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9. Abschluss & Ausblick
ОглавлениеEgal, wie hoch man nun – mit Bhabha – den subversiven Faktor oder – mit Foucault bzw. Said – die repressive Wirkungsmacht ethnischer, sozialer oder geschlechtlicher Stereotypen für die Formierung von Identitäten ansetzt, bleibt doch für eine narratologisch inspirierte kulturwissenschaftliche Forschung von Belang, dass solche Bildformungen prinzipiell auch in literarischen Texten niemals ‚unschuldig‘ (wenn auch mitunter ‚unbewusst‘) und schon gar nicht ‚interesselos‘ sind. In der Reiseliteratur stammen sie meist weniger aus einer erfahrenen Realität, sondern vielmehr aus der Intertexualität, und sind von dort in die ‚Wirklichkeit‘ projiziert, d.h. hineingelegt worden; sie helfen mit, diese zu konstruieren. Dies wird etwa bei einer prominenten Orientreise der Jahrhundertwende explizit, jener von Walter Rathenau, wenn sich der „Großschriftsteller“ beklagt:
Nun der Orient! Nach drei Tagen läßt sich nicht viel urteilen, aber soviel scheint mir: Leben und Menschen sind interessant. Landschaft, Kunst, Publikum nicht überwältigend. Was ich erwartete, finde ich vollständig; ein semitisches Volk in Freiheit dressiert, polnische Juden im unverkümmerten Zustand. Die Straßen und Basare genauso, wie du sie dir vorstellst, Esel, Kamele, Menschen, Verkäufer, Kinder, vermummte Frau[en], Geschrei, Gestank, Sonne, Hitze – kurz es stimmt alles.1
Der Reisende findet und schreibt, was er aus anderen Texten kannte, ja er projiziert sogar die kulturellen Differenzen ‚seines‘ Zentraleuropas in den Orient – und „es stimmt alles“.2 Aber was ist dann die Aufgabe der Forschung angesichts dieser Zirkularität von Erwartungshorizont und Realitätskonstruktion im Narrativ? Konkret aufgezeigt werden kann die Verortung der Stereotypen in einer konkreten historischen Situation und ihre prinzipiell ambivalente Anlage, analog der ihnen zugrunde liegenden Dialektik von Angst/Begehren und epistemischer Kontrolle, die wohl charakteristisch ist für jede Annäherung an das/die Fremde in der westlichen Moderne:3 So oszilliert denn das Bild des Anderen meist zwischen dem des schrecklichen Barbaren und jenem des ‚edlen Wilden‘, von dem man ein ‚besseres Leben‘ lernen kann, oder der ‚schönen Fremden‘, der(en) sich der westliche Mensch – oder vielmehr meist: Mann – (sexuell) bemächtigen möchte.4
Weiters ist auffällig, wie willkürlich die Stereotypen im offensiven Fremdbild des „othering“5 (Spivak) sind, aber dennoch – wie schon Tajfel aufgefallen ist – der stigmatisierten6 Gruppe hartnäckig anzuhaften scheinen, auch wenn sie prinzipiell rekodierbar7 sind (Ob man deshalb mit Judith Butler und Jacques Derrida allzu viel Hoffnung in eine redigierende „Wiedereinschreibung“ setzen darf,8 muss dahingestellt bleiben.).
Auffällig ist vor allem aber, dass die Willkürlichkeit der Stereotypen doch einigen fest gefügten Redefiguren folgt.9 So erscheinen beherrschte Ethnien aus der Sicht einer hegemonialen Kultur nachgerade uniform als ‚faul‘, wenig(er) intelligent, rückständig, moralisch fragwürdig, kurzum: der Erziehung durch den Hegemon bedürftig – egal, ob von Finnen im zaristischen Russland, Afrikanern oder Indern im British Empire oder Bosniern in Österreich-Ungarn oder Jugoslawien die Rede ist.10 Jene Topoi wirken wie virtuelle Eröffnungszüge auf dem Schachbrett kultureller Narrative und politischer Rhetorik, die in einer bestimmten historischen Situation aufgerufen werden – aber auch deaktiviert werden können, wenn sich die ideologische Motivation ändert.11 Diese scheinbar willkürliche De- und Rekodierung des Anderen erfolgt in Form eines „Blickregimes“12 bzw. im Rahmen einer „Bildpolitik“ (Mahasweta Sengupta spricht von einer „tyranny of representation“),13 die kulturwissenschaftlich als diskursive Formation beschreibbar ist. Dies könnte nun in einer Form geschehen, die weitgehend dem von Joep Leerssen vorgeschlagenen Arbeitsprogramm14 für eine künftige Imagologie folgt:
„literature (as well as more recent poetically-ruled and fictional-narrative media such as cinema or the compic strip) is a privileged15 genre for the dissemination of stereotypes“ – Literatur wird damit zu einem geeigneten Medium zur Erforschung von „long-durée topics“ wie etwa nationaler Stereotypen;
„images work […] primarily because of their intertextual tropicality. They […] obtain familiarity by dint of repetition and mutual resemblance.“
„Imagology is concerned with the representamen, representations as textual strategies and as discourse“;
„its aim is to understand a discourse of representation rather than a society“.16
Weiters gelte die Unterscheidung zwischen „the spected“ and „the spectant“, die immer zusammen zu sehen seien: „The nationally represented (the spected) is silhouetted in the perspectival context of the representing text or discourse (the spectant).“
„Imagology addresses a specific set of characterizations and attributes“, die in ihrer Allgemeinheit nicht überprüfbar sind und sich als ‚Fakten‘ gerieren: „These are here called imaginated.“ (Z.B. der Satz: „The French are freedom-loving individualists.“)
„The first task is to establish the intertext of a given national representation as trope.“
„The trope must also be contextualized within the text of its occurrence.“
„Historical contextualization is also necessary.“
Die hier vorgeschlagene „pragmatisch-funktionalistische Perspektive“17 für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Imagologie zeichnet sich also durch folgende zentrale features aus:
1 Sie vermeidet die Mentalismus-Problematik, indem sie sich auf kulturelle Repräsentationen bezieht, und sich damit für eine undogmatische (und doch potenziell auch für Sozialpsycholog/inn/en und Anthropolog/inn/en anschlussfähige) Version des Konstruktivismus entscheidet.
2 Dies hat auch zur Konsequenz, dass die imag(in)es eher als eine kulturelle Rhetorik bzw. Grammatik gefasst werden denn als mentale Repräsentationen; sie sind daher im Rahmen einer Topik beschreibbar.18
3 Die psychische und kognitive Wirkungsweise der Stereotypen bleibt den damit befassten Fachdisziplinen überlassen, wobei mit der Dynamik von Angst und Begehren und dem freudianischen Moment des Narzissmus auch für die Kulturwissenschaften eine wichtige Arbeitshypothese gewonnen scheint, die sich damit trotz ihrer narratologisch-konstruktivistischen Ausrichtung nicht prinzipiell einer plausiblen psychologischen Konzeptualisierung der Repräsentationen widersetzt.
4 Welleks Vorwurf der Eliminierung der ästhetischen Besonderheit des einzelnen Texts zugunsten des Kontexts wird damit entkräftet, dass jeweils beide mitgedacht werden in einer Auffassung von Literatur, die diese als Möglichkeit der Affirmation wie der Subversion sieht und Ambivalenzen nicht begradigt, sondern zur Sprache bringt.19
5 Hier gilt es auch, eine weitere Anregung Leerssens in Bezug auf einen „pragmatic turn“ aufzugreifen und im Rahmen künftiger sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung auf den Umgang der Rezipien/inn/ten mit den Stereotypen zu achten und damit gewissermaßen auch auf deren Rezeptionsästhetik.20
Wenn man auf die systemischen Zusammenhänge der Dissemination der Bilder fokussiert, könnte man hier wohl auch mit Pierre Bourdieu von einer Bildökonomie sprechen – in Anbetracht der Tatsache, dass die stereotypen imag(in)es als Bestandteil von publizierten Texten auf einem kulturellen Markt um Leser/innen-Zuspruch werben und in einem eigentümlichen Verhältnis zu einer ‚Volkswirtschaft‘ kursieren, die Menschen als Produzent/inn/en und Konsument/inn/en nicht nur kultureller Differenz, sondern auch den Hierarchisierungen von wirtschaftlichem Erfolg und Marktzyklen – kurzum: einer Sozio- und Kulturökonomie21 – unterwirft. Exemplarisch hat dies der deutsche Afroromanist János Riesz formuliert: „Der Kampf um das erwünschte Bild (image) findet in allen Lebensbereichen statt: politisch ist er ein Teil eines globalen Machtkampfes, ökonomisch […] ein wichtiger Teil unserer ‚freien Marktwirtschaft‘, Teil des Kampfes um Marktanteile […]“.22 Hier mag ein kurzer und fast schon abgeschmackter Blick in die Medienlandschaft genügen, um zu zeigen, dass Stereotypen nicht nur (wenn auch ambivalente) rhetorische Mittel der politischen Legitimation, sondern ebenso Waren sind; sie appellieren konsumistisch an die narzisstische Spannung von Angst und Begehren, die sie letztlich auch hervorgebracht hat.
Hier ist nun der Punkt, um den Kolonialismus-Faden des letzten Kapitels (A.1) wieder aufzugreifen. Auf dem verbliebenen Raum wäre zu fragen, wie die in der Diskussion gewonnenen Erkenntnisse und Resultate – so provisorisch sie mitunter auch sein mögen – auf die anschließenden Fallstudien umzulegen wären. In diesem Sinne soll ein vorläufiges Arbeitsprogramm formuliert werden.