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Der Genuss
ОглавлениеDer Genuss zeugt von jenem Überschuss an Realität, der erklärt, dass die Welt nicht ganz konstituierbar ist und man daher von ihr wie von einem Nahrungsmittel sprechen kann. Er verweist auf die elementalen Strukturen der Welt: „Im Genuß kehren die Dinge zu ihren elementalen Qualitäten zurück“37, ohne dass man herausfinden will, ob die sekundären Qualitäten, die die Grundlage meiner Sinneseindrücke bilden, der objektiven Realität, also einem außerhalb von mir wahrgenommenen Wirklichen, entsprechen. Der Sinneseindruck zielt nicht auf das Objekt, er fällt nicht in dieselbe Kategorie wie die Erkenntnis und die Wahrnehmung, die sich beide auf ein transzendentes Objekt beziehen. Er hat jedoch seine eigene Wahrheit oder vielmehr, er hat, wie Levinas sagt, seine Aufrichtigkeit im Haften an einem Inhalt, der mich befriedigt. Wie bei Descartes, dessen Philosophie des Sinnlichen der Autor von Totalität und Unendlichkeit seine Reverenz erweist, erlauben mir die Sinneseindrücke, mich in der Welt zu orientieren und zu wissen, was mir nutzt, mir zuträglich ist, und was ich mag.38 In der Empfindung gibt es keine Äußerlichkeit, weil ich in ein Universum von Eigenschaften ohne Gestalt eintauche – was Levinas das Element nennt – und die Vorgängigkeit der sinnlichen Elemente vor der gesamten umgebenden Welt die eines affektiven Gehalts ist39: Die Sensibilität dringt ins Element ein.
„Dieser Biß, dieser Zugriff auf die Sachen“, der den Akt des Essens exemplarisch illustriert, drückt die Umkehrbarkeit des Konstituierten zum Konstituierenden aus, das Umschlagen der konstituierten Welt in die Bedingung meiner Existenz.40 Das ist der spezifische Beitrag der Phänomenologie von Levinas: Sich abgrenzend von Husserl, für den die Intentionalität noch eine eindeutige Relation bezeichnet, in der das konstituierende Subjekt vom konstituierten Objekt unterschieden wird, bestätigt Levinas radikal die Sensibilität des Subjekts und unterstreicht meine Abhängigkeit von der Welt und zugleich die Großzügigkeit eben dieser Welt, die ich konstituiere und in die ich eintauche.
Indem er diesen Überschuss ausdrückt, bringt der Genuss auch eine Form von Übereinstimmung oder Harmonie zwischen mir und der Welt zum Ausdruck, es erscheint leicht, glücklich zu sein, das Glück, ob wir es nun anerkennen oder es vergessen haben, scheint diese Leichtigkeit zu sein, dieses Einverständnis mit den Dingen, die uns nähren. Es gibt Lust, weil die Inhalte, die meine Lebensgrundlage bilden, sofort als Zwecke erstrebt werden „und der Verfolg dieses Zwecks wird seinerseits Zweck“.41 Die Welt ist Nahrung, und dass ich mich nähre, bezeugt einen ursprünglichen Bezug zu den Dingen und eine Genussbeziehung, in der ich nicht esse, um zu leben, sondern in der Essen Leben ist. So strebe ich nach dem, was ich zum Leben brauche, und weil das mein Leben erfüllt und mich befriedigt, nähre ich mich sogleich von diesen Tätigkeiten, die mich leben lassen. Das Glück beschreibt diese Unabhängigkeit in der Abhängigkeit, die sich in eine Souveränität des Ichs verwandelt, weil dieses an den Dingen Gefallen findet, die es leben lassen. Sie sind immer „mehr als das im engen Sinne Notwendige, sie machen die Anmut, den Reiz des Lebens aus“.42
Sicherlich ist dieses Glück unstet, denn die Nahrung kann ausbleiben. Diese Inhalte des Lebens, die seinen Wert ausmachen oder aber seine Bedürftigkeit aufdecken, sind nicht mein Sein. Sie unterscheiden sich von meinem Wesen, und ich muss sie mir beschaffen oder mit Mühe erarbeiten. Mein Glück kann also zerbrechlich und meine Existenz prekär sein, aber sie ist nicht vom Ursprung her im Modus der Verlorenheit oder des Geworfenseins zu denken.43 Wenn man die Welt als Nahrung bezeichnet und bedenkt, dass die Nahrung von mir verschieden ist, besteht man im Gegenteil darauf, dass das Leben „schon eh und je […] geliebt“ wird und dass mein erster Bezug zu den Dingen im Genuss besteht. Es gibt ein Glück, das mit der einfachen Tatsache des Lebens einhergeht.44 Die sozialen Verhältnisse können dieses Glück unerreichbar machen oder es bedrohen. Dennoch, die Analytik des Genusses, die Levinas in Totalität und Unendlichkeit der Ontologie der Sorge entgegensetzt, lehnt es ab, wie Heidegger die erste und ursprüngliche Bedingung des Menschen als tragisch zu denken.
Weit davon entfernt, die Not mehrerer Milliarden hungernder oder unter Unterernährung leidender Menschen zu leugnen, klagt diese Betonung des abgeleiteten oder sekundären Charakters des Elends eine ungerechte soziale und ökonomische Ordnung vielmehr an. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir die globale Ernährungskrise betrachten, die weder von einem Mangel an Waren noch vom Bevölkerungswachstum herrührt, sondern vom Versagen unserer Ökonomie, und die unsere politische Verantwortung unterstreicht. Zunächst aber geht es darum, durch eine Philosophie der Körperlichkeit, die es erlaubt, die von den westlichen Denkern oft vernachlässigten Strukturen der Existenz freizulegen, auf dem existenziellen Charakter des Genusses zu bestehen.
Dass dieser dazu dient, „ihr [der Welt, Anm. d. Übers.] elementales Wesen aufzusprengen und zu entfalten“, bezeugt „die bleibende Wahrheit der hedonistischen Moraltheorien: Es kommt darauf an, nicht hinter der Befriedigung der Bedürfnisse eine Ordnung zu suchen, die der Befriedigung erst einen Wert verleiht“, sondern „man muß die Befriedigung, die der eigentliche Sinn der Lust ist, als Endpunkt nehmen.“45 Diese Wahrheit des Hedonismus setzt jedoch voraus, dass man das menschliche Wesen nicht als abstrakt, als abgeschnitten von der Materialität seiner Existenz auffasst, um dann in seinem Bedürfnis eine Begrenzung seiner Freiheit zu finden, die den tragischen Charakter der condition humaine beweist. Wenn man die Körperlichkeit des Subjekts wirklich ernst nimmt, kann man das Bedürfnis nicht mehr einfach als Entbehrung denken oder meinen, dass die unserer Macht gesetzten Grenzen unsere Verlorenheit spiegeln. Der Hedonismus, der sich aus dieser Philosophie des Sinnlichen ableiten lässt, hat also weder ein vom Tod besessenes Denken als Hintergrund noch bedauert er, dass das Leben nicht so beschaffen ist, dass man genießen kann, ohne mit seinem Willen auf Hindernisse zu stoßen.
Wenn genießen also bedeutet, das Element zu berühren und die elementale Struktur der Welt herauszustellen, bezieht man sich auf einen Hedonismus, der sich von dem Epikurs unterscheidet. Denn dieser gewinnt seine Bedeutung nur daraus, dass er von den Grenzen besessen ist, innerhalb derer man seine Wünsche halten muss, um nicht zu leiden. Anders als bei dem antiken Philosophen, für den Hedonismus eine Weisheit ist, geht es hier nicht darum, an seiner Selbstdarstellung zu arbeiten. Ebenso wenig geht es darum, sein Leben zu gestalten oder die Kunst des Genusses zu pflegen, um von dem einzigen in Reichweite befindlichen Gut, der Gegenwart, zu profitieren und dem Tod „nur einen bis zum letzten Feuer verbrannten Körper“ 46 zu überlassen, wie Michel Onfray sagt, für den der hedonistische Engel, der sich mit Thanatos misst, das Antlitz eines Herausforderers trägt. Der hier gemeinte Hedonismus ist weder Anstrengung des Ich, noch Moral. Er bezeichnet das ursprüngliche Verhältnis, das wir zur Welt und ihren Inhalten haben, nicht das, was wir tun müssen, um gut zu leben. Was er dennoch mit dem Hedonismus Onfrays gemein hat, ist, wie letzterer dazu einlädt, den Menschen in seinen Körper zurückkehren zu lassen – sogar in seinen Bauch.
Wichtig ist, den Hedonismus aus jeder Moral herauszunehmen, um das Verhältnis des Menschen zur Welt so zu beschreiben, wie es sich in den Sinneserfahrungen ausdrückt, besonders im Geschmack, der von allen Sinnen am weitesten von der Repräsentation entfernt ist. Wenn ich in einen Apfel beiße, wenn mir ein Nahrungsmittel auf der Zunge liegt, wenn ich es einnehme, mir einverleibe und eine Energie daraus gewinne, die mich stärkt, befinde ich mich in einer Beziehung zu den Dingen und zur Umwelt, die eine Wahrheit über die Welt und mich ausdrückt.
Um diese Wahrheit freizulegen und zu formulieren, müssen wir aufhören, im Bedürfnis einen Mangel zu sehen – wir essen nicht nur, um eine Leere zu füllen. Nicht nur ist der Körper, der uns genießen lässt, kein Feind, sondern überdies ist die Welt auch Nahrung. Das Glück selbst, auch wenn es nur eine Atempause ist, weil es an Nahrung mangeln kann, ist als solches eine an sich selbst erlebte Erfüllung, eine Begeisterung, die an die Fremd- oder Andersartigkeit der Elemente gebunden ist, die meinem Geschmack entgegenkommen, meine Kräfte wiederherstellen und meine Vitalität stärken. Das menschliche Leben ist nicht zuerst und wesentlich als verzweifelter Wettlauf zum Tod zu verstehen. Wenn man das Leben als Ausführen eines Programmes oder Fügen in sein Schicksal begreift, hilft das wenig dabei, den Sinn der Existenz zu erfassen oder die grundlegenden Strukturen freizulegen, die unser In-der-Welt-Sein erhellen, das ein Mit-den-Dingen-Sein und ein Bewohnen der Erde ist.
Den Genuss als Existenzial zu denken, heißt ein Gourmand-Ego zu entdecken, das auch ein Gourmand-Cogito ist. Für dieses ist das Bedürfnis nicht zuerst eine Sorge um die Existenz, sondern ein Verlangen nach Nahrung, das sofort in die Lust an der Nahrung und dann in die Suche nach dieser Lust oder nach dem, was sie noch intensiver oder subtiler machen kann, umschlägt. Wir befinden uns dann ganz nahe an unserer Realität, an ihrer Konkretheit (concrétude) – im Französischen etymologisch mit dem verbunden, was uns wachsen lässt (croître) und uns ausmacht (nous constitue).
Diese Verbundenheit mit der Nahrung, die eine Verbundenheit mit der Welt ist – wir werden auch deren Problematik analysieren, insbesondere, wenn wir uns mit Anorexie und Bulimie beschäftigen – ähnelt dem Spiel. Sie ist Ausdruck der Großzügigkeit des Lebens und der Energie, die wir, jenseits des Kampfs gegen den Tod, auf das Leben verwenden. Wenn man junge Tiere oder kleine Kinder spielen sieht, schreibt Ricoeur, ertappt man sich dabei zu denken, dass das Leben jenseits der Gefahr beginnt, jenseits des Gleichgewichts, und dass es großzügig ist: „Vielleicht bedeutet es für das Lebendige eine Seinsweise, die das Nicht-Sterben übersteigt.“47 Unser ursprünglicher Bezug zur Welt charakterisiert sich nicht durch die Negativität, sondern durch den Genuss, der eine Art „Sorglosigkeit im Hinblick auf die Existenz“ ist.48 „Leben heißt, trotz der Finalität und der Spannung des Instinkts spielen; leben heißt, von etwas leben, ohne daß dieses Etwas den Sinn eines Ziels […] hätte, einfaches Spiel oder Genuß des Lebens“.49 Selbst wenn in der Kochkunst und der Gastronomie der Geschmack durch die Suche nach raffinierten Vergnügungen, die uns über unsere direkte Realität und unsere Animalität erheben, erzogen wird, sollte man die Verbindung zwischen der Lust und dem Glück nicht vergessen, zwischen dem Appetit und der Lust zu leben. Ebenso wichtig ist es, das Vertrauen nicht zu verkennen, das wir von vornherein in den nahrhaften Charakter der Welt haben, und das ursprünglich die Tatsache bezeichnet, am Leben zu sein. Der Anblick des Neugeborenen, das die Milch seiner Mutter trinkt, sich auf die Brust seiner Mutter oder das Fläschchen konzentriert und sein ganzes Wesen, seine ganze Seele ins Saugen legt, gibt eine Vorstellung davon, wie dieses ursprüngliche Vertrauen ins Leben, das eine Bejahung seiner Inhalte ausdrückt, aussehen kann. Diese Gier des Neugeborenen – die man auch bei Tieren findet –, dieser gebieterische Appell, der einen Hunger und einen Durst ausdrückt, den die Welt unbedingt und ohne Zögern stillen muss, dieser Hunger und dieser Durst des Neugeborenen, die über das Bedürfnis nach einer nahrhaften Substanz, ohne die es verloren wäre, hinausgehen, dieser Friede schließlich, den es fühlt, wenn es gegessen hat, und der mehr ist als die einfache Tatsache, den Magen gefüllt zu haben, bezeugen unseren grundlegenden Bezug zur Welt. Sie illustrieren die Einbettung unserer Sensibilität in das Element und die Tatsache, dass wir von Beginn an eine Übereinstimmung zwischen unseren Bedürfnissen und der Welt, erwarten.
Genuss „besteht darin, mit vollen Händen die Nahrung der Welt zu greifen, die Welt als die Welt der Reichtümer anzunehmen“50; ich weiß mich mit der Welt, die mir die Inhalte bietet, von denen ich lebe, ursprünglich eins. Der Säugling verkörpert diese Sensibilität als Leben im Element. Im Genuss lasse ich das elementale Wesen der Welt zum Ausbruch kommen, ihre Geschmäcker, die der Repräsentation, dem Konzept und ganz allgemein dem Bereich der Konstitution entzogen sind, und ich weiß, dass das Leben, trotz aller Hindernisse, auf die es trifft, und trotz aller Gefahren, die es bedrohen, Liebe zum Leben ist. Leben ist „leben von“, und „leben von“ ist genießen.