Читать книгу Canepädagogik - Corinna Möhrke - Страница 8
ОглавлениеTEIL I KONZEPTENTWICKLUNG
1 Canepädagogik
1.1 Begriffsabgrenzung
Der Begriff Canepädagogik bedeutet Pädagogik mit dem und durch den Hund. Er ist ein Neologismus - meine eigene Wortschöpfung - und leitet sich von dem lateinischen Wort für Hund (Canis) ab. Die Endung ,e‘ entspricht dem Ablativ und steht für das „mit“ bzw. „durch“.
Während Pädagogik als Wissenschaft der Bildung und Erziehung (vgl. KÖCK/OTT, 519) heute oftmals den Schwerpunkt auf die Bildung (z. B. Schule) legt, fokussiert Canepädagogik den Bereich der Erziehung. Sie will Kinder in erster Linie wieder erziehungsfähig und -willig machen, sie in die Gemeinschaft integrieren, um dann mittelbar auch Bildung zu ermöglichen.
1.2 Zielgruppe
Canepädagogik dient der Arbeit mit verhaltensauffälligen, beziehungsgestörten Kindern und Jugendlichen, zu denen der Zugang aufgrund ihrer Biographie auf normalem Wege (z. B. Beratung, soziale Gruppenarbeit etc.) erschwert oder gar unmöglich geworden ist. Kinder, die gelernt haben, niemandem zu vertrauen, sich nur auf ihre Fäuste zu verlassen und jedem Problem mit Gewalt oder Flucht zu begegnen, sind nicht nur für Erzieher und Therapeuten eine (oft zu) große Herausforderung, sondern stellen sich selbst und ihr Umfeld vor immer größere Probleme.
Gemäß § 1 Abs. 1 KJHG hat aber jeder junge Mensch das Recht auf die Förderung seiner Entwicklung und auf die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Um verhaltensauffälligen Kindern, die eben nicht eigenverantwortlich oder gemeinschaftsfähig und darüber hinaus selten förderungs- oder erziehungswillig sind, zu ihrem Recht zu verhelfen, bedarf es einer speziellen und gezielten pädagogischen Unterstützung, die es ihnen ermöglicht, die ihnen angebotene Hilfe annehmen zu können.
1.3 Heilpädagogische Grundlagen
Canepädagogik ist ein heilpädagogisch orientiertes Handlungskonzept, das auf den von Paul Moor beschriebenen Grundsätzen heilpädagogischer Arbeit basiert und diese realisiert.
Moor (11) versteht unter Heilpädagogik die „Lehre von der Erziehung derjenigen Kinder, deren Entwicklung durch individuale oder soziale Faktoren dauernd gehemmt ist.“ Heilpädagogik ist für ihn Pädagogik unter erschwerenden Bedingungen. Er unterscheidet dabei vier verschiedene Zielgruppen der Heilpädagogik: die Geistesschwachen, die Sprachgebrechlichen, die Mindersinnigen und die Schwererziehbaren (vgl. MOOR, 12).
Er charakterisiert die Arbeit eines Heilpädagogen indem er schreibt:
„Wir haben es in der heilpädagogischen Arbeit mit Kindern zu tun, welche die Alltagserziehung vor unlösbare Aufgaben stellen, Kinder, für welche die gewohnten Mittel und Wege nicht mehr ausreichen und mit welchen die üblichen Ziele nicht mehr erreicht werden können.“ (MOOR, 260; Hervorhebungen im Text)
„Gerade für diese aus dem Rahmen fallenden und dann oft einfach übergangenen Kinder aber will nun die Heilpädagogik da sein.“ (MOOR, 261)
Wie wird Heilpädagogik angewandt und umgesetzt, welche Regeln sind zu beachten, um im Praxisfeld der erziehungsschwierigen und verhaltensauffälligen Kinder mit den erschwerenden Bedingungen zurecht zu kommen? Die wichtigste Regel im heilpädagogischen Umgang ist nach Moor:
I. Wir müssen das Kind verstehen, bevor wir es erziehen
Um heilpädagogisch sinnvoll und wirksam mit verhaltensauffälligen Kindern arbeiten zu können, ist es wichtig, ein genaues Bild von dem Kind und seiner Seele (Verhalten und Erleben) zu haben, es zu verstehen. Das Kind darf nicht nur auf sein Fehlverhalten reduziert und als Symptomträger gesehen werden. Moor (277) geht es um „die Persönlichkeit als Ganze und nicht nur um ein einzelnes Verhalten; nicht nur um ihr Versagen oder Vergehen, sondern um ihr ganzes Sein und Wesen.“
Dieser Betrachtung und der Heilpädagogik insgesamt liegt ein Menschenbild zugrunde, in dem dem Kind, auch dem verhaltensauffälligen, die gleiche Würde und Bedeutung zuerkannt wird wie allen anderen Menschen.
Moor (270) hebt hervor, dass „man auch diese aus dem Rahmen fallende Kinder für Menschen hält, und zwar nicht für Menschen zweiten Ranges, sondern für Menschen von derselben Würde wie alle andern.“
Das Bild von Kindern, insbesondere von verhaltensauffälligen, hat Janusz Korczak (zit. nach MEHRINGER, 97) noch prägnanter formuliert, indem er schreibt: „Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer. Es ist nur schwächer als wir ... “ Um diese Schwäche adäquat zu kompensieren, bedürfen Kinder neben Unterstützung und pädagogischem Beistand auch die Anerkennung und Akzeptanz ihrer Natur, ihres Wesens.
Damit wird die Bedeutung und auch das Ziel heilpädagogischen Handelns deutlich. Es darf in der heilpädagogisch orientierten Verhaltensgestörtenpädagogik keinesfalls darum gehen, Kinder dressieren zu wollen, sie zur „sozialen Brauchbarkeit“ (MOOR, 269) zu erziehen oder wie Nohl (136) formuliert, einen „bestimmten Lebenstypus zu züchten“. Ihr Ziel ist es vielmehr, sich darum zu bemühen, den Kindern zur Selbstentfaltung innerhalb der Gemeinschaft und den gesellschaftlichen Normen zu verhelfen. Das Kind soll zu seinem Leben und zu seiner Form kommen können (vgl. NOHL, 134).
„Ihr Ziel ist nicht, eine bestimmte Art des Menschseins heranzubilden, sondern jede Art des Menschseins zu der ihr möglichen Erfüllung wirklich hinzuführen.“ (MOOR, 274)
Korczak (zit. nach MEHRINGER, 97) sagt dazu: „Ich habe diese Grundrechte für Kinder herausgefunden: das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist ....“ Da aber die verhaltensauffälligen Kinder so wie sie sind nicht gemeinschaftsfähig sind, liegt es in der Verantwortung der Heilpädagogik, Wege und Mittel zu finden, diese Kinder in die Gemeinschaft zu integrieren, ohne ihre Persönlichkeit zu brechen. Der hier dargestellte Weg - Canepädagogik - soll genau diese Gratwanderung leisten.
Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie geht man dabei vor bzw. an welcher Stelle setzt man an? Moors zweite Grundregel lautet (vgl. MOOR, 20):
II. Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende
Da es in der Heilpädagogik um Verstehen geht, darf der Fokus nicht nur auf den offensichtlichen Fehler, das Fehlverhalten gerichtet sein. Die sogenannten Verwahrlosungssymptome hat sich das Kind als Waffe, als Überlebenschance zugelegt (vgl. MEHRINGER, 34). Die Symptome sind oberflächlich, wechselhaft und letztlich nur dadurch zu lindern, dass man die zugrundeliegende Ursache - das Fehlende - erkennt und ausgleicht.
„... und es dürfte einer der wichtigsten Grundsätze der Heilpädagogik sein und bleiben, eben nicht nur die Symptome zu bekämpfen und rasch zu beseitigen (so wie der Arzt bei Masern nicht die roten Flecken direkt angeht), sondern das Kind zu heilen, indem man alles tut, dass es ihm wieder besser geht.“ (MEHRINGER, 14)
Was aber fehlt Kindern und im speziellen den Kindern, die auffälliges Verhalten zeigen? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für die Heilpädagogik und Ausgangspunkt für den pädagogischen Einsatz von Hunden. Sie wird in den Kapiteln 2 und 3 beantwortet und macht die Unterstützung durch Hunde (Kap. 4) in diesem Praxisfeld so offensichtlich sinnvoll.
III. Nicht nur das Kind, auch seine Umgebung ist zu erziehen
Die dritte Regel Moors (400) für die heilpädagogische Förderung von entwicklungsgehemmten Kindern - nicht nur das Kind, sondern auch seine Umgebung in den Erziehungsprozess mit einzubeziehen - ist Zeichen seines systemischen Ansatzes und auch für den Erfolg der Canepädagogik von sehr großer Bedeutung.
Während die tiergestützte Gruppenarbeit den Fokus auf die direkte pädagogische Förderung des Kindes legt und so einerseits durch eine Verbesserung des subjektiven Befindens der Kinder indirekt auch zu einer Entlastung der familiären Situation und der sozialen Interaktion (Schule etc.) beitragen kann, ist es darüber hinaus für eine nachhaltige und erfolgreiche Förderung unerlässlich, über Eltern- und Familiengespräche in den Familien Strukturen zu schaffen, die weiteres auffälliges Verhalten der Kinder zukünftig überflüssig machen.
Auch wenn der Gruppenkontext den Kindern die Chance auf völlig neue Kontakte, unbelastete Beziehungen, aktive und abwechslungsreiche Naturerfahrungen bietet und eine Lösung von Subkulturen (Gangs, Banden) ermöglichen kann, ist die Schaffung einer gesunden, wertschätzenden Familienatmosphäre für die weitere Entwicklung des Kindes von zentraler Wichtigkeit.
Denn „die Eltern sind die Architekten des Hauses, das sich Familie nennt“ (Klaus Bortz).
Die Schaffung dieser förderlichen und für die Entwicklung der Kinder so wichtigen familiären Lebenswelt ist das Ziel der Elternarbeit, die den Eltern Wege und Perspektiven eröffnen soll, auf welche Weise und in welchem Umfang sie selbst dazu beitragen können (und müssen), dass auffälliges Verhalten ihrer Kinder zukünftig nicht mehr erforderlich ist.
In welchem Maße die Elternarbeit für die Canepädagogik von Bedeutung ist, wird sich insbesondere im letzten Teil des Buches im Rahmen der Auswertung erschließen, bei dem immer auch konkret auf die Elternarbeit Bezug genommen wird.