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Das Gourmand-Cogito
ОглавлениеHinter dem denkenden Subjekt ein Gourmand-Ego zu denken – gebieterischer als das Dasein mit seiner Sorge um die Existenz, tiefer als dieses eingetaucht ins Element und tiefer mit dem Lebendigen verbunden, als es die Vorstellung vom Ich als Freiheit erlaubt – heißt nicht nur, der sinnlichen Gewissheit ihre Wahrheit zurückzugeben; es heißt auch, den Platz jedes der fünf Sinne in neuem Licht zu sehen. Dieses Gourmand-Ego ist, aufgrund der Verbindung zwischen den Sinnen und dem Geist, sofort auch ein Gourmand-Cogito. Dem Primat des Sehens und des Tastsinns in der philosophischen Tradition stellen wir die Tatsache entgegen, dass wir die Welt schmecken. Dem Geschmack und dem Geruch ist die Beschreibung dessen hinzuzufügen, was es für jeden von uns bedeutet, zu atmen, den Wind auf der Haut zu spüren, Kälte oder Wärme zu fühlen und auf die Erde gestellt zu sein.
Diese Berücksichtigung unserer Körperlichkeit, die wir in ihrer Ausdehnung und Materialität, in dem, was Levinas ihre „ontische Last“ nennt, erfassen; die verborgener ist als alle Repräsentation, als alle Konstitution eines im vollen Licht der äußeren Welt erscheinenden Phänomens, impliziert nicht, dass wir zu unseren Sinneswahrnehmungen würden. Wenn die Welt sich nicht auf meine Repräsentation bezieht, wenn sie gemessen am bewusstseinsgebenden Akt, der sie als ein Objekt der Erkenntnis erscheinen ließe, nicht völlig konstituierbar und dechiffrierbar ist, wenn sie nicht vollkommen sichtbar ist, sondern implizite Horizonte verbirgt, die meine Sinneswahrnehmungen mir zu erfassen erlauben, dann kann das Sehen nicht zum Paradigma aller Sinne erhoben werden.51
Das Sehen ist das Modell der Erkenntnis und eines Repräsentationsoder Ojektivierungsbezugs zur Welt: Ein durchschreitbarer Raum ist eröffnet, der es mir erlaubt, die Dinge als Objekte zu konstituieren und mit ihnen umzugehen. Damit sind wir in der Welt Heideggers: Einer Welt von Zeug und Objekten, die zuhanden sind und sich in einem System der Bewandtnis und der Verweisungen auf andere Objekte beziehen. Diese umgebende Welt ist es, die von meinem Handeln geformt und von der Technik verändert wird. Wir haben jedoch gezeigt, dass „die Welt, bevor sie ein System von Werkzeugen ist, eine Sammlung von Nahrungsmitteln ist.“52
Um jedoch die zentrale Stellung des Geschmacks aufrechtzuerhalten und das Mysterium der Oralität, also dessen, was durch unseren Mund geht, wenn wir essen, sprechen, küssen oder lachen, vertiefen zu können, muss man verstehen, warum eine Philosophie, die dem Sehen und der Berührung den Vorrang einräumt, unauflöslich damit verbunden ist, sich nicht mit einer Trennung zwischen dem konstituierenden Subjekt und dem konstituierten Objekt – dem Bewusstsein und der Welt – zu begnügen, sondern letztere als das begreift, was unserem Willen widersteht oder vor unserer Macht zurückweicht. Dieses Verhältnis von Mensch und Welt ist zugleich fest verbunden mit einer gewissen Weise, die Gemeinschaft zu denken: Die Vorstellung von Subjekten, die um die Beherrschung der umgebenden Welt miteinander konkurrieren, wird zur Basis der Definition vertraglicher Verpflichtungen.
Es ist wichtig, diese Vorstellungen, die die impliziten und expliziten Grundlagen der zeitgenössischen Ethik und Politik bilden, freizulegen, wenn wir sie diskutieren und durch eine andere Erste Philosophie, die der Ökologie als Basis dienen kann, ersetzen wollen. Denn unser Ziel besteht darin, ausgehend von einer Ontologie, die weder der Ideologie noch der Religion verpflichtet ist, sondern ihren Ausgangspunkt in der Beschreibung unseres ursprünglichen Bezugs zur Welt, in einer Phänomenologie der Nahrungen hat, die Grundsätze eines Gesellschaftsvertrags zu formulieren. Um jedoch die Philosophie des Subjekts und die Ontologie zu bekämpfen, die heute dem Gesellschaftsvertrag zugrunde liegen und die erklären, warum es so schwierig ist, die Ökologie in unser Leben und unsere Politik eingehen zu lassen, müssen wir den Stellenwert untersuchen, der nicht nur dem Sehen, sondern auch dem Tastsinn eingeräumt wird, der die Welt als den Widerstand definiert, der sich meiner Anstrengung entgegensetzt. Bevor wir jedoch den Geschmack als Existenzial setzen und aus der Phänomenologie der Nahrung, die wir Schritt für Schritt im Verlauf dieses ersten Teils zu entwickeln versuchen, das Gourmand-Cogito erstehen lassen, empfiehlt sich eine kleine Abschweifung über Maine de Birans Philosophie der Anstrengung.
Die Fiktion einer Statue, die Condillac sukzessive mit jedem der fünf Sinne ausstattet, hat dem Autor der Abhandlung über die Empfindungen zu beweisen erlaubt, dass es der Tastsinn ist, dem das Individuum das Gefühl verdankt, es habe einen Körper. Das Gefühl der Festigkeit, das die Statue verspürt, wenn sie die Hand auf einen Teil ihres Körpers legt, lässt sie letzteren als das erkennen, was dem Druck der Hand antworten kann.53 Durch dieses Gefühl von Festigkeit, das zwei Dinge, die sich gegenseitig ausschließen, zwei undurchdringliche Körper, spürbar werden lässt, tritt die Seele aus sich selbst heraus. Dass es noch andere Körper gibt, entdeckt sie, wenn sie einen Körper berührt, ohne dass sie selbst es wäre, die auf dieses Gefühl von Festigkeit reagiert. Condillac, der sich fragt, wie wir unseren Körper – den wir nicht verlassen können – erkennen, meint, dass die Hand das Organ ist, das es uns erlaubt, das Wirkliche außerhalb von uns zu erreichen und die verschiedenen Teile des Körpers zu verorten, mit denen die von uns wahrgenommenen Sinneseindrücke verbunden sind. Ohne dieses Organ wäre der Mensch nur eine Ansammlung bloßer Sinneswahrnehmungen, eine auf den Geruchssinn beschränkte Subjektivität aus Eindrücken, und hätte nicht die Fähigkeit, die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst zu benennen. Weil es ihr dank des Tastsinns gelingt, ihren eigenen Körper von den fremden zu unterscheiden, lernt die Statue im Zuge der ihr durch ihre Welterfahrung vermittelten Lust- und Schmerzempfindungen, nach gewissen Nahrungsmitteln, die ihr angenehm sind, zu streben, und Substanzen, die ihr zuwider sind, zu meiden.54
Condillac gelingt es jedoch nicht, folgendes Rätsel zu lösen: Wie bewegt sich die Hand? Was ist der Ursprung unserer Bewegungen? Maine de Biran versucht, diese Aporie zu überwinden. In seinem Mémoire sur la décomposition de la pensée erklärt er die Bewegung durch willentliche Berührung, also durch Anstrengung.55 Indem er unterscheidet, wie die Hand sich selbst erkennt – nämlich durch eine Art unmittelbare Selbsterfahrung, die nicht absichtlich erfolgt – und wie sie die Körper erkennt, an denen sie sich willentlich entlang bewegt, zeigt er, dass das Ich kein Sitz rein passiver Sinneseindrücke ist.
Vielmehr gibt es eine ursprüngliche Körperlichkeit oder, wie Michel Henry sagen sollte, eine Art Selbstoffenbarung des ursprünglichen Körpers, die ihn in den Besitz seiner selbst sowie all seines Könnens bringt. So ist der lebendige Körper ein fundamentales „ich kann“, von dem ich unablässig Gebrauch mache und das mir erlaubt, mich zu bewegen und diesen meinen Körper von innen heraus zu entfalten. Henry wird daraus schließen, dass das Leben Selbstaffektion ist, das heißt, es erfährt nicht zuerst die Welt und ihren Widerstand, sondern setzt diesen absichtslosen Bezug auf sich selbst voraus, nämlich sich selbst zu erfahren.56 Der Ursprung der Bewegungen ist also nicht wie bei Condillac in der Empfindlichkeit des Subjekts zu suchen, sondern ist, wenn man Birans Intuition treu bleibt, als unserem Fleisch mit all seinen Fähigkeiten immanent zu denken. Diese Immanenz macht den Leib zum Ort eines ursprünglichen Gedächtnisses.57 Und dieses reicht tiefer als das intentionale Gedächtnis, von dem wir gewöhnlich sprechen, denn es verweist auf den organischen Körper, der sich ständig dem „ich kann“ widersetzt, und zugleich auf jene ursprüngliche Körperlichkeit, die der Ursprung dieses „ich kann“ ist.
Henrys Philosophie der Selbstaffektion behauptet, dass die Eindrücke unserer Sinne in Bezug zu unserem Fleisch stehen und die Einwirkung des Fleischs auf den eigenen Körper das Paradigma jedes menschlichen Handelns ist, also des ursprünglichen Bezugs des Menschen zum Universum. Dieser Bezug kann kein intentionaler oder „ek-statischer“ sein. Obwohl er sich auf Maine de Biran beruft, dessen Phänomenologie ihm insofern besonders radikal erscheint, als sie diese unmittelbare Selbsterfahrung, die ursprüngliche Körperlichkeit, freilegt, unterstreicht Henry, dass die Welt nicht als das gedacht werden kann, was meiner Anstrengung widersteht. Die Beschreibung der Haut, auf der sich unsere Sinneseindrücke ohne Unterlass verflechten, austauschen und verändern, war ein besonders interessanter Ansatz zur Vertiefung dieser Frage.58 Henry geht diesen Weg jedoch nicht bis zum Ende.
Die Haut ist eine poröse Grenze zwischen mir und der Welt. Weil ich mich in meiner Haut gut oder schlecht fühle, sie aber nicht einfach ausziehen kann wie ein Kleidungsstück, zeugt die Haut von jener ursprünglichen Verankerung in uns selbst, die Henry unser „Fleisch“ nennt. Dieses Fleisch kann nicht das Ergebnis einer intentionalen Konstitution sein: Es ist gegeben, und in ihm spüren wir die Welt. Bedauerlicherweise besteht der Autor der Inkarnation nicht stärker auf dem anderen Aspekt dessen, was eine Phänomenologie der Haut wäre: unserer Empfindlichkeit oder unserer Durchlässigkeit für die Welt.
Besonders offenkundig ist dieser Aspekt, wenn es uns kalt ist und wir ein Dach über dem Kopf finden oder ein warmes Kleidungsstück anlegen müssen, um uns vor dem eisigen Wind zu schützen. Unsere Sensibilität bezeugt jene Hautoberflächen-Existenz, durch die die äußeren Dinge nicht auf Distanz bleiben, nicht einfach über uns hinweggleiten, sondern uns berühren – etwa, wenn wir Gänsehaut haben oder beim Schwimmen im Kontakt mit dem Meerwasser Wohlbefinden verspüren. Wenn „es der Hautsinn [ist], in dem das Erlebnis des ‚Mein‘ sich am zwingendsten erfüllt“, dann bringt mich die Haut, die meinen Körper von den anderen trennt, auch mit ihnen in Berührung und zeigt damit, „dass keinem Sinn die Ich-Welt-Beziehung vollständig“ fehlt.59 Mehr noch als die Haut es bezeugt, dass unsere Sinne „des pathischen Elements nicht ermangeln“, ist es der Akt des Essens, der unsere Einbettung in die Welt illustriert und uns von jeder Philosophie entfernt, die zwischen dem konstituierenden Ego und der konstituierten Welt eine Grenze aufrichtet. Die Einverleibung verwischt diese Grenze völlig.
Erstaunlicherweise steht in diesem Werk, in dem Henry sich meisterhaft von dem noch bei Husserl präsenten transzendentalen Grundmuster abgrenzt, fast nichts über den Hunger und die Ernährung. Denn der Akt des Essens allein reicht schon aus, um die Annahmen infrage zu stellen, die die Phänomenologen zu widerlegen versucht haben, indem sie die Körperlichkeit des Subjekts berücksichtigten: Die Annahme nämlich, dass meine Beziehung zur Welt ausschließlich „ek-statisch“ wäre, dass ich meine Welt konstituiere und diese erschöpfend konstituierbar wäre, dass ich mein Fleisch konstituieren könnte und meine Beziehung zur Welt im Lichte einer Theorie des Handelns zu denken wäre, in der das Reale das ist, was sich meiner Anstrengung widersetzt. Um den Sensualismus Condillacs zu überwinden, ohne für Maine de Birans Philosophie der Anstrengung Partei zu ergreifen, hätte man tiefer in die Eingeweide des Seienden hinabsteigen und der Aufmerksamkeit, die eine Bedürftigkeit gegenüber den Dingen impliziert, mehr Beachtung als der Anstrengung schenken müssen.60 Es wäre, mehr noch, unumgänglich gewesen, den Geschmackssinn zu berücksichtigen, der einen Bezug zur Welt zeigt, der die Begriffspaare Handeln/Leiden und Anstrengung/Widerstand außer Kraft setzt.
Maine de Biran hat das Verdienst, die Selbstaffektion freigelegt zu haben, aber indem er aus dem Ding und der Welt ein Gegenstück zu meiner Existenz als Kraft macht, verfehlt er, was Erwin Straus und dann Henri Maldiney das pathische Moment nennen, das zusammenfasst, was wir bis jetzt vom Fühlen gesagt haben:61 Dieses ist mehr ein Mit-den-DingenFühlen als ein In-der-Welt-Sein, und es ist zugleich ein Sich-Fühlen, bei dem die Gegenwart der Dinge, die für mich da sind, diese oder jene Eigenschaft hat, so etwa wenn „die Welt in dem Gelb tönt“, das van Gogh malt.62 Das pathische Moment ist diese „innere Dimension des Fühlens“, durch die wir „noch vor jedem wahrgenommenen Objekt mit den hyletischen Daten kommunizieren.“63 Es gehört, wie wir am Beispiel des Genusses gesehen haben, in dem die Dinge in ihre Elementarstruktur zurückkehren, zum allerursprünglichsten Erleben und hat nichts damit zu tun, dass man die Welt als das erfährt, was meiner Anstrengung Widerstand leistet.
Wenn wir die Probleme der Stellung auf der Erde und dann die des Ortes angehen, die zu den Existenzialien dieser Phänomenologie der Nahrung gehören, wird von der Landschaft die Rede sein müssen, die dem pathischen Moment entspricht und die sich von der Geografie unterscheidet wie das Fühlen von der Wahrnehmung. Der Bezug auf die Landschaft mündet in ein Denken, das die Ästhetik als Existenzial sieht.64 Mehr noch als diese Aufmerksamkeit für die Landschaft lehrt uns jedoch der Geschmack die Tiefe der sinnlichen Welt kennen und die Verbindung, die zwischen unserer Körperlichkeit und einer Welt besteht, die, weil sie nicht auf die mathematische oder technische Objektivierung reduzierbar ist und auch kein bloßes Sprungbrett für unser Handeln darstellt, auch nicht völlig sagbar ist. Was uns außerdem dazu einlädt, die zentrale Stellung des Geschmacks anzuerkennen, ist das Aroma der Speisen, sowie die Tatsache, dass beim Verkosten alle Sinne, besonders die Lust der Augen und der Geruchssinn, angesprochen werden und dass zwischen dem Appetit und dem Wunsch zu leben, zwischen der Gourmandise als der Kunst, die guten Dinge zu genießen, und der Ästhetik eine Verbindung besteht.
So setzt die Phänomenologie der Nahrung, die den nahrhaften Charakter der Welt, ihre Großzügigkeit und das Vergnügen, das sie unseren Augen, unseren Ohren, unserem Gaumen und unseren Händen bereitet, voraus, dass wir den Mund beschreiben, ein Organ, das uns auf verschiedene Weisen ermöglicht, die Welt zu kosten und zu feiern. Um den Abstand zwischen einer Phänomenologie der Nahrung und einer Philosophie der Anstrengung zu ermessen, ließe sich ein Passus aus dem Mémoire sur la décomposition de la pensée zitieren, in dem Maine de Biran sich eine Hand vorstellt, die in einem einzigen, mit einem spitzen Nagel versehenen Finger endet, der über die äußeren Körper hingleitet.65
Dieses Organ würde die Ausdehnung der Körper nicht spüren, ihre Festigkeit aber ebenso wenig. Maine de Biran bestätigt damit, dass sich der Körper nicht ausschließlich durch die Ausdehnung definiert und die Welt also das ist, was meiner Anstrengung widersteht. Dieses biransche Subjekt mit dem spitzen Finger „kann sich nicht kontinuierlich fortbewegen, sondern nur in einer Abfolge von wiederholten Handlungen, als ob es auf einer Ebene von einem Punkt zum anderen springen würde“.66 Man stattet es daraufhin mit der Fähigkeit aus, auf dem von ihm berührten Objekt dahinzugleiten. Schließlich vergrößert man es, damit es sich an feste Flächen heften kann, ohne auf diesen Körpern umzuknicken. So kombiniert Biran seine Ideen und definiert schließlich den Kern der existierenden Realität als die Widerstandskraft, die die Körper der von unserem Willen bestimmten Handlung entgegensetzen.
Der Konfiguration der Beziehung zwischen dem Ich und der Welt durch dieses philosophische Bravourstück stellt die Phänomenologie der Nahrung ein Gourmand-Cogito entgegen, dessen Kennzeichen weniger der Bauch ist als der Mund. Dieser hat nichts mit Birans spitzem Finger zu tun. Genauso wenig ist Henrys Philosophie der Selbstgebung der Weg, den wir einschlagen müssen, um die Bedeutung der Oralität zu erfassen. Gewiss, seine Philosophie des Fleisches grenzt sich scharf gegen die Phänomenologien der Erscheinungen ab, in denen all unsere Sinne uns sozusagen nach außen werfen. Sie vollzieht sich jedoch in einem Denken, in dem das Leben letztlich auf das Mysterium der Inkarnation verweist. Damit greift sie jedoch in die Religion ein, und vor allem unterscheidet sie sich von einem Denken der Immanenz, in dem die Welt und der Bezug auf die Welt den Ausgangspunkt bilden.
Die Welt wird nicht nur in ihrem Erscheinen begriffen, nicht nur in den Phänomenen, die im Licht stattfinden.67 Das ist der Grund, warum wir begonnen haben, die im Dunkel liegenden Ereignisse zu erforschen, die von einer Ontologie zeugen, die den Sinn des Mit-der-Welt-Seins aufdeckt. Es geht nun darum, die Dimension der Intersubjektivität einzuführen, die eine Phänomenologie der Nahrung charakterisiert und für die die Welt nicht das Nicht-Ich ist, der Widerstand gegen mein Handeln, sondern die „Präsenz des anderen“.68 Der Mund und die Oralität sind die Kennzeichen dieser Phänomenologie. Sie stellt die Idee der Konstitution infrage und enthüllt so eine Intentionalität, die sich von derjenigen, die Erkenntnis, Wahrnehmung und Handeln charakterisiert, unterscheidet. Sie bezieht sich auf die Intersubjektivität, die Kultur, die Traditionen sowie auf den Bereich der Sprache und des Symbolischen. Der Mund reißt uns von der jedem Hedonismus inhärenten Versuchung los, in den Sensualismus Condillacs zurückzufallen.
Der Mund ist kaum ein richtiges Organ. Es gibt zwar die Zähne, die Lippen, die Zunge und die mit ihr verbundenen Schleimhäute, aber der Mund ist ein Hohlraum. Dennoch gehen von ihm die zentripetalen und zentrifugalen Bewegungen aus.69 Ich führe Essen zum Mund, es verliert sich darin, ich rauche eine Zigarette, küsse einen Freund, spreche oder schreie, empfange lächelnd meine Eltern, reagiere durch Verziehen meines Mundes auf die verletzenden Worte eines Gegners oder schneide unter dem Eindruck des Schmerzes eine Grimasse. Statt das Ich als Anstrengung und die Welt als Widerstand zu denken, entsteht durch das leuchtende Hervortreten der Oralität ein Verhältnis zur Welt, das uns im Mittelpunkt unserer Existenz festmacht, in Aktivitäten, in denen sich das Biologische und das Symbolische, das Intime und das Soziale, das Materielle und das Spirituelle treffen – wie in der Kochkunst, der Erotik und der Kunst.