Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 10
II
ОглавлениеMein Haus? Meine neue Heimat?, dachte Leon, als er Elias folgte, der sich trotz des Stockes erstaunlich behände durch das Dorf bewegte. Was fällt diesem Kerl eigentlich ein? Er hatte grosse Lust, davonzulaufen, entschied sich aber dagegen, weil er ja doch nicht wusste, wohin er sich hätte wenden sollen. Die meisten Häuser waren klein und besassen einen rechteckigen Grundriss, einige waren etwas grösser und bestanden aus mehreren, verwinkelten Teilen. Die Wände bestanden aus aufeinandergeschichteten Steinen, die Dächer waren aus Steinplatten zusammengesetzt. Während Leon hinter Elias herging, reckte er den Hals und versuchte, sich zu orientieren. Die Sonne war nicht mehr zu sehen. Es dämmerte, zwischen den Mauern hatten sich dunkle Schatten ausgebreitet. Da und dort schimmerte das Meer zwischen den Häusern hindurch, und im Inselinnern, über den Dächern, zeichnete sich ein spitz zulaufender Berg gegen die Dämmerung ab. Sie gingen über den felsigen, an manchen Stellen mit Moos überwachsenen Boden und gelangten auf einen Platz, auf dem sich - angeordnet in einem Kreis - mehrere Feuerstellen befanden. Auf dem Platz herrschte eine rege Betriebsamkeit. Die Frauen rührten mit langen Kellen in den Kesseln, die auf den Gluten standen, die Männer schleppten einen Korb nach dem anderen herbei und schütteten den Inhalt in die Kessel, die Kinder sassen um die Feuerstellen herum und spielten mit ihren Holzfiguren. Leon bemerkte, dass die Männer allesamt einen metallenen, etwa drei Finger breiten Armreif trugen, denselben Armreif, den er schon bei Elias und bei Amon gesehen hatte. Doch konnte er sich nicht lange darüber aufhalten, denn Elias hatte den Platz bereits überquert. Er beeilte sich, den alten Mann einzuholen und folgte ihm zwischen weiteren Häusern hindurch, über eine Brücke, die einen Bach überspannte, bis zu einem kleinen Haus am äussersten Rand des Dorfes. Elias stiess die Tür auf, verschwand im Innern des Hauses und kam kurze Zeit später mit einer Kerze heraus. Er ging zum Nachbarhaus hinüber, klopfte an die Tür und bat den Bewohner, ihm die Kerze zu entzünden. Vorsichtig, die Hand schützend um die Flamme haltend, kam er zurück, trat ins Haus und bedeutete Leon, ihm zu folgen.
Das Haus bestand aus einem einzigen Raum. Es gab ein Bett, einen Tisch mit zwei Stühlen, ein einfaches Holzgestell sowie drei Fenster, deren Läden geschlossen waren. Leon warf seine alten, zerrissenen Kleider auf das Bett, setzte sich auf einen der Stühle und betrachtete Elias, der sich - nachdem er die Kerze auf dem Tisch befestigt hatte - am Gestell zu schaffen machte. Es sah so aus, als wolle er überprüfen, ob alles vorhanden war, was man zum Leben brauchte. Leon wartete geduldig, bis er damit fertig war und bat ihn dann, sich zu ihm zu setzen.
"Sieh mal, Elias", sagte er und schaute dem alten Mann fest in die Augen, "ich weiss wirklich zu schätzen, was ihr für mich getan habt, und ich möchte mich an dieser Stelle herzlich dafür bedanken!" Er nahm einen tiefen Atemzug. "Aber ihr könnt mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ihr noch nie etwas vom Festland gehört habt! Ich meine, ich weiss, dass da draussen das Festland liegt, daran gibt es keinen Zweifel. Schliesslich wurde ich dort geboren, und ich weiss, dass vor der Küste viele Boote verkehren, und da kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass ihr noch nie etwas davon bemerkt habt."
Elias schüttelte langsam den Kopf, während er die Lippen aufeinanderpresste. "Es ist so, wie ich es dir gesagt habe", sagte er ruhig, aber bestimmt, "es gibt kein Festland. Es gibt nur Magnor und Ellenor, und ich bin mir sicher, dass du es genau so sehen wirst, wenn du dich von der langen Reise erholt hast."
"Von der langen Reise? Woher bin ich denn deiner Meinung nach gekommen?"
"Von Ellenor. Wir alle sind von Ellenor gekommen."
Leon lachte auf und klatschte in die Hände. "Von Ellenor also! Du musst es ja wissen." Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn, während er überlegte. "Seid ihr denn noch nie aufs Meer hinausgefahren?"
"Oh ja, wir fahren täglich hinaus, um zu fischen. Allerdings entfernen wir uns nicht sehr weit von der Küste."
"Und seid ihr denn niemals weiter hinausgefahren? Ich meine, habt ihr euch denn nie gefragt, ob da draussen noch mehr ist?"
"Nun, wir wissen, dass Ellenor da draussen liegt, soviel ist sicher. Aber ebenso sicher ist, dass diese Insel viel zu weit weg ist, als dass wir sie erreichen könnten."
Leon seufzte und lehnte sich zurück. "Du meinst es ernst, nicht wahr?"
"Oh ja, ich würde dich niemals belügen", erwiderte Elias und schaute ihn mit treuherzigen Augen an, "das ist die Wahrheit, so wahr ich hier sitze!"
Leon verschränkte die Arme und schürzte die Lippen. "Dann werde ich dir das Gegenteil beweisen!"
Elias runzelte die Stirn, senkte den Blick und betrachtete seine Hände, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. "Das ist dein gutes Recht", entgegnete er und schaute auf, "doch solange du auf Magnor weilst, musst du deine Pflichten erfüllen, genau wie alle anderen auch."
"Meine Pflichten?", rief Leon und schob die Augenbrauen zusammen, "das wird ja immer schöner!"
Elias schien die Ironie in seinen Worten überhört zu haben. "Nur wenn jeder seine Pflicht erfüllt, kann das Leben auf Magnor ordnungsgemäss ablaufen. Es ist sehr wichtig, dass sich jeder daran hält!" Er knetete eine Weile seine Hände, schaute auf und sah Leon fest in die Augen. "Es gibt insgesamt drei Pflichten, die zu erfüllen sind. Die erste betrifft die tägliche Arbeit, zu der alle Männer verpflichtet sind, ob im Wald, auf dem Feld oder auf dem Wasser. Es geht darum, genügend Nahrung für das Dorf zu beschaffen." Er machte eine Pause, um sich zu vergewissern, ob Leon verstanden hatte. Leon sass mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl, halb belustigt und halb verärgert über die Selbstverständlichkeit, mit der er in das Inselleben eingebunden wurde, war aber nicht in der Lage, etwas zu erwidern. "Die zweite Pflicht betrifft das Rad", fuhr Elias fort, "eine Pflicht, die für die Neuankömmlinge nicht so einfach zu verstehen ist. Sie ist aber nicht weniger wichtig. Es geht darum, das Rad in Bewegung zu halten, denn das Rad darf niemals ruhen!" Er legte erneut eine Pause ein und sah Leon prüfend in die Augen, bevor er seine Einweisung fortsetzte. "Und die dritte Pflicht besteht darin, diesen Armreif zu tragen", er deutete auf den metallenen Reif an seinem rechten Handgelenk, "der dazu dient, den Blutzoll aufzufangen."
Leon weitete die Augen und schaute befremdet auf den Reif an Elias' Handgelenk. "Den Blutzoll?", fragte er, das Wort absichtlich in die Länge ziehend.
"Den Blutzoll", wiederholte Elias ungerührt, "er dient als Opfer für Theodon, unseren König. Das Blut soll ihn milde stimmen und ihn dazu bewegen, uns eines Tages nach Ellenor zurückzuführen."
Leon sass eine Weile sprachlos am Tisch, während er immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte. Bisweilen lächelte er, dann wurde er wieder ernst, und es dauerte eine ganze Weile, bis er seine Sprache wiederfand.
"Das ist alles?", fragte er schliesslich mit gespielter Freundlichkeit.
"Das ist alles", bestätigte Elias.
"Und was geschieht, wenn ich meine Pflichten nicht erfülle?"
Elias senkte den Blick und drehte den Stock, den er zwischen seine Knie geklemmt hatte, zwischen den Fingern. "Dann bekommst du auch nichts zu essen", erwiderte er und schaute etwas verlegen zu ihm auf, "es tut mir leid, aber das Leben auf der Insel funktioniert nur, wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt. Ich hoffe, du kannst das verstehen."
Leon war nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Er sass mit geöffnetem Mund auf seinem Stuhl und betrachtete den Mann, der ihm gegenüber sass, während er sich fragte, wo in aller Welt er hier gelandet war.
"Es tut mir leid, aber so sind die Regeln", setzte Elias hinzu, erhob sich von seinem Stuhl und bemühte sich um ein Lächeln, "doch heute Abend bist du herzlich eingeladen, mit uns zu speisen."