Читать книгу Marionette des Teufels - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 16
ОглавлениеDas Haus der Familie Weberknecht stammte aus den 50er-Jahren, hatte zur Straße hin ein großes Panoramafenster, in dem üppige Grünpflanzenwuchsen, war ansonsten aber eher schlicht. Brauser hätte sich mehr erwartet. Etliche Steinstufen führten hinauf zur dunkelgebeizten Eingangstür vor der zwei Buchsbäumchen in großen Tontöpfen standen. Die um den Stamm gebundenen schwarzen Bänder flatterten verspielt im kühlen Herbstwind. Ein Messingschild wies auf den Hausherrn hin: Karl Weberknecht. Nachdem Brauser auf den Knopf unterhalb des Schildes gedrückt hatte und eine schmetternde Fanfare erklang, öffnete ihm das Hausmädchen, das eigentlich eher eine Hausoma war, wie der Kommissar ein wenig amüsiert feststellte.
Der Besuch von nahen Angehörigen eines Opfers war nie leicht und es stellte sich, auch nach so vielen Dienstjahren, einfach keine Routine ein. Im Gegenteil, das Leid schien sich mit jedem Mal noch zu addieren. Am schlimmsten war es, wenn Kinder vor ihren Eltern starben. Trotzdem sah es der Kommissar stets als seine Pflicht, aber auch als eine Möglichkeit an, etwas Näheres über das Opfer zu erfahren. Eine Hilfestellung für die Bewältigung des Schmerzes konnte er nicht anbieten. Schon gar nicht bei den Weberknechts.
Als Brauser gleich darauf der Hausherrin in der Diele gegenübertrat, hätte der Kommissar sie fast nicht wiedererkannt. Zu lange schien es her, seit die Fotos, die er in Sophias Wohnung gesehen hatte, geschossen worden waren. Frau Weberknecht trug eine schlichte graue Flanellhose und einen auberginefarbenen Rollkragenpulli über dem eine lange Perlenkette hing.
Brauser wusste, dass ein schrecklicher Verlust plötzlich altern lassen konnte: Haare wurden auf einmal grau, eben noch strahlende Gesichter fielen in sich zusammen und erblühten nie mehr zu ihrem vorherigen Leben. Doch Reinhilde und Karl Weberknecht, der auch zur Begrüßung auf dem Sofa sitzen blieb, waren bereits alt und gebrechlich, als sie vom tragischen Ende ihrer Tochter erfahren mussten. Während die Mutter mit der einen Hand nach einem weißen, sorgfältig gebügelten Taschentuch griff und vorsichtig hineinschnäuzte, suchte die andere zögerlich die Hand ihres Mannes und seinen Trost. Doch ihr Mann blieb starr und stumm, unfähig sich zu rühren, krampfhaft das Asthmaspray umfassend und verschlossen für den Rest der Welt. Nur das Pfeifen seiner Lungen zeigte, dass er noch lebte. Tief berührt sah sich der Brauser im Wohnzimmer um.
An den Wänden hingen große gerahmte Bühnenplakate: Sophia als schöne Blonde, die Männer reihenweise verführende Lulu im Goldlamékleid, mit raffiniert aufgesteckten Haaren. Als Lucia di Lammermoor im weißen Unschuldsgewand mit umherirrenden Blick, dem Wahnsinn bereits verfallen. Und als ausgestoßene, schwindsüchtige Violetta aus La Traviata, bezaubernd und doch nur vom Gevatter Tod zu erwählen. Waren das auch die Rollen in ihrem Leben? Verführen, verzweifeln, sterben? Und war das den Eltern bewusst? Sicher waren sie sehr stolz auf die schöne Tochter, dachte Brauser, der ja selbst nie Kinder hatte und sich somit auch niemals solche Bilder ins Wohnzimmer hängen konnte.
Auf einmal stand Reinhilde Weberknecht neben ihm, folgte seinem Blick und versuchte, ihm das Wesen ihrer Tochter zu erklären.
„Die Lulu, das war ihre Lieblingsrolle, die Urgestalt des Weibes.“ Sie nickte, wobei ihre Augen blitzten und für einen kurzen Moment konnte Brauser ihre einstige Schönheit sehen, bevor sie wieder hinter dem Schleier von Alter, Leid und Verzweiflung verschwand.
„Ich glaube, diese Rolle der Verführerin hat sie so sehr gereizt, weil sie im wirklichen Leben viel zu schüchtern dazu war.“
Fast unbemerkt tupfte sich Reinhilde eine Träne aus dem Augenwinkel und stand dann still und sehr aufrecht wie ein Gardesoldat, der gelernt hatte, sich Gemütsregungen nicht anmerken zu lassen. Nur der Blick haftete noch immer ein wenig träumerisch auf den Bildern ihrer Tochter.
„Auf der Bühne, da taute unsere Sophia auf, das war schon so, als sie klein war. Sie liebte den Applaus, den Moment, wenn ihr fremde Menschen zu Füßen lagen.“
Brauser versuchte gerade diese Bemerkung mit der toten Sopranistin zusammenzubringen, als die Mutter von einem weiteren Detail erzählte. „Dabei war Sophia sehr konservativ. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als eine große Hochzeit, ganz in weiß, mit vielen Gästen und einem wunderbaren Ehemann. Für ihn wollte sie sich aufheben. Das war ihr großer Traum“, schniefte sie und der Kommissar sah verlegen weg.
Brauser fragte sich, ob diese Vorstellung, die in der heutigen Zeit nicht gerade üblich war, vielleicht eher den Wünschen der Eltern entsprach.
„Kam Ihre Tochter denn oft nach Hause?“
„Leider nicht. Sie war sehr beschäftigt. Das Leben einer Sängerin ist ja nicht so einfach, wie man sich das vielleicht vorstellt. Und sie hatte ja auch ihre eigene Wohnung, die ihr sehr viel bedeutete.“
„Warum hat sie sich eigentlich keine Wohnung gesucht, die näher beim Theater lag?“, fragte Brauser.
„Sophia legte viel Wert auf ihre Privatsphäre und sie meinte, wenn sie so dicht beim Theater wohnen würde, dann käme nur ständig einer der Kollegen vorbei.“ Reinhilde warf einen Blick zu ihrem Mann hinüber und fügte dann hinzu: „Seit mein Mann so schlimm Asthma hat, bleibt er lieber zu Hause. Aber ich habe sie schon hin und wieder in Passau besucht.“
Auf einmal schien sie eine Idee zu haben. „Möchten Sie vielleicht ihr Zimmer sehen?“
Der Kommissar nickte. Vor allem wollte er raus aus diesem Wohnzimmer, in dem es fast noch mehr nach Tod roch, als in der Wohnung der Tochter, nachdem man sie gefunden hatte.
Gemeinsam stiegen sie eine massive Eichenholztreppe in den ersten Stock empor. Die Stufen waren mit weinroten Teppichhalbrunden belegt. An den weißen, rau verputzten Wänden hingen große goldgerahmte Landschaftsbilder aus der Umgebung und auf dem Absatz eine geheimnisvoll lächelnde Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Zu Sophias Zimmer am Ende des Flures gehörte ein hell gekacheltes Bad mit Dusche und Bidet. Der Raum war, genau wie in ihrer Wohnung in Passau, mit hellen Möbeln eingerichtet, hatte rosageblümte Vorhänge und in der Mitte des Zimmers lag ein Flokati. Über dem Bett hing ein Einhornposter, Stofftiere und Puppen mit ordentlich gekämmten Zöpfen auf dem weißen Bettüberwurf schienen die ehemalige Besitzerin nicht zu vermissen. Vor dem Kleiderschrank hing ein Tutu auf einem umhäkelten Holzbügel, an der Wand daneben die dazugehörenden Ballettschuhe – bestimmt die ersten in Sophias Leben. Auf den Brettern des Regals lag kein Krümelchen Staub. Es war das Zimmer eines Kindes, eines kleinen Mädchens, das von einem Prinzen träumte, aber nicht das einer lebenslustigen jungen Frau, die auf der Bühne Karriere machte.
Während Brauser sich umsah, ließ sich Reinhilde Weberknecht schwer aufs Bett sinken und nahm eine der Puppen in den Arm. „Wir hätten sie nicht gehen lassen sollen“, sagte sie mehr zu der Puppe, als zu ihrem Begleiter. „Sie war für so ein Leben nicht geschaffen“, dabei blickte sie gedankenverloren aus dem Fenster in Richtung Fabrikgebäude.
„Natürlich, deshalb wurde sie ja auch Sängerin.“ Mit pfeifenden Lungen stand Karl Weberknecht im Türrahmen und sah den Kommissar aufmerksam an, bevor er ihm erklärte. „Als einziges Kind hätte sie auch das Geschäft übernehmen können. Hinbekommen hätte sie es bestimmt. Sie hat ein glänzendes Abi in Mathe hingelegt, aber wir wollten beide nicht, dass sie in die Firma einsteigt.“
Brauser nickte, wobei ihm nicht klar war, ob das wir beide auch Sophia einschloss. „Und Ihre Tochter hatte das auch nie in Erwägung gezogen?“
„Nein. Ein Neffe von mir hat das Geschäft bereits übernommen.“
Der Alte setzte das Spray an den Mund und nahm einen kräftigen Zug, dann erst fuhr er fort. „Wissen Sie, unsere Senfproduktion ist seit neunzehnhundertvierzehn fest in Familienhand. Anfangs gehörten mehrere Metzgereien dazu und der Senf war eigentlich nur ein Nebenprodukt. Der wurde damals nämlich noch in den Haushalten selbst gemacht, was aber sehr mühsam war. Senfkörner und Blütensaat müssen gemahlen und teilweise entölt werden, bis gelbes und braunes Senfmehl entsteht. Dann kommen Farinzucker, Wasser, Brandweinessig hinzu und natürlich weitere Gewürze, für die jede Familie ihr eigenes Rezept hatte. So wie meine Urgroßmutter. Nur dass die ihren Senf in den Metzgereien portionsweise zur Wurst verkauft hat.“ Der Alte hustete und Brauser hoffte, er würde mehr erzählen. Die Herstellung von Senf hatte ihn schon immer sehr interessiert.
„Und Sie produzieren heute noch nach diesem alten Rezept?“
„Ja. Und nur ganz wenige wissen, welche Gewürze tatsächlich verwendet werden. Der Reifungsprozess ist streng geheim. Aber natürlich nehmen wir nur beste Zutaten. Das Originalrezept befindet sich übrigens im Safe.“
Wieder hustete der Alte und dann huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht. „Meine Urgroßmutter hatte einfach das Beste. Die Leute mochten ihren Senf so sehr, dass sie schließlich mit der professionellen Produktion beginnen konnte, allerdings in einer eher bescheidenen Fabrik. Mit den Jahren wurde die Firma dann immer größer. Heute könnte sich niemand mehr vorstellen, seinen Senf im Kochtopf selbst zu machen.“
So wie der Alte das sagte, klang es kein bisschen eingebildet, sondern einfach nur stolz. Wie ein Mann, der sein Leben genutzt hatte, und nun zufrieden zurück sah. „Heute laufen wöchentlich rund eine halbe Million Gläser und Tuben vom Band“, erklärte er abschließend.
„Trotzdem hat sich Ihre Tochter nicht dafür interessiert?“, führte der Kommissar wieder zu seinem eigentlichen Anliegen zurück.
„Unsere Tochter hat getanzt, Geige gespielt und von einer Karriere als Sängerin geträumt. Wir waren in der glücklichen Lage, ihr diese Wünsche zu erfüllen.“
Jetzt besann sich Weberknecht, denn er hatte sich von der Geschichte davontragen lassen und für einen Moment den Grund der Befragung durch den Hauptkommissar vergessen. Er war schlagartig wieder da und fuhr mit milder Stimme fort. „Ich wollte immer nur das Beste für sie. Aber welcher Vater weiß schon, was das Beste für sein Kind ist?“
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