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Eine Phänomenologie der Nahrung

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Als Nahrung (nourritures)14 bezeichnen wir das, wovon wir leben und was wir brauchen, die Umwelt, in die wir eingebettet sind, und alles, womit wir uns versehen, sowie die Weise, wie wir es uns beschaffen: unsere Tauschhandlungen, die Verteilungskreisläufe, die Techniken, mit deren Hilfe wir uns bewegen, unsere Wohnstätten, unser Schaffen, aber auch die Ökosysteme, die aus Biozönosen – aus dort existierenden, uns oftmals unbekannten Lebewesen – und den durch ihre physikalischen und chemischen Charakteristika definierten Biotopen bestehen. Diese den Dualismus Natur/Kultur überwindende Bezeichnung erlaubt es nicht mehr, die Natur als eine Ressource aufzufassen, die bloß instrumentalen Wert hat.

Die Dinge, einschließlich der technischen Objekte, stehen uns nicht bloß als Geräte zur Verfügung, sondern sind Bedingungen unserer Existenz. Diese Umkehrung im Status der Repräsentation war bereits in der phänomenologischen Konzeption der Welt vorhanden, vor allem bei Merleau-Ponty, der die Wechselwirkung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Welt-Bewusstsein aufgedeckt und betont hat, dass diese Verflochtenheit in jeder Wahrnehmung besteht. Wenn wir von „Nahrung“ sprechen, tun wir jedoch einen weiteren Schritt hin zu einer Philosophie, in der die Existenz als „eine Beziehung zu einem Gegenstand und gleichzeitig eine Beziehung zu dieser Beziehung […], die ihrerseits ebenso das Leben ernährt und erfüllt“ 15 gesehen wird.

Daraus folgt eine andere Wahrnehmung der „äußeren“ Umwelt – die Andersartigkeit der Nahrung, der Wälder, der Seen und der Pflanzen, der Jahreszeiten, der Stadt, der Straßen, der Lebensmittel. Meine Existenz wird in und mit diesen Elementen gedacht, die weder bloße Ressourcen sind, die ich ausbeute, noch das Nicht-Ich, an dem und gegen das ich meinen Willen behaupte. Darüber hinaus sind diese Bedingungen meiner Existenz auch die Existenzbedingungen der anderen. Sie sind durch die Zeit entstanden – und zwar ebenso durch die Zeit der Evolution wie durch die Zeit, die von der Geschichte und der menschlichen Technik verändert wurde. Wie sich insbesondere hinsichtlich der Geburt zeigen wird, mündet die Analyse der Körperlichkeit des Subjekts von vornherein in die Intersubjektivität. Wir sind mit den anderen durch unser Verhältnis zur Nahrung verbunden, die darüber hinaus die gegenseitige Abhängigkeit der Arten voneinander hervorhebt.

Mehr noch, was ich benötige, um zu leben, konstituiert mich, insofern es mein Fortbestehen ermöglicht, aber auch und vor allem, insofern es meiner Existenz Wert oder vielmehr einen Geschmack, eine Note verleiht. Der Wert des Lebens resultiert nicht aus einem Urteil über die Qualität der Dinge, derer ich mich bediene, noch aus dem über ihren Energiegehalt; er liegt in dem Geschmack, den die Dinge für mich haben, in der Weise, wie ich, indem ich sie mir einverleibe, das Leben liebe. Bedürftigkeit und Lebenserhalt sind von dieser Erfahrung nur dann getrennt, wenn ich Mangel leide. Den Gebrauch der Dinge und ihren Zweck von dieser Einverleibung zu lösen heißt, das Verhältnis verfehlen, das ich zu ihnen habe, und das zuerst eines des Genusses ist.

Das Leben in der Welt der Nahrung ist Genuss, weil ich gerne lebe, weil ich das Leben liebe – noch bevor ich mich erkenne, mir Sorgen um mich mache und mich in die Zukunft hineinversetze, indem ich dem, was in meinen Augen wertvoll ist, Existenz verleihe. Ich bin Liebe zum Leben, bevor ich Freiheit bin. Diese Liebe zum Leben umhüllt meine Freiheit. Sie drückt sich darin aus, dass das, wovon ich lebe, mich erfreut: „Die Liebe zum Leben hat keine Ähnlichkeit mit der Sorge um das Sein“,16 sondern ist das Glück, zu sein. Das Leben wird geliebt: Es ist selbst sein eigener Zweck. Es handelt sich jedoch nicht um eine Existenz, die an die Bedürfnisse gefesselt ist. Nur wenn es ein elendes Leben ist, schafft der Mangel Bedürfnisse jenseits des Genusses. Hunger, Kälte und erzwungene Arbeit machen, dass ich mich auf die Nahrung stürze, um eine Energie wiederzugewinnen, die mir nur dazu dienen wird, an die Arbeit zurückzukehren.17

Wenn das Leben in der Welt der Nahrung Liebe zum Leben ist, dann ist eine fundamentale Struktur der Existenz dieses Wesens – in dessen Sein es einen Sinn des Daseins gibt – der Geschmack, die Würze der Dinge, ihre Schönheit und alles, was ihm an ihnen förderlich ist.

Statt den Genuss der Ethik entgegenzusetzen, müssen wir die Wichtigkeit dieser Dimension bedenken, die zu verstehen erlaubt, wie der Mensch die Erde bewohnt. Anders als das sichere Vergnügen Epikurs – eines Denkers, zu dessen Verdiensten es gehört, auf der Verbindung zwischen Glück und Tugend zu bestehen – verweist der Genuss im vorliegenden Werk auch auf den Geschmack und das ästhetische Vergnügen, das nicht nur ein besonderes, auf die Kunst beschränktes Vergnügen ist, sondern auf allen Gebieten des Lebens unsere Art zu sein charakterisiert.

Anders als Levinas glauben wir nicht, dass der Übergang von der Beziehung zu sich selbst zur Beziehung zum anderen, von der Ebene des Genusses zu derjenigen der Ethik, einen Bruch bildet.18 Gewiss, Genuss ist nicht Moral. Er ist ein egoistisches Beben, wie es die Volksweisheit in dem Sprichwort ausdrückt: „Ventre affamé n’a point d’oreilles – Ein leerer Magen kann nicht hören“. Mehr noch, die Existenz des anderen selbst ist es, die meine Freiheit infrage stellt. Es sind seine Bedürfnisse, die infrage stellen, was Levinas das gute Recht oder das gute Gewissen der Freiheit nennt, nämlich zu tun, was ich will, und zu konsumieren, was ich begehre.19 Selbst die Philosophie der Menschenrechte zieht nicht alle Konsequenzen aus dem, was das Recht des anderen Menschen von mir und von der Gesellschaft fordert. Wenn wir eine negative Konzeption der Freiheit vertreten, sind wir sicherlich leichter bereit, die Rechte, zu denen wir individuell Zugang haben, anzuerkennen, als die Pflichten, die der andere Mensch, aber auch die anderen Menschen und die anderen Arten, uns auferlegen und die allesamt unserer Gier Grenzen setzen.

Indem Levinas von der sinnlichen Welt als von der der Nahrung spricht und die Verwundbarkeit des hungrigen Menschen betont, stellt er sich mit Entschlossenheit gegen Philosophien, die den Menschen zuerst als Freiheit denken und diese als die Fähigkeit verstehen, Entscheidungen zu treffen und zu verändern.20 In diesen Philosophien wird die Sorge um sich selbst nicht von der Furcht um den anderen und der unbeantwortbaren Frage nach meinem Recht auf Leben gestört – jener Furcht, dass „mein ‚Platz an der Sonne‘“ die „widerrechtliche Inbesitznahme von Lebensraum“ ist, „der Anderen gehört, die ich schon unterdrückt und ausgehungert […] habe“.21 In diesem Sinn ist es unabweisbar, dass der andere, der sterblich ist und vielleicht keinen Zugang zur Nahrung haben könnte, mich aus dem Genuss herausreißt oder, wie Levinas sagen würde, „mich belehrt“. Jedenfalls soll in diesem Werk gezeigt werden, dass ich, noch bevor ich dem anderen gegenübertrete, mich bereits in einem ethischen Bereich befinde, sobald ich mich auf die Nahrung beziehe.

Selbst wenn ich ihm nicht physisch begegne, sind der andere und die anderen in der Umwelt, von der ich mich nähre – der natürlichen wie der künstlichen – bereits präsent. Wie ich Nahrung konsumiere, wirkt sich auf die anderen aus. Mein Verhältnis zur Nahrung ist, fundamentaler noch, selbst eine Lebenshaltung, die der Ethik angehört. Wenn sich der Mensch von den Elementen nährt, die ihn umgeben wie etwa die Luft, dann kann sich die Ethik nicht auf unsere Beziehungen zu den anderen Menschen beschränken. Sie muss in Rechnung stellen, wovon wir abhängig sind: von den Wesen, die die Umwelt, von der wir heute leben, geformt haben, und von allen, die sie unterhalten oder mit denen wir die Nahrung teilen. Sie ist, mehr noch, bereits in dem Verhältnis zu suchen, das wir zur Nahrung herstellen.

Die Ethik ist die Dimension meiner Beziehung zu den anderen Wesen, den menschlichen und den nicht-menschlichen, die mein Verhältnis zur Nahrung herstellt. Mit meiner Ressourcennutzung, durch die Energie, mit der ich gewisse landwirtschaftliche Produktionsweisen unterstütze, in meiner Ernährungsweise, stehe ich schon in Beziehung zu den anderen Menschen, deren Tätigkeit und damit Leben ich unterstütze oder auf die mein Handeln einen Einfluss hat, der umso entscheidender ist, als er das Ergebnis täglicher Entscheidung ist. Sobald ich konsumiere, sobald ich mich in der Welt durch den Kauf von Produkten verhalte, sobald ich mich mit dem Auto fortbewege, sobald ich eine Zigarettenkippe hinwerfe, befinde ich mich im ethischen Bereich. Noch vor der Begegnung mit dem anderen, die in ihrer Äußerlichkeit die Quelle der Ethik ist – das heißt, der andere macht mich von vornherein mit der Ethik als einer Dimension bekannt, die mit der objektiven Bewertung der Eigenschaften des anderen, mit der Erkenntnis oder auch mit dem Spiel der rivalisierenden Freiheiten auf der Suche nach Anerkennung nichts zu tun hat –, noch vor der Begegnung mit dem Gesicht des anderen, das mich als verantwortlich bezeichnet, gibt es also die Welt der Nahrung. Mein Verhältnis zu ihr ist der ursprüngliche Ort der Ethik.

Auf diese Weise über die Ethik nachzudenken ändert nichts an der Tatsache, dass mein Verhältnis zum anderen sich von meinem Verhältnis zu den Tieren und zu den Bäumen unterscheidet und von moralischen Normen bestimmt wird, die ich nicht immer auf die anderen Arten anwenden kann. Indessen hat die Ethik nicht nur die Dimension meines Verhältnisses zum anderen; sie hängt auch von meinem Verhältnis zur Nahrung ab. Diese fällt nicht vom Himmel: Sie verlangt die Arbeit des anderen und wirft das Problem des Teilens mit den anderen Menschen und den anderen Arten auf. Die Gerechtigkeit, also die Tatsache, dass es in den Bereich der Ethik und der Politik gehört, wie wir die Erde bewohnen und ihre Schönheit bewahren, aber auch die Wichtigkeit, die Nahrung für uns hat, wenn wir sie genießen oder ihre Vernichtung uns so schmerzhaft trifft, als ob, wie Callicott sagt, „die Welt unser Körper wäre“22 – all dies hat zur Folge, dass Bereiche, die gewöhnlich getrennt sind, wie die Moral, die Politik, die Ökologie und die Ästhetik, in einer Existenzphilosophie und in der Ontologie, die ihr Fundament bildet, vereint werden.

Die Welt als Nahrung zu denken heißt nicht einfach, ein Bild zu gebrauchen, um zu illustrieren, wie das Äußere zum Inneren wird, etwa wenn ich ein Lebensmittel zu mir nehme, es verdaue und die Energie aus ihm heraushole. Der Bezug auf die Ernährung lässt eine Philosophie erkennen, die die Dichotomie zwischen dem Biologischen und dem Kulturellen, dem Intimen und dem Kollektiven, der Privatsphäre und dem gesellschaftlichen Leben, dem persönlichen Geschmack und den vertrauten Gewohnheiten, überwinden will. Darüber hinaus wird mit der Betonung des Hungers nicht nur die Fragilität des Menschen hervorgehoben, seine Schmerzempfindlichkeit und die Tatsache, dass der Entzug von Nahrung die Schwächung und den Tod zur Folge hat; sie radikalisiert auch das Nachdenken über unsere Körperlichkeit, die „der ständige Zweifel an dem Privileg, das man dem Bewußtsein zuschreibt, allem einen ‚Sinn zu verleihen‘“, ist.23

Der Akzent verlagert sich jedoch nicht auf bloße Passivität, wie es in der Ethik der Verwundbarkeit der Fall war. Die Lust, das Vergnügen der Augen und des Gaumens, der Geschmack und das Bedürfnis nach Neuem erneuern das Verständnis unserer Abhängigkeit von den Bedingungen unserer Existenz. Und indem sie die Ästhetik im Herzen der Ethik (neu) etablieren, erneuern sie auch das Verständnis dessen, was für uns das Bewohnen der Erde bedeutet. Würden wir die Schädigung der Ökosysteme, die Zerstörung der Landschaften und die abscheulichen Lebensbedingungen, die den Tieren durch die industrielle Zucht aufgezwungen werden, hinnehmen, wenn der Geschmack, statt ein Sinn unter anderen zu sein oder die Zugehörigkeit der Individuen zu einer sozialen Klasse zu signalisieren, das wäre, was, wie das Gemüt bei Kant, unsere Sinne an unser Herz und unseren Geist bindet?

Unsere Abhängigkeit von den Bedingungen unserer Existenz ist auch eine Abhängigkeit vom anderen, oder vielmehr ein Bedürfnis, das wir nach ihm haben, nach seinem Körper, seiner Arbeit, seinem Wissen und seinem Können. Man ist nie allein, ob man eine Autobahn benutzt, eine Brücke überquert oder ob man liest. Vor einem selbst oder zugleich mit einem selbst sind es andere, die solche Handlungen ermöglichen. Im Akt des Essens nimmt eine solche Verflechtung jedoch eine Selbstverständlichkeit an, die dieser zugleich sozialen und natürlichen Tatsache einen paradigmatischen Charakter verleiht.

Tatsächlich ist das Essen immer ein Essen mit den anderen und durch sie, weil die Lebensmittel, die ich konsumiere, von jemand anderem zubereitet worden sind, ob ich ihn kenne oder nicht, oder jemand den Baum gepflanzt hat, dessen Früchte ich pflücke. Sie setzen voraus, dass das Getreide produziert und geerntet wurde, und verweisen somit auf die Landwirtschaft, den Handel und die globale Ökonomie, die in Abhängigkeit von Vorräten und Ernten über den Preis der Grundnahrungsmittel entscheiden, wie etwa dem des Getreides, das Mensch und Vieh zur Nahrung dient. Nicht nur die Kochkunst, die Kultur und die Großzügigkeit derer, die es übernommen haben zu kochen und von einer Generation zur nächsten ihre Rezepte weiterzugeben, sondern auch das, was ich esse, das heißt, diejenigen, die ich esse oder die zu Nahrungszwecken zu töten ich mich weigere, sind bei diesem alltäglichen Akt mitgemeint.

Jedes Mal, wenn wir essen, ist unsere Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Menschen und den anderen Lebewesen angesprochen, ob wir uns dessen voll bewusst sind oder nicht. Die Ernährung bindet uns an die anderen Wesen, die menschlichen wie die nicht-menschlichen, an die Kreisläufe von Produktion und Handel, an die Transportmittel. Essen heißt, jede Trennung zwischen den Disziplinen zu bestreiten und sich mitten ins Leben zu stellen, es heißt, von vornherein in der Ethik und in der Politik zu sein. Die Grenzen zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen verschwimmen wie in den religiösen Riten, wo schon immer Verbote und Vorsichtsmaßnahmen den Akt des Sich-Nährens umgeben haben, besonders wenn es darum geht, das Fleisch eines Tiers zu essen. So sagt Levinas, alle hohlen Reden über Ethik und Gerechtigkeit hinter sich lassend, dass die Spiritualität in der Geste bestehe, „einen vom Hunger heimgesuchten Drittwelt-Bewohner zu nähren“. Er spricht bei dieser Gelegenheit von einem „erhabene[r] Materialismus“.24

Im Lichte einer Phänomenologie des Essensakts ist der Mensch kein Wesen mehr, das von den anderen, die sich auch zu ernähren versuchen, getrennt wäre. Allerdings deuten sich in der Kunst des Tafelns, der sozialen und geselligen Dimension des Diners sowie den Krankheiten, die sich mit dem Verhältnis zur Nahrung verbinden können, wie etwa Anorexie und Adipositas, bereits die zwischen Mensch und Tier bestehenden Unterschiede an. Zu bedenken, dass wir „vom ‚guten Essen und Trinken‘, von der Luft, vom Licht, vom Schauen, von der Arbeit, von Ideen, vom Schlaf usw.“,25 leben und bei all diesen Aktivitäten die Bindungen zu berücksichtigen, die wir zu den anderen – vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – Menschen sowie zu denen unterhalten, die fern von uns leben, ohne dabei die Beziehung zu den anderen Arten zu vergessen – das alles heißt, sich auf den Weg zu einer Beschreibung der Existenzstrukturen zu machen; und zwar auf eine Weise, die mit der Existenzialanalytik Heideggers bricht.

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