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1. Kolonialismus als Befund: der sozialwissenschaftliche & historische Diskurs
ОглавлениеAls erster Schritt zu einer näheren Bestimmung unseres Fokus sollen nun historiografisch-sozialwissenschaftliche Definitionen von Kolonie, Kolonisierung bzw. Kolonialismus aus gängigen Handbüchern, Fach-Enzyklopädien und Standardwerken herangezogen und diskutiert werden. Gleichwohl empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf ältere Texte dieses Genres, die häufig auf Grund ihrer zeitlichen und sogar geistigen Nachbarschaft zur Endphase des europäischen Kolonialismus in der Nachkriegszeit wenig brauchbar sind.1 Dennoch liegt bereits mit Rupert Emersons Definition in der International Encyclopedia of the Social Sciences von 1968 eine praktikable Arbeitshypothese vor:
Colonialism is the establishment and maintenance, for an extended time, of rule over an alien people that is separate from and subordinate to the ruling power. It is no longer closely associated with the term ‚colonization‘, which involves the settlement abroad of people from a mother country as in the case of the ancient Greek colonies or the Americas. Colonialism has now come to be identified with rule over peoples of different race inhabiting lands separated by salt water from the imperial center; […].
Some further features of the ‚colonial situation‘2 are: domination of an alien minority, asserting racial and cultural superiority over a materially inferior native majority; contact between a machine-oriented civilization with Christian origins, a powerful economy, and a rapid rhythm of life and a non-Christian civilization that lacks machines and is marked by a backward economy and a slow rhythm of life; and the imposition of the first civilization upon the second.3
Dies entspricht im Wesentlichen auch den Ansätzen, die Jahrzehnte später zur Blütezeit der Post/Colonial Studies vorgetragen werden.4 Wesentlich ist dabei, dass der aus den antiken Kolonien sich herleitende Siedlungsgedanke revidiert worden ist zugunsten der Fokussierung auf eine externe, kulturell fremde Herrschaft, die sich selbst interventionistisch aufoktroyiert: „Modern colonialism was not characterized by settlements but by external control.“5 Oder, mit den Worten von Jürgen Osterhammel: „‚Kolonisation‘ bezeichnet im Kern einen Prozeß der Landnahme, ‚Kolonie‘ eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband,6 ‚Kolonialismus‘ ein Herrschaftsverhältnis.“7
Auch die meisten anderen Theoriebeiträge trachten, diese drei Begriffe von einander abzuheben. Wolfgang Reinhard schreibt etwa, ‚Kolonisierung‘ habe zwar prinzipiell mit „Migration“ zu tun; der Begriff verliere jedoch seine relativ neutrale Bedeutung (’Siedlungswesen’) im Lauf des 19. Jahrhunderts, was – so wäre hinzuzufügen – seiner breiten Anwendung und Aufladung im Rahmen eines gesamteuropäischen Kolonialismus Vorschub leistet:
We have no choice but to accept the change of meaning that colonialism has undergone, though we can try to neutralize political emotions. In this sense, colonialism can be defined as the control of one people by another, culturally different one, an unequal relationship which exploits differences of economic, political, and ideological development between the two.8
Reinhard macht drei Hauptmotive für den Kolonialismus namhaft: 1) „sozio-ökonomische Antriebe“9 bzw. der „Wille zur Modernisierung“, 2) „extensive Vorwärtsverteidigung“ (Expansionismus?) sowie 3) „ideologische, religiöse, kulturelle Antriebe“ (also die ‚missionarische‘ Seite der Kolonisation).10 Struktureller geht Osterhammel vor, der zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Begriffs drei wesentliche Faktoren formuliert, die im Fall des Kolonialismus verwirklicht sein müssten:
Erstens […] ein Verhältnis […], bei dem eine gesamte Gesellschaft ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die – vornehmlich wirtschaftlichen – Bedürfnisse der Kolonialherrn hin umgepolt wird. […]
Zweitens ist die Art der Fremdheit zwischen Kolonisierern und Kolonisierten von großer Bedeutung. […]
Der dritte Punkt schließlich hängt mit dem zweiten eng zusammen. Moderner Kolonialismus ist nicht nur ein strukturgeschichtlich beschreibbares Herrschaftsverhältnis, sondern zugleich auch eine besondere Interpretation dieses Verhältnisses.11
Gerade die dritte Facette der systemimmanenten Auto-Interpretation und Selbstrechtfertigung des Kolonialismus dürfte im Rahmen eines Theorietransfers auf die Habsburger Monarchie noch von besonderer Bedeutung sein.12 Mit Berücksichtigung des k.u.k. Kontexts hat im Übrigen auch Johannes Feichtinger eine erste Fokussierung der Begrifflichkeit versucht und „drei Spielarten“ des Kolonialismus unterschieden:
Einerseits durch direkte Machtausübung mit gleichzeitiger Implementierung fremder Kultursysteme, anderseits als indirekter Kulturkolonialismus, durch den autochtone kulturelle Strukturen überrollt werden, und schließlich als ein Kolonialismus, der sich auf die Ausbeutung ökonomischer Ressourcen anderer beschränkt.13
Feichtinger sieht das erste Szenario nach der Niederschlagung der Revolution in Ungarn 1849 gegeben.14 Das zweite Szenario, den „Kulturkolonialismus“, versteht er als Prozess, der von einer „Inklusion des Außen“ zu einer „Sinnentleerung“ bzw. „Exklusion des Anderen“ führt und schließlich zur „Entrückung des Anderen in eine Idealsphäre“ und zur „Entmündigung des Anderen“;15 Herfried Münkler spricht hier von einer „Kulturalisierung der Macht“, d.h. einer „Transformation“ von hard in soft power16 (und durchaus kompatibel dazu hat Serge Gruzinski von einer „colonisation de l’imaginaire“ gesprochen17). Damit kommt einem top-down Modell kultureller Manipulation und Knebelung (d.h. Bevormundung bzw. Entmündigung) der ‚Eingeborenen‘ große Bedeutung zu18 (was insbesondere in deren kultureller Repräsentation bzw. deren Widerstand ein zentrales Problem darstellt, wie wir noch sehen werden).19 Über Michael Mann20 hinausgehend ließe sich dann auch behaupten, dass der Kolonialismus nicht nur eine Form struktureller Gewalt, sondern – mit Foucault gesprochen – ein Dispositiv ist, d.h. ein Ineinander von Diskurs und Praxis.
Auf jeden Fall lässt sich Kolonialismus generell im Kern als Herrschaftspraxis jener Fremdbestimmung von Gebieten und Bevölkerungen bestimmen, die kulturelle Differenz (v.a. entlang von Kategorien wie ‚Rasse‘, Menschheitsentwicklung/‚Evolution‘, ‚Fortschritt‘ etc.) zur Rechtfertigung für die externe Machtübernahme im Rahmen einer „mission civilatrice“,21 „rule of law“,22 „white man’s burden“,23 o.ä. operationalisiert; als Konsequenz daraus wird politische Ungleichheit stipuliert und Gewalt rechtfertigt.24 Wie Münkler gezeigt hat, verfügte so ziemlich jedes historische Imperium über Narrative zur Legitimation der Herrschaft, deren Gewaltbereitsschaft und Expansion, d.h. eine selbst erteilte „Mission“ und komplementär zu deren Bestimmung ex negativo auch einen „Barbarendiskurs“.25 In Reinkultur ist dies etwa beim Franzosen Jules Harmand zu finden, einem der großen Stichwortgeber des Kolonialismus um 1900, so wie dies ein halbes Jahrhundert zuvor in Großbritannien Thomas Babington Macaulay war; eine der Schlussfolgerungen in Harmands Buch Domination et Colonisation (1910) lautet:
It is necessary then, to accept as a principle and point of departure the fact that there is a hierarchy of races and civilizations, and that we belong to the superior race and civilization, still recognizing that, while superiority confers rights, it imposes strict obligations in return. The basic legitimation of conquest over native peoples is the conviction of our superiority, not merely our mechanical, economic, and military superiority, but our moral superiority.26
Mehrere Autoren haben indes auf die schwierige Abgrenzung der historisch nicht unbelasteteten27 Begrifflichkeit des Imperialismus und des Kolonialismus hingewiesen. Diese ist aber durchaus zu leisten, indem man Letzteren als konkrete Ausprägung, Anwendungsfall bzw. konkrete Herrschaftspraxis des Ersteren (der dann als Oberbegriff fungiert) begreift, wie dies Hannah Arendt u.a. getan haben28 – ganz egal, wie man Imperialismus selbst im Einzelnen verstehten will.29 Hier ist auch in den letzten zwanzig Jahren eine gewisse post- und neomarxistische Renaissance dieser Terminologie zu bemerken,30 die in Anschluss an Michael Hardts and Antonio Negris Beststeller Empire von 2000 mit zum Boom sog. Imperial Studies als postkolonialer Nachfolgeformation an vielen Universitäten und Forschungseinrichtungen geführt haben mag.
Die Weitung des Fokus mag auch dazu beigetragen haben, dass eine in Anlehnung an die South Asian Subaltern Studies Group um die Jahrtausendwende herum entstandene lateinamerikanische Schule postkolonialer Theorie versucht hat, in der Nachfolge von Hardt und Negri den globalen Zusammenhang von Imperialismus/Kolonialismus und einer westlich geprägten Moderne insgesamt herauszustellen, insofern als sich diese beide notwendigerweise gegenseitig ermöglichen; dies geschieht unter dem Etikett der „Kolonialität der Macht“, das der peruanische Soziologe Aníbal Quijano entwickelt hat.31 Mit den Worten von Pablo Quintero und Sebastian Grabbe sind die „konzeptionellen Schwerpunkte“ in diesem Rahmen:
1) Der Versuch, die Ursprünge der Moderne in der Eroberung Amerikas und in der europäischen Hegemonie über den Atlantik ab Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts zu verorten. Dies im Gegensatz zur herkömmlichen Perspektive über die Moderne als Phänomen der Aufklärung, industriellen Revolution oder Reformation. 2) Ausgehend davon werden die durch den Kolonialismus entstehende Machtstruktur und die Gründungsdynamiken des modernen/kapitalistischen Weltsystems mit seinen spezifischen Akkumulations- und Ausbeutungsregimes auf globaler Ebene betont. 3) Dadurch wird die Moderne als ein weltweites Phänomen betrachtet, das durch asymmetrische Machtverhältnisse begründet wurde statt durch symmetrische Phänomenen innerhalb Europas […]. 4) Diese asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Europa und den anderen Weltregionen und -bevölkerungen stellt eine konstitutive Dimension der Moderne dar und impliziert notwendigerweise die Subalternisierung der Wissens- und Seinsformen der kolonisierten Weltbevölkerungen. 5) Die Subalternisierung des Großteils der Weltbevölkerung geschah durch eine spezielle und bisher nicht bekannte Form von sozialer Klassifikation […] anhand von, heute würde man sagen, phänotypischen Unterschieden zwischen Menschen sowie Geschlechts- und Sexualitätskonstruktionen. 6) Schließlich wird der Eurozentrismus als eine spezifische Wissensform und Produktionsweise innerhalb dieses globalen Machtmusters […] [etabliert].32
In Bezug auf den Kolonialismus als Teilaspekt des Imperialismus sind jedenfalls außer den genannten kulturellen und epistemologischen, (geo)politischen – und vor allem wirtschaftlichen33 – Parametern auch rechtliche Aspekte von Belang,34 wenn etwa das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (1959) „Kolonien“ definiert als
Gebietsteile, denen […] ein bestimmter, vom Regime des Hauptlandes verschiedener rechtlicher Sonderstatus zugewiesen worden ist […] Das rechtliche Sonderregime typischer Kolonialländer besteht in aller Regel darin, dass die Bevölkerung eines Kolonialgebiets nicht, oder jedenfalls nicht gleichberechtigt, am politischen Leben des Mutterlandes teilnimmt und dass sie ihrerseits auch in Bezug auf das Kolonialgebiet keine oder keine volle Selbstregierung besitzt.35
Fast alle konsultierten Werke schlagen nun zusätzlich zu diesen Definitionen einen Katalog von verschiedenen Kolonietypen vor: Das Handwörterbuch der Sozialwissenschaften unterscheidet etwa zwischen Gebieten, die Kolonien „im juristischen Sinne“ sind, von solchen, die „nur in sozialer Hinsicht kolonialen Status haben“.36 Ähnlich machen mehrere Historiker/innen bzw. Sozial- und Politikwissenschaftler/innen einen Unterschied zwischen „direkter“ und „indirekter“ Herrschaft (also etwa durch staatliche Verwaltungsorgane des Kolonisators oder durch einen dazwischen geschalteten körperschaftlichen Akteur wie z.B. die East India Company);37 parallel dazu zwischen einem Kolonialismus, der eher eine Assoziation mit dem Mutterland intendiert, dadurch aber gewisse kulturelle und politische Barrieren aufrechterhält (wie z.B. die Herrschaft der „Raj“ in British-Indien, 1858–1947), und einem solchen, der die Assimilation der Kolonie ans Mutterland, ja sogar deren Inkorporation anstrebt (wie etwa im Falle von Frankreich und seinen „departements outre-mer“ in Algerien).38 Typologisch wird weiters zwischen Siedlungskolonien („die den Bevölkerungsüberschuss des Mutterlandes aufnehmen“ – z.B. USA, Australien, Neuseeland), Ausbeutungskolonien (z.B. die Kolonien in Lateinamerika und der Karibik), Handelskolonien (wie etwa die Besitzungen der venezianischen Republik am Mittelmeer), strategischen Kolonien (z.B. Hongkong, Gibraltar) und Kolonien für besondere Zwecke (z.B. Strafkolonien, Wetterstationen u.Ä.) differenziert.39 Reinhard dagegen – wie auch Osterhammel und Young – folgt Jules Harmand (1910), wenn er lediglich zwischen Herrschafts-, Stützpunkt- und Siedlungskolonien unterscheidet.40
Für unsere Themenstellung außerdem von Belang dürfte die mehrfach versuchte Ausweitung des Koloniebegriffs sein. Reinhard etwa verwendet den Terminus semicolonies für China und das Osmanische Reich um 1900.41 Außerdem verweist Emerson auf belgische Bestrebungen in der Frühzeit der Vereinten Nationen „to broaden the concept of colonialism to include all ethnically distinct minorites discriminated against in their home countries“ – ein Vorstoß, der von der UNO abgelehnt worden ist.42
Hodder-Williams wiederum versucht, einen internal colonialism zu beschreiben als „broadly similar processes at work within a single state. Thus, particular groups, through their dominance of political and economic power, ensured that other groups are kept in long-term subservience“; als Beispiel dafür werden die Ostbengalen in Pakistan angeführt.43 Ausschlaggebend für die Diskussion dieses Terms im europäischen Kontext war Michael Hechters bereits erwähntes Buch Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British National Development, 1536–1966 von 1975, das die englische Herrschaft über die „keltischen Randgebiete“ Großbritanniens – Irland, Schottland und Wales – unter diesem Blickwinkel gleichsam als Parallelaktion bzw. Vorwegnahme eines britischen Übersee-Imperialismus beleuchtet; ebenso liegen Versuche eines Theorietransfers auf die russische bzw. sowjetische Expansion in Zentralasien und Osteuropa vor.44 Aber schon der Beitrag im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften von 1958 hatte darauf verwiesen, dass es durchaus vorkomme, „dass Gebiete, welche soziologisch Kolonialland sind, ohne rechtliche Sonderregelung als Bestandteil des Hauptlandes regiert werden, so etwa Sibirien als Teil Rußlands oder die Mandschurei als Provinz Chinas“ (und Algerien innerhalb Frankreichs).45 Young sieht ebenso die polnischen Teilungen im späten 18. Jahrhundert unter einem kolonialen Vorzeichen.46
Ansätze in Richtung einer inneren Kolonisierung schlagen auch Edward Said47 und Hannah Arendt48 vor, im letzteren Fall in dezidierter Anlehnung an den Gegensatz von „Landtretern“ und „Meerschäumern“, d.h. Kontinentalreichen und einem maritimen Kolonialismus bei Carl Schmitt.49 In Folge wird der viel diskutierte50 Begriff aber als Konsequenz seiner zunehmenden Polyvalenz immer unschärfer (vor allem, wenn er etwa von Andrea Allerkamp doppeldeutig psychologisiert und ins Individuum selbst verlegt wird51). Auf der anderen Seite würde jedoch auch eine Differenzierung zwischen innerem und kontinentalem Kolonialismus, die auf der Unterscheidung eines Diesseits von einem Jenseits imperialer Staatsgrenzen auf demselben Erdteil beruht, durchaus Sinn machen.52
Aus dieser kurzen Darstellung der sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit von Kolonie bzw. Kolonialismus sollte indes hervorgegangen sein, dass Österreich-Ungarn um 1900 kein Kolonialreich im engeren Sinn gewesen sein bzw. gehabt haben kann:53 Weder das Moment großer (überseeischer) Entfernung noch jenes großer kultureller Differenz kann für seine multiethnischen Herrschaftsverhältnisse geltend gemacht werden – es sei denn, man besteht darauf, dass es sich hier lediglich um quantitative bzw. graduelle Unterschiede handelt. Hiermit liefe man aber möglicherweise Gefahr, durch Nivellierung der Betrachtungsweise die großen Menschheitsverbrechen des zeitgenössischen europäischen Kolonialismus in Afrika und Asien – wie etwa den Genozid im Belgisch-Kongo54 um 1900 – zu verharmlosen.
Dennoch gilt, was Walter Sauer moniert hat, nämlich dass mit dem Mantra der Nicht-Existenz österreichisch-ungarischer Überseekolonien sich für die meisten Forscher/innen jede Diskussion überhaupt erübrige, inwieweit es koloniale Tendenzen im späten Habsburger Reich gegeben habe; dieses Denkklischee gelte es freilich kritisch zu überprüfen:55
The silence regarding Austria in academic debate corresponds with the attitude in national […] discourse. Far from entering a discourse of whether or not imperialist or colonialist tendencies are to be found in the country’s history, and if so, the discussion is largely based on the assumption that Austria was not a colonial power […].56
Sauers eigener Studie K.u.k. kolonial (2002) kommt indes das Verdienst zu, die vergessenen oder verdrängten kolonialen Projekte der Habsburger Monarchie dem Vergessen entrissen zu zu haben: Sokotra 1857/58, die Nikobaren 1858, die Salomonen 1895/96, weiters die Westsahara 1899 und Südostanatolien 1913; 1901–14 schließlich wurden sechs Quadratkilometer Land bei der Hafenstadt Tientsin von k.u.k. Truppen besetzt – als eine Art österreichisch-ungarisches Hongkong in China.57 Zudem gab es koloniale Begehrlichkeiten als Folge des Suezkanal-Baus (und der diesbezüglich günstigen Lage der Hafenstadt Triest) sowie im Rahmen der Sudan-Mission.58 Sauer kommt dann freilich zu dem Schluss: „Die Monarchie war mit Sicherheit kein Kolonialstaat. Sie war jedoch auch keine antikoloniale Kraft“,59 denn „[a]uch als ‚Großmacht ohne Kolonien‘“ habe sich Österreich-Ungarn „dem imperialistischen Grundkonsens der europäischen Mächte verpflichtet“ gefühlt.60
Dies greift vielleicht etwas zu kurz, wie im Folgenden ausgeführt werden wird. In diesem Sinne soll ein erster Schritt gleichsam zu einer Erfassung des einschlägigen kollektiven Unbewussten der ‚kakanischen‘ Kultur/en (nach den Pionierarbeiten von Sauer, Csáky/Feichtinger/Prutsch und diversen eigenen Beiträgen des Kakanien revisited-Teams) unternommen werden; dies ist eines der vordringlichsten Anliegen der vorliegenden Monografie. Darüber hinaus gilt es freilich auch, potenzielle politische und kulturelle Parallelaktionen zum Kolonialismus der anderen europäischen Großmächte namhaft zu machen; diese Frageperspektive ist schon von Valentina Glajar 2001 unter Bezugnahme auf prominente Forschungsmeinungen kompakt zusammengefasst worden:
While historians such as Oscar Jászi and Ferenc Eckhart argued that the eastern and southeastern regions of the Habsburg Empire functioned as internal colonies for Austro-Germans and, in part, for Hungarians, postcolonial critics have rarely considered Austria-Hungary as a case of colonialism. Katherine Arens criticizes postcolonial theorists such as Edward Said and Homi Bhabha, who base their theories on the British or French Empires yet ignore the case of Austria-Hungary. While the paradigms developed for the French and British Empires might not be entirely applicable to the Habsburg Empire, they are defined in terms of the East-versus-West distinction that was also at the core of the Habsburg expansion to the East. Just like the British and the French colonizers, the Habsburgs had a mission civilisatrice in the ‚barbaric‘ East. The Habsburgs’ belief in a ‚superior‘ German culture and civilization was employed to justify their political, cultural, and economic mission in eastern Europe. Unlike the British and French rule in Africa, Asia, and Latin America, however, the Habsburgs’ rule was not characterized by terror or massacre, nor was the conflict colonizer-versus-colonized always spelled out in racial terms.61
Die überzeugendste Fallstudie für eine Kolonialismusdebatte in diesem Sinne dürfte wohl Bosnien-Herzegowina darstellen, dessen militärische Okkupation (1878), Verwaltung und Annexion (1908) durch die Habsburger Monarchie gewisse (quasi)koloniale Züge eignen, wie dies z.B. schon die Historiker Robert Donia und Raymond Detrez behauptet haben:62 So etwa die Tatsache, dass die Bosnier/innen vorderhand über kein politisches Mitbestimmungsrecht innerhalb der Parlamente der Monarchie verfügten wie deren anderen „Völker“ und damit so etwas zu k.u.k. Bürger/innen 2. Klasse wurden.63 (Für eine genaue Bestimmung dieses komplexen Kolonialismus-Szenarios ist freilich eine nähere Untersuchung vonnöten, die im Folgenden Gegenstand eines eigenen Kapitels [C.0] sein wird, das den Bosnien-Abschnitt der vorliegenden Studie einleitet.)