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6. Sozi(alpsych)ologische Stereotypen-Forschung nach Lippmann

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For the most part we do not first see, and then define, we define and then see.1

The way in which the world is imagined determines at any particular moment what men will do.2

[…] whatever we believe to be a true picture, we treat it as if it were the environment

itself.3

Dies sind drei kurze, aber repräsentative Zitate aus Public Opinion (1922), einem eher essayistischen, aber impulsgebenden Werk des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann, mit dem eine sozi(alpsych)ologische Erforschung der Stereotypen ihren Anfang nahm.4 Lippmann bezeichnet sie als „the pictures in our head“,5 die dem Akt der Wahrnehmung vorausgehen und ihn soziokulturell präformieren (s.o.); damit sind zugleich auch von Anfang an zwei Positionen präsent, die jede spätere Konzeptualisierung des Phänomens beeinflusst haben: Mentalismus und kognitiver Konstruktivismus.6

Aktueller als Lippmann hat das Team rund um den belgischen Sozialpsychologen Jacques-Philippe Leyens Stereotypen als „shared beliefs about person attributes, usally personality traits but often also behaviours of a group of people“ definiert,7 die Kulturen als eine Art kognitiver Kurzschrift ihres vermeintlichen Basiswissens vom Anderen diene („a means of shorthand for a vast amount of data“8). Den Forschungsstand subsumierend sieht auch Ruth Florack Stereotypen als „Menge von Zuschreibungen mit Bewertungs- und Einstellungsimplikationen“,9 die „trotz wechselnder Kontexte im wesentlichen gleichbleiben“;10 es seien „durch Tradition verbürgte Attribute, welche die Grup­penzugehörigkeit markieren: als Textelemente verweisen nationale Stereo­type auf das (rudimentäre) Wissen, das die Leser über ein Volk haben“11.

Es handelt sich also gleichsam um „sozio-kulturell gefrorene Bilder“,12 mit denen die eigene sozial etablierte in-group von einer fremden out-group abgegrenzt wird,13 d.h. um Identität stiftende Elemente des kulturellen Wissens bzw. kollektiven Gedächtnisses. Diese „Wahrnehmungsschemata“14 sind, wie Forscher/innen nach Lippmann herausgearbeitet haben, auf drei Ebenen wirksam: kognitiv (Vorstellungen, Bilder), affektiv (Gefühle) und konativ (Disposition für Verhalten).15 Stereotypen sind damit keineswegs neutrale16 rhetorisch-kognitive Mittel zur Verallgemeinerung bzw. Komplexitätsreduktion17, sondern auch Formen symbolischer Machtausübung18 im Rahmen gesellschaftlicher und internationaler Herrschaftsverhältnisse: „Es sind, wie schon Dyserink schreibt, von Menschen hergestellte ‚Gegenstände‘, die wieder auf die Menschheit einwirken können, wobei es später u.U. nicht einmal mehr möglich ist, diese Einwirkung hinreichend zu kontrollieren bzw. in den Griff zu bekommen.“19

Das von Lippmann geschaffene Untersuchungsfeld wurde jedenfalls innerhalb der Sozialpsychologie und Kommunikationswissenschaft der 1970er und 1980er Jahre von Forschern der Social Identity-Tradition wie John C. Turner, Henri Tajfel und Serge Moscovici weiter bearbeitet.20 Aus Tajfels zentralem Text Social Stereotypes and Social Groups (1981) stammt auch folgende Auflistung von „key functions“, die charakteristisch für die Wirkungsweise von Stereotypenbildungen seien:21

 „social causality“: sie erklären komplexe und problematische Ereignisse;

 „justificatory“: sie dienen z.B. der diskursiven Legitimation von Kriegen und anderen sozialen Handlungen;

 „variations of themes“: Stereotypen ändern sich selten drastisch;

 „differentiation from other groups (identity function)“: Selbstbestätigung durch Bilder des Fremden (s.o.);

 „outgroup homogenity effect“: Komplexitätsreduktion dem Anderen oder Fremden gegenüber;

 „self-stereotyping“: die Produktion von Auto-Stereotypen und Übernahme von Hetero-Stereotypen22 durch die betroffene Gruppe selbst.

Angesichts des steigenden Problembewusstseins, dass es sich bei Stereotypen nicht nur um psychisch-kognitive Phänomene, sondern vor allem um Formen einer kulturellen Repräsentation des sozial, geschlechtlich oder ethnisch Anderen handelt, kam es schließlich zu einem (konstruktivistischen) „discursive turn“ innerhalb der Forschung.23 Wenn Stereotypisierung nun ein diskursiver Apparat ist, dann setzt sich dieser wie jede Form der Repräsentation bzw. Kommunikation aus mehreren interaktiven Faktoren zusammen. Er umfasst also nicht nur die Produktion von Stereotypen (ihr encoding), sondern auch ihre Medialität (den channel ihrer Vermittlung), ihren Kontext sowie ihre Rezeption (decoding);24 auf diesen Aspekt hat beispielsweise die französische Forscherin Ruth Amossy in einer Wiedergabe der zeitgenössischen Diskussion hingewiesen:

Das Stereotyp lässt sich als Äquivalent des standardisierten Objekts im kulturellen Bereich verstehen, als das vorgefertigte, sich immer ähnelnde Bild, das monoton in den Bildern und in den Texten zirkuliert. […] Seine Umrisse sind [jedoch] nicht eindeutig festgelegt: dem jeweiligen Kontext und der jeweiligen Entzifferung entsprechend lösen sie sich unablässig auf und setzen sich neu zusammen. […]

Das Stereotyp existiert nicht als solches. Es zeigt sich nur dem kritischen Betrachter oder dem Benutzer, der spontan die Vorbilder seines Kollektivs wiedererkennt. Es taucht auf, wenn wir, indem wir die sogenannten charakteristischen Attribute einer Gruppe oder einer Situation auswählen, ein bestimmtes Schema rekonstruieren. Daher sollten wir besser von Stereotypisierung sprechen, von der Tätigkeit, die aus der Unüberschaubarkeit der Wirklichkeit oder des Textes ein starres, vom Kollektiv geteiltes Muster heraushebt. […] Das Stereotyp ist eine programmierte Lesart der Wirklichkeit oder des Textes.25

So gesehen gäbe es keinen Ausweg aus dem Stereotyp, denn eine noch so kritische (oder ironische) Lektüre aktualisiert es. Allerdings erwies sich in der Forschungsdiskussion auch das einsinnige Konzept eines verzerrten und gesellschaftlich oktroyierten Bilds des Anderen, wodurch das Stereotyp zu einem Paradefall für „falsches Bewusstsein“ (Marx) bzw. „Hegemonie“ (Gramsci) wird, als wenig zielführend. Dennoch steht auch außer Zweifel, dass stereotype Fremd- und Feindbilder Mittel „symbolischer Macht-“ (Bourdieu) bzw. „epistemischer Gewalt“ausübung (Spivak) innerhalb einer kulturellen Hegemonie sind,26 in der herrschende Gruppen die von ihnen Marginalisierten auch durch eine Ökonomie der Bilder kontrollieren, in einer bestimmten Position halten, ja ausgrenzen; und zweifelsohne sind Stereotypen auch wesentliche Waffen, wenn „Hass spricht“, um es in Anlehnung an den Titel von Judith Butlers Analyse der hate speech27 zu formulieren. Im kolonialen Kontext konstituieren sie mit den Worten Abdul JanMohameds eine „manichäische Allegorie“,28 die Ungleichheit legitimieren soll – deren Pole aber freilich nicht so stabil sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen.

Habsburgs 'Dark Continent'

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