenland‘, zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Osten‘, zwischen ‚Rußland und Europa‘“16 (hinzuzufügen wären auch ‚Nord‘ und ‚Süd‘): „In diesen grobgerasterten Dichotomien“ gehe es aber freilich weniger um die Kennzeichnung der „Volkscharaktere als vielmehr um das selbstgerechte Abstecken ganzer Kultursphären und Zivilisationsmuster.“17 Wichtige Beispiele dafür wären etwa auch der von Edward Said paradigmenbildend untersuchte Orient/alismus, d.h. die phantasmatisch projektive ‚Erfindung‘ des Orients durch westliche Wissenschaftler und Literat/inn/en als das Andere des Westens; Komplementärdiskurse dazu sind etwa der Okzidentalismus (Ian Buruma u. Avishai Margalit) oder der Balkanismus (Maria Todorova) und generell die Imagination Osteuropas, der sich der New Yorker Osteuropahistoriker Larry Wolf gewidmet hat (siehe dazu im Folgenden).

Der Orient als projiziertes Anderes Europa, das der Selbstdefinition des alten Kontinents und dessen Nationen dient, spielt schon früh eine Rolle – sieht doch nicht nur Hans Rothe die Türkenrede des Humanisten Enea Silvio de Piccolomini (und späteren Papstes Pius II.) aus der Mitte des 15. Jahrhunderts als wichtiges Gründungsdokument des modernen westlichen Diskurses vom Eigenen und Fremden.18 Hier wird davor gewarnt, dass bei mangelhaften Vorkehrungen die Völker Europas übereinander herfallen würden:

Damit daher die Christen sich des Friedens erfreuen können, muß man den Krieg auf auswärtige Völker hinüberspielen. Wenn es dazu kommt, werden weder die Deutschen in ihrem hehren Mut, noch die Franzosen mit ihrer ritterlichen Beherztheit, noch die Spanier mit ihrem hochstrebenden Sinn, noch die Italiener mit ihrem ruhmbegierigen Geiste fehlen.19

In Piccolominis Rede werden Elemente sinnfällig, die im Folgenden wiederkehren werden: Zum einen werden zunehmend national kodierte – und sich verselbständigende – Bilder aus einer Rhetorik von Epitheta entwickelt; zum anderen dienen diese einer diskursiven Grundierung der militärischen Aggression gegen die Türken und zugleich der politischen Einigung angesichts dieses äußeren Feindes, damit also der Legitimation und Propaganda. Ebenso wenig ist zu übersehen, dass hier eines der ersten – und problematischen – modernen Konzepte von (’West’-)’Europa’ sinnfällig wird.

Auch der österreichische Anglist Franz Stanzel beschreibt in seinem imagologischen Essay über die europäischen „Völkertafeln“ die Periode um 1500 als wichtige formative Schwellenzeit für nationale Typologien; als Faktoren nennt er die Reformation, die frühneuzeitliche Globalisierung durch die Entdeckungsfahrten, die einsetzende Kolonisierung der Neuen Welt sowie das beginnende nation building der Sprachkulturen20 – als Folge des Buchdrucks, wäre hier mit Benedict Anderson21 hinzuzufügen: „Die im Humanismus aufbrechende Polemik zwischen den aufsteigenden germanischen Völkern des Nordens und den absteigenden südländischen Völkern“ unterstelle, so Stanzel, den „Gegensatz zwischen jugendlicher Vitalität der Germanen und geistiger Erschöpfung und Altersschwäche“.22 Etwas allgemeiner ließe sich formulieren, dass parallel zum Entstehen des modernen Individuums/Subjekts und seiner Psychologisierung zwischen Renaissance und Aufklärung auch die neue imaginierte Metonymie der (Sprach-)Nation rhetorisch mittels Epitheta mit einer Art von charakteristischer Kollektivindividualität („psychological proprium“23) versehen wird: quasi eine ImagiNation, um das Wortspiel unseres Kapiteltitels wieder aufzugreifen.24

Joep Leerssen sieht in diesem Rahmen neben Hippolyte-Jules Pilet de La Mesnardières Poètique (1639/40) bereits Julius Caesar Scaligers Poetices libri VII (1561) als wichtigen Schlüsseltext für die Festlegung nationaler Typologien mittels der Zuschreibung von Eigenschaftskatalogen:25 „nations are now primarily ordered by temperaments, personality-attributes, characters.“26 Scaligers enzy­klopädische Neo-Aristotelik schaffe eine Art literarischer Inventarliste, wie verschiedene Nationalitäten (darzustellen) seien; seine Regelpoetik kenne etwa keinen Platz für einen witzigen Deutschen.27 Diese (Stereo-)Typologien seien dann in der Aufklärung bei Hume, Montesquieu, Voltaire, Vico und Herder weiter systematisiert worden.28 Dies kreiert jene denkwürdige Konstanz der Zuschreibungen, für die Florack ein griffiges Beispiel angeboten hat:

Daß sich Agrippas [von Nettesheim, C.R.] Katalog nationaler Eigenschaften wörtlich in Luthers ‚Handpsalter‘ wiederfindet und, um die Engländer ergänzt, mehr als zweieinhalb Jahrhunderte später noch in Goethes Notizen zur Vorbereitung einer zweiten italienischen Reise, ist ein Indiz für die Hartnäckigkeit dessen, was wir heute als Stereotype bezeichnen.29

Seit der Mitte des 19. Jahrhundert hätten sich dann, so Pochat, ethnotype images und „nationalistische Tendenzen […] immer wieder, manchmal in verhängnisvoller Weise, durchgesetzt.“30 Eine national geprägte Kunst- und Kulturgeschichte etwa beruhe

auf der Annahme, daß sich der Charakter eines Volkes oder Stammes äußeren Stilimpulsen zum Trotz stets durchsetzt. Zu der früheren, imagologisch bedeutsamen Klimalehre tritt nun die völkische Komponente hinzu.31

Pochat bezieht sich hier ganz offenkundig auf die Entdeckung des „Volkes“ und seiner „Kultur“ bei Herder und den Romantikern, aber vor allem auf die pseudowissenschaftliche Formatierung nationaler Selbst- und Fremdbilder unter dem Eindruck der Völkerpsychologie im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, diese versucht, nationalen Kollektiven genauso wie dem Individuum gewisse psychische Eigenschaften (den „Volksgeist“) gleichsam als „cultural DNA“32 zuzuordnen – wie dies etwa in Wilhelm Wundts gleichnamigem Monumentalwerk von 1900–1920 der Fall ist. Diese Zuschreibungen erweisen sich freilich eingebunden in andere Diskurse wie Nationalismus, Rassismus und (Sozial-)Darwinismus.33

Hans Bayerdörfer und seine Mitherausgeber sehen im 19. Jahrhundert ein groß angelegtes „Erfassungsprojekt […] des Fremden im Äußeren und Inneren der Staaten“ im Gange,34 das – wie Hartmut Kaelble schreibt – dieses ab dem Vorabend des Ersten Weltkriegs „nicht mehr in Kategorien der ‚Kultur‘, sondern in Kategorien von ‚Rasse‘ zu fassen“35 versucht. Ebenso eröffnen neue visuelle Medien neue Möglichkeiten für einen exotistischen „Konsum“, wie auch das fotografische Bild half, die Fremden „als stumme Zeugen einer realen oder fiktiven Begegnung“ zu fixieren.36

Mit den biologistischen Festschreibungen von „Rasse“, „Volk“ und „Geschlecht“, die mit dieser Wissensformation37 einhergehen, gewinnt der europäische Imperialismus jedenfalls ein wichtiges rhetorisches Werkzeug: die diskriminierende Bewertung und Hierarchisierung kultureller Differenz. Dieses diskursive Instrument wird denn auch im Rahmen jener kolonialistischen Expansionsprojekte im 19. Jahrhundert eingesetzt, um die „Inferiorität“ außereuropäischer Völker und den daraus resultierenden „Bedarf“ nach „Zivilisierung“ – die bereits mehrfach erwähnte mission civilatrice – zu begründen und als Topos festzuschreiben. Damit entstehen „Ordnungen der Fremdheit“ (Herfried Münkler), „in denen geregelt ist, wie mit den unterschiedlichen Typen bzw. Graden von Fremdheit umzugehen ist“: Neben Inklusion und Exklusion gebe es eine Fülle von hybriden Zwischenformen wie etwa „Semiinklusion und Seklusion“.38 (Hier wäre etwa an die Rassetafeln des hispanischen Kolonialismus in Lateinamerika zu denken oder die rassistische Einteilung der Bevölkerung nach den arbiträren Kriterien der NS-Ideologie, die anders etwa als die religiösen Gesetze des Judentums „Mischlinge ersten und zweiten Grades“ kennt.)

Nach dem genozidalen Höhepunkt ethnischer bzw. ‚rassischer‘ Typologien im Umfeld der beiden Weltkriege bzw. der totalitären Staatsprojekte des 20. Jahrhunderts ist in der Postmoderne ein gewisses Abflauen, die Tabuisierung, aber auch künstlerische Ironisierung (ironic turn39) der Stereotypen zu bemerken, woran etwa der erwähnte Film Borat teilhat. Mit den politischen Wendezeiten in Zentral- und (Süd-)Osteuropa nach 1989 lässt sich freilich wieder eine massive Rückkehr traditioneller Selbst- und Fremdbilder in den Diskursen diverser Neo-Nationalismen verzeichnen, die häufig rassistisches Gedankengut enthalten.40 So ist dem Befund des koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han von der „Austreibung des Anderen“41, d.h. seinem Verschwinden in einer nivellierenden Ästhetik und Ideologie des Gleichen, keineswegs zustimmen.

Habsburgs 'Dark Continent'

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