Читать книгу Die Insel - Daniel Sternberg - Страница 16
VIII
ОглавлениеAls Leon am folgenden Morgen erwachte, drangen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterläden. Obwohl sein Körper nach dem Ausflug auf den Berg völlig entkräftet gewesen war, hatte er fast die ganze Nacht hindurch wach gelegen. Sein Geist war einfach nicht müde geworden. In der Ferne hatten Wölfe geheult, ausserdem war er vom Hunger geplagt worden. Er gähnte, rieb sich die Augen und erhob sich von seinem Bett, als er einen brennenden Schmerz verspürte, der von seinen Füssen ausging. Er humpelte zum Fenster, öffnete die Läden und setzte sich auf einen Stuhl. Im Licht des neuen Tages betrachtete er seine Fussohlen. Sie waren geschwollen, die meisten Blasen waren geplatzt, und die Haut hatte sich an manchen Stellen gerötet. Er seufzte, holte einen Krug aus dem Gestell und humpelte damit zum nahen Bach. Er trank ausgiebig, füllte den Krug, kühlte die Füsse und kehrte zu seinem Haus zurück. Er stellte den Krug auf den Tisch und machte sich daran, die Gegenstände, die sich in seinem Gestell befanden, zu untersuchen. Er fand mehrere hölzerne Schalen, zwei Löffel, die ebenfalls aus Holz gefertigt waren, ein Messer, Krüge, Kerzen, zwei kleine Körbe und einen grossen Korb, den man sich auf den Rücken schnallen konnte. Auf dem untersten Brett hatte er seine alten, zerrissenen Kleider verstaut. Er durchsuchte sie und fand seine Ausweispapiere, die immer noch feucht waren. Er faltete die Papiere auseinander und legte sie auf das Fensterbrett, um sie zu trocknen. Er war überzeugt, dass er sie bald wieder gebrauchen würde, schliesslich hatte er gesehen, dass es auf der Insel noch weitere Dörfer gab - und dass die Menschen in diesem Dorf nichts vom Festland wissen wollten, hiess noch lange nicht, dass es die anderen Menschen genauso sahen. Da aber mit seinen wunden Füssen an einen weiteren Ausflug nicht zu denken war, beschloss er, sich erst einmal an die Küste zu setzen und Ausschau zu halten nach einem Schiff. Er wusste, dass sich vor der Westküste des Kontinents zahlreiche Schiffe tummelten. Mit eigenen Augen hatte er sie gesehen, die Fischerboote, die Frachtschiffe und die Tanker, und eigentlich konnte es nicht sehr lange dauern, bis eines davon in die Nähe der Insel käme.
Sein Haus lag am äussersten Rand des Dorfes, und gar nicht so weit entfernt, in einer flachen Mulde, entdeckte er ein kleines Wäldchen. Er suchte Reisig und trockenes Holz zusammen, schnitt ein paar frische Zweige, packte alles in den Korb, den er mitgebracht hatte, schnallte sich den Korb auf den Rücken und humpelte damit zur Küste. Nachdem er einen Platz ausgesucht hatte, der ein wenig erhöht lag und von dem aus man weite Teile der Küste überblicken konnte, schichtete er das Holz auf das Reisig und legte die grünen Zweige daneben. Sobald ein Schiff auftauchen würde, so nahm er sich vor, würde er auf dem Dorfplatz ein brennendes Scheit holen, das Feuer entzünden, die grünen Zweige auflegen und darauf hoffen, dass das Schiff auf den Rauch, der dadurch entstünde, aufmerksam würde. Er setzte sich auf einen Stein und beobachtete abwechslungsweise das Meer und die Vögel, die über der Küste kreisten, sich in die Höhe schraubten, spitze Schreie ausstiessen und niederstachen, um sich ihre Beute aus dem Wasser zu holen. Ab und zu erhob er sich, vertrat sich die Beine und untersuchte die Umgebung seines Aussichtsplatzes. Er ging bis an den Rand der Klippen, die fast senkrecht abfielen, beugte sich vor und schaute hinab. Er sah die Nester, die sich auf den schmalen Felsabsätzen befanden, und beobachtete die Vögel, die diese Nester anflogen, ihre Jungen fütterten und kurze Zeit später wieder verschwanden. Aber die Vögel vermochten seine Aufmerksamkeit nicht sehr lange zu fesseln, so dass er sich jeweils bald wieder hinsetzte und den ganzen Vormittag über vergeblich darauf wartete, dass am Horizont ein Schiff auftauchte.
Es wurde Mittag, die Sonne brannte und sein Hunger wuchs. Als er es nicht mehr aushielt, schnallte er sich den Korb auf den Rücken und suchte erneut das Wäldchen auf. Er fand einen Baum mit wilden Birnen - von derselben Art, von der er am Tag zuvor gegessen hatte - und ass, soviel er konnte. Nachdem er den Korb mit weiteren Birnen gefüllt hatte, fand er ein paar Brombeeren und legte sie dazu. Er kehrte zu seinem Haus zurück, lagerte die Vorräte ein und begab sich wieder auf seinen Aussichtsplatz. Aber auch am Nachmittag wartete er vergeblich darauf, dass etwas geschah. Die Sonne wanderte ungerührt über den Himmel, und je mehr Zeit verging, ohne dass er ein Schiff entdeckte, desto unruhiger wurde er. Was hätte er gegeben für eine Zigarette oder ein kühles Bier, so aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit seinen Gedanken herumzuschlagen. Er haderte mit seinem Schicksal und fragte sich, warum es ihn ausgerechnet auf diese Insel geführt hatte, zu diesen Menschen, die in einfachen Steinhäusern lebten und sich nur um sich selber kümmerten. Denn schliesslich war er ausgezogen, um sein Glück zu suchen, und er bezweifelte, dass es ausgerechnet auf dieser Insel zu finden war.
Die einzige Abwechslung, die sich ihm darbot, war ein kurzer, aber heftiger Regenschauer, der sich über dem Berg entlud. Der Regen fiel etwa zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor, doch befand Leon sich jetzt an der Küste und bekam nur ein paar Tropfen davon ab. Als der Regen vorüber war, überprüfte er das Holz, das er aufgeschichtet hatte, und stellte erleichtert fest, dass es mehrheitlich trocken geblieben war. Er setzte sich wieder hin und wartete. Aus dem Dorf interessierte sich kaum jemand für ihn. Vor einem Haus am Rand des Dorfes waren ein paar Frauen damit beschäftigt, Korn zu mahlen. Ab und zu schauten sie zu ihm herüber, wie um sich zu vergewissern, dass er noch da war, aber zu mehr schien ihr Interesse nicht zu reichen. Auch die Frauen, die gelegentlich vorbeikamen, um das gemahlene Korn abzuholen, beachteten ihn kaum, nur die Kinder, die spielend um die Häuser zogen, blieben gelegentlich stehen, tuschelten, zeigten mit dem Finger auf ihn und verschwanden hinter der nächsten Ecke. Umso erstaunter war Leon, als sich gegen Abend vom Dorf her ein Mann näherte. Er war klein und stämmig, und als er bei ihm ankam, keuchte er deutlich hörbar. Sein Gesicht glänzte, der Schweiss lief ihm über die fleischigen Wangen und das Doppelkinn. Er blieb stehen, strich sich mehrmals über seinen Dreitagebart und atmete durch.
"Mein Name ist Arwin", begann er keuchend, "ich bin dein Nachbar, und ich..., ich wollte dir nur sagen, dass es besser wäre, wenn du arbeiten würdest."
Leon schob die Augenbrauen zusammen. "Für wen wäre es besser?"
Arwin schaute auf das Meer hinaus, während er sich in seinem Bart kratzte. "Für alle", entgegnete er und wandte sich wieder an Leon, "es ist wichtig, dass die Regeln eingehalten werden. Wir müssen zusammenhalten, und wir ...", er machte eine Pause, während der er sich die nächsten Worte zurechtlegte, "... und schliesslich ist es auch für dich das Beste, du musst doch hungrig sein, und wenn du nicht arbeitest, wirst du auch kein Essen bekommen."
Leon schaute Arwin fest in die Augen. "Ich werde nicht lange bleiben, du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen."
Arwin presste die Lippen zusammen, senkte den Blick und scharrte mit dem Fuss über den Boden, sagte aber nichts mehr.
"Du kannst mich nicht zufällig aufs Festland bringen?", fragte Leon.
"Aufs Festland?", fragte Arwin zurück, schaute auf und legte die Stirn in Falten.
"Aufs Festland. Die grosse Insel im Osten, die direkt vor eurer Nase liegt."
"Es..., da ist keine Insel, es gibt nur ..."
"Ist schon gut", unterbrach ihn Leon, "vergiss es einfach."
Arwin rieb sich den Nacken und schien nachzudenken, als sein Blick auf Leons Füsse fiel. "Was in Theodons Namen hast du mit deinen Füssen gemacht?"
"Ach, meine Füsse. Ich habe einen kleinen Spaziergang unternommen."
"Einen Spaziergang?", rief Arwin und weitete die Augen, "warum..., wer macht denn so was?"
Als er keine Antwort erhielt, schüttelte er den Kopf und lief davon, kam aber kurze Zeit später wieder zurück. Keuchend zog er ein Töpfchen aus seiner Hemdtasche, öffnete den Deckel und deutete auf die gelbliche Paste, die sich darin befand. "Damit werden deine Füsse schneller verheilen. Die Salbe sorgt dafür, dass sich deine Wunden nicht weiter entzünden."
Er überreichte ihm das Töpfchen und schickte sich an, zu gehen. "Und morgen gehst du zur Arbeit, versprochen?"
Leon schaute seinem Nachbarn in die Augen und presste die Lippen zusammen. Irgendwie mochte er den Kerl mit dem gutmütigen Blick, konnte sich aber trotzdem nicht zu einer Antwort durchringen. "Vielen Dank für die Salbe!", sagte er stattdessen und sah zu, wie sich Arwin von ihm entfernte.
"Ach, Arwin, du...", Arwin drehte sich noch einmal um, "...du hast nicht zufällig ein wenig Tabak?"
Arwin schaute ihn fragend an. "Tabak?"
"Tabak", bestätigte Leon, "das Kraut, das man rauchen kann." Er presste Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als würde er eine unsichtbare Zigarette halten, führte diese zu seinem Mund und sog daran.
Arwin schaute ihn verständnislos an. "Ein Kraut, das man rauchen kann?"
Leon winkte ab. Er hatte ganz vergessen, dass auf dieser Insel offensichtlich einiges anders war und dass es hier so etwas wie Tabak wahrscheinlich gar nicht gab.
"Ist schon gut, vergiss es. Und nochmals vielen Dank für die Salbe!", sagte er, worauf Arwin kopfschüttelnd zum Dorf zurückkehrte.