Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 14
VI
ОглавлениеDie Sonne stand senkrecht über der Insel, als Leon den Gipfel des Berges erreichte, eine erstaunlich ebene Plattform, die so aussah, als wäre sie von Menschenhand geschaffen worden. Der Schweiss lief in Strömen über seinen Rücken, seine Zunge klebte am Gaumen fest. Er ging in die Hocke, stützte sich am Boden ab und atmete durch. Der Aufstieg hatte ihn ziemlich geschafft, obwohl er eigentlich ganz gut trainiert war. Er besuchte dreimal in der Woche das Fitnesszentrum. Vor vielen Jahren hatte er damit begonnen und konnte mittlerweile gar nicht mehr leben, ohne regelmässig zu trainieren. Die meiste Zeit verbrachte er auf dem Laufband. Die ausdauernde Bewegung tat ihm gut, er konnte sich verausgaben und fühlte sich danach immer viel entspannter. Aber jetzt war er einfach nur erschöpft, denn die Flanke des Berges hatte sich als steiler erwiesen, als sie von unten gewirkt hatte. Als er sich erholt hatte, stand er auf und schaute sich um. Das Meer lag ruhig und majestätisch unter ihm und warf das Licht der Sonne mit einem metallischen Glänzen zurück. Da und dort überschlug sich eine einsame Welle, nur Land war weit und breit nicht zu sehen. Er schirmte mit der Hand die Augen ab und drehte sich langsam um seine Achse. Sorgfältig suchte er die Oberfläche des Meeres ab, von der Küste der Insel bis zum Horizont und wieder zurück, konnte aber nirgendwo ein Boot entdecken, geschweige denn eine Insel oder gar das Festland. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Der Berg war - so schätzte er - mindestens zweihundert Meter hoch, und sein Gefühl sagte ihm, dass er von diesem Punkt aus das Festland ganz sicher hätte entdecken müssen. Ausserdem war er, als er mit Immanuel hinausgefahren war, an zahlreichen Inseln vorbeigekommen. War es möglich, dass ihn der Sturm so weit ins Meer hinausgetragen hatte? Weit weg vom Festland, weit weg von allen anderen Inseln? Er konnte es sich nicht anders vorstellen, und vielleicht war das auch eine Erklärung, warum die Inselbewohner noch nie etwas vom Festland gehört hatten. Und dennoch kam es ihm seltsam vor, genau wie das Licht, das ihm irgendwie anders erschien als gewohnt, heller und schärfer. Es leuchtete die Welt bis in jede Kleinigkeit aus und liess sie in überaus kräftigen Farben erstrahlen - gerade so, als hätte er bisher einen Sehfehler gehabt und trüge nun auf einmal eine Brille.
Er wischte sich den Schweiss von der Stirn und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Insel. Sie war erstaunlich rund, wie mit dem Zirkel gezogen. An der Küste erkannte er - in bemerkenswert regelmässigen Abständen - insgesamt zwölf Dörfer, alle von ungefähr derselben Grösse, alle an einem Bach gelegen. Dann folgten weitläufige Wiesen und weiter innen der Wald, der sich bis an den Fuss der Berges erstreckte. Der Berg befand sich genau in der Mitte der Insel, so dass sich ein harmonisches, abgerundetes Bild ergab. Vielleicht etwas zu harmonisch. Er setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Stein, während er vorsichtig die Sohlen seiner Füsse betastete, an denen sich Blasen gebildet hatten. Er seufzte, streckte die Beine von sich und schaute müde auf das Meer hinaus, doch zeigte sich den ganzen Nachmittag über kein einziges Schiff. Als die Hitze schon ein wenig nachgelassen hatte, zogen auf einmal dunkle Wolken auf und ballten sich über dem Gipfel des Berges zusammen. Es begann so unvermittelt zu regnen, als wäre ein grosser, unsichtbarer Duschkopf angedreht worden. Leon strich sich die nassen Haare aus der Stirn, schaute ungläubig nach oben, erhob sich von seinem Platz und machte sich an den Abstieg.